Alain de Benoist ist der Mastermind der Völkischen. Doch kaum jemand kennt den Pariser Intellektuellen, der sehr erfolgreich gegen das „Gift des Liberalismus“ anschreibt.

Im Herbst 1993 traf ich Alain de Benoist in Paris, um ihn für meine Magisterarbeit im Fach Politikwissenschaft zu interviewen. Ich könnte deshalb meine seherischen Fähigkeiten feiern, mein Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen, die weit in der Zukunft liegen. Denn Alain de Benoist ist der Kopf der „Nouvelle Droite“, der Neuen Rechten, die sich in Frankreich Ende der 60er Jahre gründete und seitdem gegen das „Gift des Liberalismus“ kämpft.

Vordenker seit vier Jahrzehnten

Sein durchaus kunstvoll komponiertes, völkisches Weltbild findet man heute in zahlreichen Texten der extremen Rechten in Deutschland wieder. Von Zeit zu Zeit wendet er sich direkt an sein deutsches Publikum (z.B. in der Zeitschrift „Sezession“ im Februar 2012). Meist begnügen sich die Autoren dieser Szene mit Schwundstufen und Einfachversionen seines Denkens, doch das ist nicht entscheidend. Eine Saat geht auf. Es muss befriedigend für den inzwischen 73-Jährigen sein, das zu erleben.

Diese Entwicklung sah ich selbstverständlich nicht voraus. Um ehrlich zu sein: Meine Wahl fiel auf ihn, weil ich einen Frankreichtick hatte und dem Rat eines Tutors folgte, der mir ein „maximal exotisches Thema“ empfahl. Ein Thema, von dem der prüfende Lehrstuhlinhaber im besten Fall keinen blassen Schimmer hatte. Zwar war meine Arbeit über „Ethnizität als Leitmotiv politischen Denkens am Beispiel der Nouvelle Droite“ nicht maximal exotisch. Aber die Person Benoist erwies sich als erfreulich unerforscht.

Nur wenige Autoren außerhalb der rechten Szene hatten sich mit dem seltsamen Kauz beschäftigt. Der Zeitgeist wehte woanders. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien der Siegeszug des Liberalismus unaufhaltsam. Völkisches Denken stand im Giftschrank der politischen Ideengeschichte weit hinten, Fackelträger und Epigonen des Faschismus vermutete man eher nicht in Frankreich. Nachdem ich die Bücher und Zeitschriften ausgewertet hatte, die Benoist in geradezu manischer Taktung in seinem eigenen Verlag herausgab, machte ich mich zu ihm auf den Weg.

Anti-68er mit Revoluzzer-Flair

Natürlich roch der Mann, der gläubige Juden und Christen für ihre „Mitleidsobsession“ verachtet, nicht nach Schwefel. Nach anfänglicher Skepsis und Kontaktaufnahme per Brief, Fax und Telefon (E-Mails verschickten damals nur die US-Marine und die Queen) freute er sich über das ernsthafte Interesse einer Studentin aus Deutschland. Er empfing mich kettenrauchend bei Tee und Gebäck in seiner mit Büchern vollgestopften Arbeitswohnung.

Von den geschliffenen Umgangsformen seines Herkunftsmilieus hatte sich der Adelsspross freigemacht. Merke: Auch ein Konterrevolutionär fühlt sich als Revolutionär. Man muss sich Alain de Benoist als das umgekehrte Produkt der Pariser Studentenproteste vorstellen, als einen Anti-68er mit 68er-Habitus: Füße auf dem Couchtisch, übervolle Aschenbecher, Verachtung für Bourgeoisie und Establishment. Was „merde“ war, musste man „merde“ nennen dürfen. Insoweit herrschte Konsens zwischen uns.

Wie also tickt dieser Mann? Nach einer alten Journalistenregel soll man beim Erzählen mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. Bei Alain de Benoist ist die umgekehrte Vorgehensweise effektvoller. In zehn Punkten werde ich die wichtigsten Elemente seines Weltbildes in der Reihenfolge ihrer Konsensfähigkeit im Jahr 2017 vorstellen: Das Populäre am Anfang, das eher Ungewohnte zum Schluss.

Nebenbei bemerkt: Benoists Anleihen bei anti-modernen Klassikern wie Oswald Spengler und Carl Schmitt sind zahlreich. Natürlich hat er die meisten seiner Denkfiguren nicht erfunden. Sein europavölkisches Amalgam dagegen ist originell. Im Lauf der Jahrzehnte hat er seine anti-egalitären und krypto-rassistischen Thesen immer weiter ausgearbeitet und mit Erkenntnissen u.a. aus dem Bereich der Verhaltensforschung, der Genetik und der Linguistik zu untermauern versucht. Vor allem die Erforschung des „Indo-Europäischen“ hat es ihm angetan. Aber der Reihe nach. Eine Revolution à la Benoist sähe ungefähr so aus:

Tabula rasa in zehn Schritten

Erstens: Europa muss als Einheit auferstehen. Nur wenn sich die europäischen Völker auf ihr gemeinsames Erbe besinnen, werden sie überleben. Amerika darf dabei keine Rolle mehr spielen, denn Amerika entfremdet Europa von sich selbst.

