Der Kampf des Weißen Hauses gegen die vierte Gewalt geht weiter. Und zeigt erste Erfolge. Aber die Verzerrung von Wahrnehmung und die Diffamierung von Wahrheit haben schon früher begonnen.

Ich habe mich bemüht. Ich habe in Geschichtsbüchern nachgeschaut, ich habe im Netz recherchiert. Ich bin zurückgegangen bis in die Antike, die uns in so vielen Dingen voraus und in so vielen anderen gleich war. Ich habe mich an Alkibiades erinnert, athenischer Staatsmann und Feldherr, eine wahrhaft schillernde Figur, der angeblich seinem Hund den Schwanz abgeschnitten hat, damit das Volk über den Hund redete und nicht mehr über ihn. Aber ich habe letztlich keinen Politiker, kein Staatsoberhaupt in der Historie gefunden, der eigenhändig einen Preis vergeben hat für falsche bzw. erlogene Nachrichten, heute auch „fake news“ genannt. Der amtierende amerikanische Präsident hat es getan und setzt sich auf eine weitere dubiose Art von seinen vielen Vorgängern ab. Das ist bemerkenswert und wieder auch nicht, wenn man bedenkt, dass Donald Trump seit Beginn seiner Amtszeit vor einem Jahr selbst rund zweitausend solcher „fake news“ produziert haben soll. Womit er wohl voll und ganz sein ganz privates Soll der Unaufrichtigkeit und der Amtsentwürdigung erfüllt. Es schert ihn gewiss nicht.

Aber er hat sich für die „Preisvergabe“ natürlich auch Fälle herausgesucht, bei der Medien unsauber gearbeitet oder falsch zitiert hatten. Und wenn er den deutschen Klappentext der neuen publizistischen Abrechnung mit seiner Politik, Trump im Amt, gelesen hätte, die Trumps Bilanz „düster“ nennt, weil u.a. die Lage der Wirtschaft desolat sei, dann wäre diese kurze Buchwerbung auch auf seiner Preisliste gelandet, denn die Lage der amerikanischen Wirtschaft ist im Moment sicher nicht wie beschrieben. Solche Ungenauigkeiten sind leider Steilvorlagen, die Trump nicht ungenutzt liegen lässt für seine politische Strategie.

Selbstverständlich ist Trump nicht der erste Präsident, der erste Politiker, der erste Mensch, der eigene wie fremde Lügen zu seinem Vorteil einsetzt. Aber es geht hier um sehr viel mehr, als es zum Beispiel ein Meineid vor Gericht sein könnte. Es geht um nicht weniger als den Umbau, ja, die Zerstörung dessen, was wir „Öffentlichkeit“ nennen. Und Donald Trump ist nur ein Akteur in diesem üblen Spiel, das die Grundlagen der Demokratie untergraben soll. Wir stehen einer Phalanx aus Medien wie Breitbart und Fox News, rechtsradikalen Websites sowie einer Kamarilla aus Trollen und Bots in den Sozialen Medien gegenüber, die nichts anderes als genau diese Form politischer Disruption betreiben.

DER ZWECK ALTERNATIVER FAKTEN

Es war der Gründer der Breitbart News, Andrew Breitbart, der diese Aufgabe genau definierte: „Die Medien bestimmen das Narrativ. Narrativ ist alles. Ich bin im Krieg, um das amerikanische Narrativ zurückzugewinnen.“ Man könnte dies als einen bloßen Kampf um die kulturelle Hegemonie in Amerika sehen – und wir dürfen immer davon ausgehen, dass mit der politischen Reichweite, die solche Kulturkämpfe in der westlichen Welt haben, auch Europa und Deutschland tangiert sein werden –, aber die angewandten Instrumente wie „fake news“ dringen tiefer in den Humus unserer Gesellschaften und politischen Systeme ein. Es war daher eine gute Wahl, zu Trumps erstem Jahrestag seines Amtsantritts den Begriff „alternative Fakten“ als „Unwort“ des Jahres zu küren. Kellyanne Conway, eine der engsten Berater Trumps, prägte ihn vor einem Jahr während einer Talkshow, um den damaligen Pressesprecher des Weißen Hauses, den man bei einer plumpen Lüge ertappt hatte, reinzuwaschen. Seitdem gibt es erst recht kein Halten mehr: auf der einen Seite das fast schon denunziatorische Bemühen, die vierte Gewalt – in dem Fall vor allem die von Trump und rechten Republikanern definierten liberalen Medien – als einseitig und hinterhältig bloßzustellen und vom eigenen Verhalten abzulenken; und auf der anderen Seite die gezielte und exzessive Nutzung falscher Informationen, vulgo Lügen.

Es gibt mehrere Motive für dieses Vorgehen – nur um die wichtigsten zu nennen: Die bewusste und gezielte Desinformation taugt natürlich vor allem erst einmal dazu, Absichten von Gegnern zu diskreditieren und eigene zu verschleiern. Es geht des Weiteren darum, Misstrauen in die liberalen Medien, ja, in Nachrichten und Informationen generell zu schüren. Damit schafft man eine „Metaphysik des Misstrauens“, wie es die Philosophin Susan Neiman bezeichnet hat. Mit der Zeit soll ein Gefühl der Gewöhnung eintreten, und zwar in der Art: „Okay, wir wissen, dass Trump und seine Leute lügen, das ist nichts Neues, aber in gewisser Weise tun sie das ja alle.“ Dieses Denken ist zynisch und gefährlich. Es ist die Folge des Trumpschen Zynismus, der ansteckend ist, wenn man sich nicht gegen die Gewöhnung wehrt und die Verlautbarungen aus dem Weißen Haus immer und immer wieder hinterfragt. Deswegen ist die Erklärung der Jury zum „Unwort des Jahres“ auch so richtig wie wichtig, wenn sie schreibt, „alternative Fakten“ sei „der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen“. Am schlimmsten, am verheerendsten wirken die „fake news“ bzw. die sogenannten „alternativen Fakten“ aber mittels der verursachten allgemeinen Desorientierung, die die Wahrheitsfindung und vor allem die Wahrheitserfassung erschwert. Ein Gefühl soll sich breit machen dergestalt: „Man weiß gar nicht mehr, was man glauben soll.“

