Das Erbe der Postmoderne
Brunei fordert „Toleranz, Respekt und Verständnis“ für die Todesstrafe für Homosexuelle. Das Sultanat baut damit auf einem Fundament, das die postmoderne Linke in den vergangenen Jahrzehnten gelegt hat. Von Nico Hoppe
Am 3. April diesen Jahres setzte das Sultanat Brunei strengere Gesetze zur Bestrafung von Homosexualität in Kraft. Der berechtigte Protest angesichts vorgesehener Steinigungen folgte schnell und hatte unter anderem mit George Clooney auch prominente Unterstützung. In einem Brief an das EU-Parlament antwortete der asiatische Kleinstaat nun auf die Kritik: Man wolle traditionelle Werte bewahren und fordere aus diesem Grund „Toleranz, Respekt und Verständnis“. Auch diesmal war der Aufschrei abermals groß – aus gutem Grund.
In den darauf folgenden Verlautbarungen deutscher Politiker las man besonders oft den Spruch „Keine Toleranz der Intoleranz“, der, nimmt man den intendierten Universalismus ernst, in bestimmten Kreisen unterdessen nicht mehr en vogue sein dürfte. Denn viel zu wenig wird problematisiert, dass sich Brunei mit der Forderung nach „Toleranz, Respekt und Verständnis“ an die obersten Gebote jener postmodernen Linken hält, die dem Universalismus bekanntlich schon lange abgeschworen hat.
Andere Länder, andere Sitten?
Würde man diejenigen fragen, die vorbildlich aufsagen können, dass man sich vor eurozentrischer Arroganz gegenüber anderen, a priori schützenswerten Kulturen hüten sollte, käme man in den Genuss der postmodernen Erkenntnis, dass „Toleranz, Respekt und Verständnis“ selbstverständlich an sich lobenswerte Eigenschaften seien. Gebetsmühlenartig wiederholen die kultursensiblen Linken und ihre Ausläufer in den jeweiligen politischen Parteien, dass „Toleranz, Respekt und Verständnis“ erst einmal gegenüber allem angebracht sei, was nicht weiß, männlich, heterosexuell oder alt ist. Abstrahierend von jeglichem Inhalt legt man seit Jahren ganz neue Standards an Individuen und die mit ihnen vermeintlich identische Kultur an, solange sie als marginalisiert gelten.
Der Universalismus westlicher – das heißt zivilisatorischer – Werte scheint durchschaut als anmaßendes, mehr oder weniger kolonialistisches Projekt. Dabei wäre zu fragen, was so verwerflich daran sein soll, die gleichen Maßstäbe an alle Menschen anzulegen und nicht ganze Landstriche auszunehmen, weil man ihre Bewohner von vornherein für Opfer eines westlichen Rassismus hält. Die damit einhergehende Entmündigung wird als solche aber nicht einmal mehr erkannt, sondern als Schutz, gar als Antirassismus verklärt.
Das postmoderne Konzept, überall nur noch beliebige Narrative in endloser Relativität zu sehen, kommt heute im Kulturrelativismus und der Ablehnung objektiv gültiger Werte für alle zu sich. Gruppen, die sich sonst als spinnefeind geben, haben so letztlich doch ein Übereinkommen: Denn das neurechte Konzept des Ethnopluralismus, welches sich streng voneinander abgegrenzte Kulturen wünscht, damit ausnahmslos alle in ihrer als schützenswert gesetzten Gegebenheit erhalten bleiben, ist nicht nur auf den ersten Blick nah dran am Kulturrelativismus der Linken, sondern ergänzt ihn sogar perfekt.
Warum sich also wundern, wenn all die Kultursensibilität, die Verharmlosung barbarischster Sitten und die Idealisierung fremder, authentischer „Traditionen“ plötzlich nicht mehr nur von engagierten Linken gepredigt wird sondern vom Sultan von Brunei höchstpersönlich? In der Begründung für barbarischste Praktiken deckt sich die Argumentationsmethode des Sultanats mit jener gern gesehenen Rücksichtnahme, die in zahlreichen anderen Debatten zum Garant für Progressivität und Weltoffenheit taugt.
