Ein Offener Brief von Intellektuellen und Künstlern sowie ein Essay von Jürgen Habermas sind zur gleichen Zeit erschienen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und haben doch viel gemeinsam.

Einigkeit gibt es nur für den Moment. Es müssen nur ein paar Tage oder Wochen vergehen, und schon melden sich die Bedenkenträger, die Neinsager oder Ewiggestrigen und stellen die neue Politik, das notwendige Handeln in Frage. Auch das lehrt die bundesdeutsche Geschichte. Aber wie könnte es auch anders sein, denn irgendetwas ist immer zu hinterfragen, zu kritisieren – absolute Gewissheit gibt es selten, Handeln ohne Risiken ebenso wenig. Auf ein paar Gewissheiten sollte man sich jedoch einigen können. Das setzt Erkenntnis voraus. Dass diese erschwert wird, dafür sorgen professionelle Propagandisten oder Blinde, die sich als Sehende ausgeben. 

Letztere findet man gerne unter sogenannten „Offenen Briefen“. Sehr oft sind es die „üblichen Verdächtigen“, die schon seit Jahrzehnten dieses Genre hegen und pflegen und bei vielfältigen Anlässen um jene Aufmerksamkeit buhlen, die sie ohnehin in Talkshows und Feuilletons bekommen. Über viele dieser Texte kann man hinwegsehen; über zwei, die jüngst erschienen, nicht. Da ist zum einen ein Offener Brief von 28 Intellektuellen und Künstlern und zum anderen ein Beitrag von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung

BELEHRUNGEN

Eine Gemeinsamkeit der beiden Texte ist leicht zu erkennen: Sie sind, bei allen stilistischen und intellektuellen Unterschieden, beide im Duktus einer Belehrung gehalten. Die Offene-Brief-Prominenten definieren für die Ukraine, wann sie sich zu ergeben habe – nämlich wenn Zerstörung und menschliches Leid durch den Aggressor überhandnehmen – und sprechen ihr gleichzeitig das Recht ab, „die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten’ an Menschenleben“ überhaupt zu fällen. Diese Entscheidung unterliege vielmehr moralisch verbindlichen Normen universaler Natur. Welche das sind und wer sie durchsetzt, das bleibt unausgesprochen, also ungeklärt. Was allerdings klar ist: Dieser Brief richtet sich nur vordergründig an den Bundeskanzler. In Wirklichkeit ist er an die Ukraine gerichtet. Und die verklausulierte, aber nicht minder deutliche Forderung lautet: sofortige Kapitulation – damit wieder allgemein Ruhe einkehrt! Der Aggressor wird mit keinerlei Forderungen behelligt. Sein vermeintliches Recht des Stärkeren setzt für diese Intellektuellen und Künstler die Fakten, nach denen sich das Opfer zu richten habe. 

Wenn man sich den Brief ansieht, dann fühlt man sich bei den Initiatoren und Unterzeichnern an jene Spießer erinnert, die sich, weil sie draußen die Schreie einer misshandelten Frau hören, verärgert von ihrem Sofa erheben, um das Fenster zu schließen, damit sie in Ruhe weiter Fernsehen gucken können. Kurz plagt sie noch ein wenig das schlechte Gewissen, aber größer ist die Sorge, sie könnten in die Sache mit reingezogen werden. 

Ein geradezu perverser deutscher Quietismus bricht sich hier Bahn, deren Protagonisten man entschieden die Leviten lesen muss. Denn diese Leute kommen mit ihrer Gleichgültigkeit direkt aus der Mitte der Gesellschaft, bringen sie zum Ausdruck und spiegeln sie zurück. Dass die AfD und die Linke strack auf Putin-Kurs sind, das verwundert angesichts ihrer Vorliebe für Autokraten letztlich keinen. Aber die Personen, deren Namen man da zum Teil mit Verwunderung und Enttäuschung lesen muss, stehen eher der SPD, Union, Grünen, FDP nahe, also der politischen Mitte. Und wahrscheinlich ist die Forderung, den die Brief-Promis an den Bundeskanzler richten, nämlich „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“, weiter verbreitet, als es einem trotz proklamierter Zeitenwende lieb sein kann. 