ANDAUERNDE FOULSPIELE

Es fällt nicht leicht, über dieses Thema abgeklärt zu schreiben. Wenn man das Vorgehen von Trump, Conway und all die anderen hinterlistigen Strategen und ihre Helfershelfer betrachtet, so kommt man nicht umhin, sich wie in einem Fußballspiel zu fühlen, in dem ein Großteil der gegnerischen Mannschaft ständig foulspielt, ohne Sanktionen zu akzeptieren, und damit die Regeln außer Kraft setzt. Das Spiel hat am Ende nichts mehr mit dem Spiel früherer Tage zu tun – es ist zerstört.

Dieses Vorgehen ist als Attacke gegen eine gemeinsame Realität zu verstehen, also gegen die Basis von Gemeinschaftlichkeit und Gemeinsinn. Es verschiebt die Wahrnehmung, den Realitätssinn großer Teile der Gesellschaft quasi in ein Paralleluniversum, abgeschieden von der manchmal komplizierten Wirklichkeit und der Suche nach Wahrheit und Tatsachen. Am Ende bleibt nur der rüde, regellose Kampf. Die Zivilisation bleibt auf der Strecke.

DIFFAMIERTE WAHRHEIT

Dieses Vorgehen begünstigten in den USA (vor allem), aber auch in der restlichen Welt zwei Faktoren: Der eine Faktor ist der höchst lebendige und durch das Internet erleichterte Hang zu Verschwörungsfantasien. Der amerikanische Historiker Richard Hofstadter erklärte dies schon in den sechziger Jahren mit dem „paranoiden Stil“ des Denkens und Fühlens in der US-Gesellschaft, die, als Fluchtziel weltweit verfolgter religiöser Sekten, ein manichäisches Denken in Freund-Feind-Schablonen konserviere und pflege. Eine Fernsehserie wie Akte X hätte wohl in keinem anderen Land der Welt erfunden werden können – ein bis heute erfolgreicher TV-Hit, der Verschwörungsfantasien in exquisiter Weise kultiviert und quasi archetypisch deren wichtigste Elemente in zwei Postern in Fox Mulders Büro, einem der Protagonisten der Serie, gebannt hat: Auf dem einen Poster sieht man das Bild eines UFOs und darunter die Zeile: „I want to believe“; auf dem anderen Poster: „Government denies knowledge.“

Wer sich noch an die zusammengeschusterten Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 erinnert, der hört in seinen Ohren vielleicht noch die Lieblingsformel aller Verschwörungstheoretiker klingeln: „Es sind noch viele Fragen offen.“ Dabei gilt eigentlich für fast jeden etwas komplizierteren Aspekt des Lebens oder bei Straftaten, dass Fragen nicht abschließend beantwortet werden können. Egal, Hauptsache das Misstrauen ist gesät.

Der andere Faktor hat seinen Siegeszug in den siebziger bzw. achtziger Jahren angetreten: Es ist die durch Foucault und den Poststrukturalismus tief in unser Denken eingedrungene Überzeugung, dass alle Wahrheitsansprüche nur Machtansprüche sind, dass es daher keine macht-, vorurteils- und hegemoniefreie Wahrheitssuche gebe und dass die Suche nach Wahrheit als eine Frage der Perspektive verstanden werden müsse. Diese Überlegung baut auf der marxistischen Weltanschauung auf, wonach alle Ideen und Handlungen nur der Verschleierung ökonomischer Interessen gelten. Das trifft tatsächlich zu, wenn ein Präsident wie Trump wissenschaftliche Klimadaten von Behörden löschen, aber eben nicht, wenn ein anderer Präsident diese Daten erfassen lässt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Das sind die Unterschiede in unserer Welt und in der Politik. Linke Dogmen helfen nicht dabei, diese Unterschiede erkennen und bewerten zu können.

Weil aus Zweifel und Kritik Generalzweifel und Generalkritik sowie letztlich eine generelle Ablehnung unseres Herrschaftssystems geworden sind, haben sich die Linken selbst und uns alle geschwächt und Generationen für die Demokratie verdorben. In die Kerbe, die sie geschlagen haben, hauen jetzt die Rechten. Und das anscheinend mit Genuss.

Trump hat mit seinen Unterstützern eine Herrschaft der Emotionen vor den Fakten errichtet. Zu viele Menschen sind abgewandert in ein Paralleluniversum, wo es keinen Meinungsstreit, keine Auseinandersetzung mit Argumenten, kein Bemühen um Wahrheit gibt. Wir wissen nicht, ob ihre Zahl täglich wächst. Wir wissen aber, dass der Schaden durch diesen Umstand schon immens ist – und dass es einer gemeinsamen großen Kraftanstrengung braucht, dies zu ändern.