Beredtes Schweigen
Mit der Rechtfertigung des Regimes erntet man nun, was man mit der Abdankung vom Universalismus westlicher Werte, der keine Zugeständnisse macht, säte. Erwähnt wird das selbstverständlich nicht: Stattdessen wird in den meisten Reaktionen auf den Brief so getan, als hätte das Sultanat die heiligen Begriffe von „Toleranz, Respekt und Verständnis“ lediglich okkupiert, um sein hinterhältiges Spiel zu treiben. Dagegen ist anzunehmen, dass sich der Sultan von Brunei tatsächlich um die authentische Tradition seines Landes sorgt – ebenso wie sich postmoderne Linke vor dem westlichen Universalismus fürchten, der all die exotischen Kulturen bedränge.
Außerdem wird mit keiner Silbe thematisiert, dass Brunei ein islamisch regiertes Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung ist. Schaut man sich nun an, wie viele der zahlreichen Länder, die Homosexualität mit dem Tod bestrafen, islamisch sind, drängt sich eher die Frage auf, warum Brunei die Todesstrafe erst jetzt einführte und nicht schon lange in petto hatte. Dass zwischen der Staatsreligion Islam und dem Rechtssystem von Staaten wie Brunei ein Zusammenhang besteht, gehört jedoch zu den banalen Wahrheiten, die de facto kaum ein Politiker mehr ausspricht, weil man sich dann ja gemein mache mit Unsympathen von rechts, denen man nicht einmal ein Quentchen deskriptiver Korrektheit zugestehen möchte. Auch das ist Ergebnis einer Aversion gegenüber objektiven, von der sie aussprechenden Person unabhängigen Wahrheiten, die zurücktreten müssen für partikulare Meinungseinwürfe, welche erst durch den Status des jeweiligen Urhebers Anerkennung finden.
Hin- und hergerissen
Noch bekam der Sultan für sein Plädoyer keine Zustimmung von besonders nachsichtigen Kulturrelativisten. Ob und wann sich das ändern wird, lässt sich kaum einschätzen. Fakt ist jedoch, dass es jetzt schon Themen gibt, bei denen der Unterdrückung schneller als den Unterdrückten beigestanden wird. Bei jeder Diskussion über das islamische Kopftuch, bei jeder Frage, was der Islam mit dem Islamismus zu tun habe, bei jeder Bemerkung zu Antisemitismus, Misogynie und Homophobie des islamischen Milieus – der Einwand, dass man zuallererst „Toleranz, Respekt und Verständnis“ entgegenbringen müsste, bevor man überhaupt näher nachhakt, ist selten weit.
Wo man sich sonst selbstsicher „Keine Toleranz der Intoleranz“ auf die Fahnen schreibt, existiert plötzlich kein Wille mehr, sich mit der Intoleranz überhaupt auseinanderzusetzen. Das Einräumen spezieller Vorrechte vermeintlich marginalisierter und von postmodernen Linken oft idealisierter Gruppen verunmöglicht jede angemessene Diskussion, die allen Menschen das gleiche Mindestmaß an Zivilisiertheit abverlangen müsste.
Noch ist man nicht bereit, eine bestimmte Grenze zu unterschreiten und die „Kultur“ in Brunei unter einen Schleier des Schweigens zu hüllen. Um es auch nie dazu kommen zu lassen, wäre es nötig, den Universalismus endlich wieder zu rehabilitieren und sich vom postmodernen Relativismus loszusagen.
Unser Gastautor Nico Hoppe arbeitet als freier Journalist in Leipzig und beschäftigt sich insbesondere mit Ideologiekritik, postmodernem Irrsinn und popkulturellen Phänomenen. Auf Twitter ist er unter @nihops zu finden.