KORRUMPIERTES DENKEN   

Womit wir bei Jürgen Habermas angekommen wären. Denn auch er äußert in seinem Beitrag Sympathie dafür, dass es bestenfalls einen gesichtswahrenden Kompromiss geben kann, ja, darf: „Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als Verlierer vom Feld gehen lässt.“ Beide Texte verlangen also, dass die Ukraine russische Landgewinne akzeptieren muss, selbst wenn sie vom Meer, über das u.a. der Getreidehandel läuft, abgeschnitten würde.Das war ja schon beim Minsker Abkommen das Muster: nomineller Waffenstillstand mit fortgesetzten Kämpfen mit Tausenden Toten bei gleichzeitigem Gebietsverlust. Hat dieses Abkommen der Ukraine etwas genutzt? Nein, es gibt Russland nur die Gelegenheit, die Ukraine weiter zu destabilisieren. Solch ein Waffenstillstand ist zurzeit nichts weiter als eine deutsche Illusion.

Die Autoren der hier verhandelten Beiträge sorgen sich vermeintlich auch um eine atomare Eskalation, sehen die Verantwortung dafür aber ebenso bei der Ukraine, die keine Atomwaffen mehr besitzt, weil sie im guten Glauben an die Verlässlichkeit internationaler Verträge diese in den 1990er Jahren an Russland übergeben hatte. Sie habe sich nun der Atommacht Russland zu beugen. Die Ukraine ist in den Augen dieser Intellektuellen der Störenfried, nicht Putin. Jener Putin – man muss es immer wieder sagen, besser: schreien –, der diesen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, und zwar schon 2014; der nach Belieben Verträge und Abkommen bricht; der der Ukraine das Existenzrecht abspricht; der seine Soldaten Gräueltaten verüben lässt; der an vielen Ecken Europas zündelt, Demokratiefeinde unterstützt, Andersdenkende im eigenen Land in Gefängnissen und Lagern verschwinden lässt. Möchten ihn wirklich so viele in Deutschland achselzuckend damit durchkommen lassen?

Auch an dem Text von Jürgen Habermas erkennt man das durch Putins Winkelzüge korrumpierte Denken von Intellektuellen und Künstlern. Der Text wirkt in vielen Punkten unbestimmt; es ist nicht immer klar, ob Habermas einen Standpunkt einnimmt oder nur referiert. Das könnte daher kommen, dass er sich zwar um Differenziertheit bemüht, um die Dilemmata des Westens darzustellen, aber durch seine Verunklarung letztlich nur Distanz zu den harten Fakten herstellt, die berücksichtigt werden müssten – nämlich dass ein Entgegenkommen bei Putin keine Wirkung erzielt, dass er der Aggressor ist, dass er nach der Ukraine nicht halt machen und nach anderen Staaten greifen würde.

Aber bei Habermas ist da noch etwas mehr: nicht nur das auch hier Belehrende, der erhobene Zeigefinger in Richtung Kiew, das der moralischen Erpressung geziehen wird, sondern das schon fast sentimentale und nostalgische Sorgen um die „schwer genug errungene Nachkriegsmentalität“ und damit „überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik“, also auf eine vergangene Zeit der Scheckbuch-Diplomatie und beklemmenden Verhandlungen mit einem russischen Regime, das einen an der Nase herumführt. 

Habermas, der in seinem Essay keine Zeile auslässt, um sich als Sachwalter der Vernunft gegen angeblich unvernünftig Empörte zu positionieren, vergisst bzw. verleugnet die Fundamente seines eigenen Denkens, nämlich das kantianische Vernunftdenken, nach dem man einander nachvollziehbare, akzeptable Gründe für sein Handeln schuldet. Putin hat aber keine nachvollziehbaren, akzeptablen Gründe für seinen Krieg gegen die Ukraine – es sei denn, man akzeptiert imperialistisches Handeln zur Wiederherstellung eines untergegangenen autoritären Reiches als solche Gründe. Habermas’ zweite Verleugnung eigenen Denkens: Das – wenn auch späte – militärischeEingreifen der NATO in den Post-Jugoslawien-Kriegen rechtfertigte er damals als Vorgriff auf eine funktionierende, friedenssichernde Rechtsordnung in Europa. (Die heutigen Diskussionen wurden damals schon so ähnlich geführt.) Diese Friedensordnung ist nun wieder bedroht, wenn nicht auf lange Zeit zerstört. Aber wie soll sie auf einmal, angesichts eines skrupellosen Aggressors, ohne Gegengewalt erneuert werden? 