Zweitens: Eine echte politische Alternative muss abseits überkommener politischer Lager entstehen. „Ni gauche, ni droite“, nicht links, nicht rechts ist der Kampf, auf den Benoist seine Leser einschwört. (Gegenüber politischen Parteien hält er sorgsam Distanz, das gilt auch für den „Front National“)

Drittens: Der Kapitalismus degradiert den Menschen zur Ware. Der Markt als die alles beherrschende Macht muss eingehegt werden. Politik darf sich nicht der Wirtschaft unterordnen, vielmehr muss die Wirtschaft der Politik gehorchen.

Viertens: Materialismus macht Menschen haltlos und unglücklich. Sie suchen nach einem höheren Sinn, den ihnen die Kirchen nicht mehr vermitteln können.

Parteien und Medien hintergehen das Volk

Fünftens: Parteien, Medien, Gewerkschaften, Verbände und andere Funktionärskasten haben sich an die Stelle des Volkes gesetzt. Das Volk ist abgekoppelt von Entscheidungsprozessen, die Demokratie zur Farce geworden. Wahlen sind nicht zwingend Bestandteil einer Demokratie. Sie sind sogar undemokratisch, wenn sie nur der Reproduktion einer volksfernen Funktionärskaste dienen.

Sechstens: Der Islam ist unvereinbar mit Europa, denn er entspringt dem Geist eines Wüstenvolkes, das mäßigende Kräfte nicht kennt und zu „abgestuftem Denken“ nicht in der Lage ist. (Das gilt auch für das Juden- und Christentum; Religionen, die bekanntlich aus derselben Weltgegend stammen. Dazu weiter unten mehr)

Siebtens: Das Volk ist das eigentliche Subjekt des Politischen. Jedes Volk hat eine ihm gemäße Art zu leben, volksfremde Elemente wird ein Volk ausstoßen, sobald es „frei zu handeln“ ist. Der Volkswille kann sich auf vielerlei Weise mitteilen. Er ist nicht zwingend an einen parlamentarischen Prozess und auch an keine Verfassung gebunden.

Schluss mit dem Menschenbild der Aufklärung

Achtens: Leben ist Kampf. Jedes Volk hat ein „Recht auf Verschiedenheit“, auf die ihm bestimmte Art zu leben, in seinem angestammten Territorium. Die Verteidigung des Territoriums gegenüber Fremden ist eine anthropologische Konstante. Territorialverhalten ist Selbsterhalt.

Neuntens: Es ist die völkische Gemeinschaft, die dem Menschen Schutz und Würde verleiht. Deshalb hat das Individuum „an und für sich“ keine Rechte. Individuelle Abwehrrechte gegen die Gemeinschaft sind die Ursünde der Aufklärung. Diese fußt auf dem Menschenbild des Juden- und Christentums und damit auf nicht-europäischem Denken.

Der Islam gehört nicht zu Europa. Juden- und Christentum auch nicht

Zehntens: Das christliche Menschenbild hat ausgedient. Der allmächtige Gott des Juden- und Christentums hat ausgedient. An seine Stelle sollten wieder von Menschen geschaffene Götter treten. So kann der Mensch wieder autonom über Gut und Böse entscheiden, sein Schicksal frei bestimmen und so die Würde wiedererlangen, die ihm das christianisierte Europa seit über 1500 Jahren verwehrt.

Eines muss man Alain de Benoist also lassen: Er geht ans Eingemachte. Während die meisten Rechten Antisemitismus und Anti-Amerikanismus eher als Selbstzweck sehen, als ihre Ressentiments umfänglich begründen zu wollen, verwendet er seit Jahrzehnten viel Mühe darauf.

Er bricht mit dem Katholizismus, mit dem Erbe der Französischen Revolution, mit der Idee universeller Menschenrechte. Mit allem, worauf sich die französische Mehrheitsgesellschaft in Krisenzeiten zurückziehen kann. Vermutlich war ihm deshalb in seiner Heimat kein großer Erfolg beschieden. Die einzige Ausnahme bildete eine jahrelange -im Nachhinein von anderen Medien skandalisierte- Mitarbeit beim „Figaro“-Magazin. Benoist, der Deutschland als sein „geistiges Sehnsuchtsland“ bezeichnet, wird es verschmerzt haben.

Völker, hört die Signale!

Natürlich musste er auch Niederlagen hinnehmen. Sein ehrgeizigstes Projekt, die Schaffung des „neuen“ Europäers mit grenzüberschreitend völkischem Bewusstsein, steckt nach über 40 Jahren noch in den Kinderschuhen. Obwohl die „Nouvelle Droite“ viele wissenschaftliche Kongresse ausgerichtet und Tonnen von Papier bedruckt hat, um die Existenz eines indo-europäischen Urvolkes zu belegen, auf dessen Erbe sich der völkische Großeuropäer berufen könnte: Noch sind die Völker Europas nicht bereit, den gemeinsamen großen Demos in sich zum Leben zu erwecken.

Statt sich vereint gegen Amerika zu erheben, wursteln die Völker Europas getrennt vor sich hin. Je mehr Krise, desto mehr Eigensinn. Kaum jemand erkennt den wahren Freund, den wahren Feind. Keiner denkt daran, dass der Götterhimmel der Griechen als Blaupause für ein neu-heidnisches Europa dienen könnte. Niemand dankt den Römern dafür, dass sie einen Wüstenpropheten ans Kreuz genagelt haben. Stattdessen herrschen Zank und merkantiles Klein-Klein um den Euro. Das Resultat aus vielen Hundert Jahren Fremd- und Umerziehung? Er würde das so sehen wollen.

Update: De Benoist hat uns einen Leserbrief geschickt.