Keinen Piep wird „Der Spiegel“ bis auf Weiteres von sich geben können, ohne dass Querulanten mit gab.ai-Link in der Twitter-Bio jeden I-Punkt zerpflücken. Schlimmer noch: Die ganze Branche wird darunter leiden.

Dass es den „Stern“ heute immer noch am Kiosk zu kaufen gibt, hat das Magazin wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass sein epochaler Klops namens Hitler-Tagebücher nur in der damals dominanten Qualitätspresse zerpflückt und nicht von einem wütenden Mob auf Twitter breitgetreten wurde. 

„Der Spiegel“ dagegen darf nach dem heute bekanntgewordenen Skandal in keiner Nische der Medienwelt auf Nachsicht hoffen. Was Claas Relotius seinem Arbeitgeber mit seiner Sammlung als Reportagen getarnter Elendsballaden angetan hat, lässt sich heute noch gar nicht abschätzen. Klar ist nur, für den ohnehin gebeutelten „Spiegel“ bedeuten Relotius‘ Fisimatenten den journalistischen Ground Zero. Mitten im dritten Wechsel der Chefredaktion in den vergangenen sechs Jahren drängt sich in der Beschreibung möglicher Auswirkungen das Wort „Sargnagel“ auf. Das „Sturmgeschütz der Demokratie“, es ist selbst längst sturmreif geschossen.

Doch wäre es zu kurzsichtig, die Angelegenheit nur mit Blick auf den „Spiegel“ zu betrachten. In einer Zeit, da Legitimität und Glaubwürdigkeit der Presse von allen Seiten angegriffen werden und der Ausdruck „Qualitätsjournalismus“ inzwischen vor allem als ironisierende Kritik und in Anführungszeichen verwendet wird, ist ein „Spiegel“-Redakteur, der Geschichten nach persönlichem Gusto frisiert oder erfindet, eine Katastrophe, die über die Ericusspitze weit hinausreicht. Der Fall Relotius ist Wasser auf die Mühlen all jener, die es schon immer gewusst und die „der Journaille“ noch nie über den Weg getraut haben. Das Triumpgeheul wird entsprechend sein: Endlich kann die Medienkritik-Abteilung Galgenbau den rauchenden Colt präsentieren, den sie sich so lange und sehnsüchtig gewünscht hat. Endlich gibt es einen Beweis, der nicht aus dem anonymen Geraune eines „Insiders“ auf obskuren russischen Webseiten besteht und dessen Legitimität auch von der Gegenseite nicht in Abrede gestellt werden kann. Keine Frage, für Pegida war dieses Jahr am 19. Dezember Weihnachten. 

Das verspielte Vertrauen wiederzugewinnen, wird für den „Spiegel“ und professionell arbeitende Medien ganz allgemein eine Mammutaufgabe. Keinen Piep wird das ehrwürdige Hamburger Blatt bis auf Weiteres von sich geben können, ohne dass Querulanten mit gab.ai-Link in der Twitter-Bio jeden I-Punkt zerpflücken. Auch die alten Bekannten in den Petersburger Trollfabriken werden die heutige Enthüllung mit wohlwollendem Interesse aufgenommen haben. 

Den Kampf gegen die allgegenwärtige Desinformation zu gewinnen, wird so noch einmal ein Stück schwerer. Der schreibenden Zunft stünde es in dieser Lage gut an, einmal in sich zu gehen und sich auf ihr Kerngeschäft zu beschränken. Ein Anfang wäre es etwa, den opulenten Reigen journalistischer Selbstbeweihräucherungspreise künftig etwas bescheidener zu gestalten. Wo einer wie Relotius sich jahrelang durch alle Sicherheitsnetze mogeln konnte, da gibt es längst nichts mehr zu feiern – in Hamburg oder anderswo.

Lesen Sie ebenfalls zum Thema: Fühlen, was sein könnte von Doktor Deutsch