Bislang kämpfen die Ukrainer diesen Kampf allein. Das ist schon mehr, als man von diesem Land erwarten konnte. Ganz sicher brauchen sie nicht auch noch selbstsüchtige Belehrungen aus Deutschland über den Charakter und die Risiken des Krieges. Was sie brauchen, ist ein Mindestmaß an Unterstützung.

STARNBERGER HILFESTELLUNG

Besonders ärgerlich ist, dass Habermas der Ukraine eine moralische Hollywoodinszenierung vorwirft und sich letztlich nur um die bequeme Neutralität Deutschlands sorgt. Erst am Ende seines Textes kommt Habermas zu jenen, die er maßgeblich dafür verantwortlich macht: die Grünen. Sie sind jene Jüngeren, „die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern“. Und jetzt versteht man die vielen Wendungen und Unschärfen des Textes: Er ist vor allem eine Starnberger Hilfestellung für die bedrängte SPD. Habermas muss die Grünen als naive, überemotionale, schnell konvertierte ehemalige Pazifisten darstellen, die eine gefährliche, „überprägnante Lesart“ normativer Grundsätze pflegen. 

Dabei sind die Grünen schon seit langem keine Pazifisten mehr. Das hat ihnen der Ex-Außenminister Joschka Fischer beim Kosovo-Einsatz vor über zwanzig Jahren ausgetrieben. Gewiss, eine Zeitlang wurden sie auch geprägt von ehemaligen Maoisten, die aus der chinafreundlichen Kaderzeit eine Abneigung gegen den Sowjetimperialismus mitbrachten. Der bei den Grünen mal mehr, mal weniger starke Menschenrechtsflügel hat sich auch sehr für die Implementierung der „Responsibility to Protect“ stark gemacht, also für den Schutz des Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts.Vielleicht gibt es da noch einen idealistischen Überschuss in der Partei und bei ihren Anhängern. Aber eine „kriegstreiberische Rhetorik“, die Habermas insinuiert, oder irgendwelche militärpolitische Hasard-Spiele sind bei den Grünen nicht erkennbar, vielmehr ein neues, erweitertes Maß an Verantwortung: Sie haben deshalb, im Gegensatz zu SPD und Union, ein Konzept entwickelt, dass den Sicherheitsbegriff erweitert und ihn somit den Erfordernissen der heutigen Zeit angepasst, während der SPD noch alles old-school Entspannungspolitik war und die einseitige Energieversorgung völlig unpolitisch. Sie haben Lehren aus Kosovo gezogen, Habermas verleugnet sie aus Loyalität zur SPD und aus Verständnis für Putins Großmachtgelüsten.

KEINE SOLIDARITÄT

In Deutschland war ja nach dem Ende des Kalten Krieges der Satz sehr populär, dass man nur noch von Freunden umgeben sei. Das hat uns alle sehr gefreut. Aber darüber haben wir die Frage vergessen, ob das gleiche auch für unsere Freunde gilt. Diese nicht gestellte Frage ist nun beantwortet. Daraus könnten wir die Lehren ziehen, dass eine gut ausgerüstete und funktionierende Armee sowie ein starkes Bündnis die besten Mittel sind, um den Frieden zu sichern – was im Übrigen auch bei Atomdrohungen die Nerven stärkt. Aber diese Lehren werden in Deutschland bislang in Zweifel gezogen, andere Prioritäten gesetzt, Risiken in den Vordergrund gestellt. 

Am Ende bleibt der Eindruck, dass viele Intellektuelle und Künstler, also Menschen, die sonst keinen Hashtag und kein „Zeichen“ auslassen, um die Solidarität mit dieser und jenem zu bekunden, angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine wortreich jeden noch so kleinen Gedanken an Solidarität dispensieren. Ein Offenbarungseid.

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