Eine Handreichung zum Antisemitismus: Es handelte sich schon immer um einen moralisierenden Diskurs

Also gut, reden wir noch mal über den Antisemitismus. Das Thema hängt mir zwar schon zum Halse heraus, außerdem habe ich eigentlich Wichtigeres zu tun (Abendessen für meine Familie kochen, mit meinem Sohn Schach spielen), aber es muss wohl sein. Bitteschön, nichts zu danken. 

Das Wichtigste, was man über den Antisemitismus wissen muss: Er ist uralt — der älteste Hass der Menschheitsgeschichte. Judenfeindliche Äußerungen findet man schon bei den Autoren der Antike; der erste Pogrom, der von außerjüdischen Quellen bezeugt ist, fand im Jahr 42 im heidnischen Alexandria statt. Natürlich ist der Antisemitismus älter als irgendwelche Sitzordnungen im französischen Nationalrat. Das Staunen darüber, dass es auch einen linken Antisemitismus gibt, ist kein philosophisches, es zeugt lediglich von umfassender Unbildung.

Dass der Antisemitismus schon immer mehr ein Problem der Intellektuellen als der Deppen war, zeigt der flüchtigste Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus. Wer hat damals Juden versteckt? Vor allem sogenannte einfache Leute: Menschen, die häufig kaum lesen und schreiben konnten — polnische Bauern, elsässische Handwerker, griechische Arbeiter. Und wer waren die schlimmsten Nazis? Die Angehörigen der gebildeten Stände: Universitätsprofessoren, Ärzte, Juristen. Studentinnen und Studenten waren mindestens seit dem 19. Jahrhundert im höchsten Grad judenfeindlich. Die teutomanen Idealisten, die 1817 beim Wartburgfest Bücher verbrannten, konnten Juden ebenso wenig leiden wie später die meisten Helden der Revolution von 1848. (Der jüdische Dichter Heinrich Heine, der die Revolution mit herbeigeschrieben hatte, erschauderte darum bis tief ins Herz, als sie endlich kam, und entdeckte bei dieser Gelegenheit seine Sympathie für den Reaktionär Metternich.) Am Anfang des 20. Jahrhunderts schwenkte das antisemitische Ressentiment nach rechts; nach 1968 – als linke deutsche Studenten jüdische Professoren bespuckten, die aus der Emigration zurückgekehrt waren –, wanderte es wieder scharf nach links.

Ein Grund für den auffälligen Antisemitismus des Intellektuellenmilieus ist ein ganz banaler: Konkurrenz. Es gibt nicht so viele jüdische Tischler, Fabrikarbeiter und Maschinenschlosser; aber es gibt jede Menge jüdische Professoren, Ärzte und Juristen. Als die Nazis im April 1933 alle jüdischen Lehrer entließen, wurden auf einen Schlag tausende Stellen für Nichtjuden frei. Schon allein das war ein Grund, die Juden nicht zu mögen. Hinzu kamen natürlich die Minderwertigkeitsgefühle. Mittelmäßige Würstchen wie Günter Grass und Martin Walser ahnten, dass sie es nie so weit gebracht hätten, wenn ihre jüdische Konkurrenz nicht von den Nazis aus dem Weg geräumt worden wäre. Und diesen Umstand haben sie natürlich den Juden nie verziehen. Dass der deutsche Literaturbetrieb nach 1945 Juden immer wieder mit Verachtung behandelt hat – Edgar Hilsenrath und Paul Celan sind die bekanntesten Beispiele –, war lediglich die Fortsetzung einer altehrwürdigen Tradition.

Es handelt sich beim Antisemitismus um einen Diskurs. Es hat ihn schon gegeben, bevor ein Heutiger den Mund aufgemacht hat, und es wird ihn auch noch geben, wenn der letzte Zeitgenosse für immer die Klappe hält. Der Antisemitismus ist immer schon da. Die meisten Menschen, die etwas Antisemitisches sagen, tun dies also nicht mit Vorsatz. Sie reden nicht; es redet aus ihnen. Sie wiederholen auf Punkt und Strich genau, was der antisemitische Diskurs ihnen vorgibt. Etwa: “Juden haben eine natürliche Affinität zu Geld und sexueller Perversion.” Oder: “Juden beten, im Unterschied zu Christen, einen grausamen Gott an.” Oder: “Juden streben Macht über Nichtjuden an.” Ein christliches Klischee, das in einer säkularisierten Variante weite Verbreitung gefunden hat, ist das Klischee vom neuen Israel. In seiner ursprünglichen Version klingt es so: Durch den Glauben an Jesus Christus ist das Judentum überflüssig geworden. Wir Christen sind das neue, das wahre, das Israel nach dem Geiste — die Juden sind das alte Israel nach dem Fleische geblieben. Wenn die Juden verstockt an ihrer veralteten Religion festhalten, so verschließen sie sich der universalen Erlösung. Übersetzt in die Sprache der aufgeklärten Leute, die die Bars und Cafés bevölkern, hört sich das wie folgt an: Religionen und Nationen werden immer unwichtiger, sie lösen sich auf, weil der Fortschritt marschiert. Warum halten nur die Juden an ihren komischen Ritualen und Traditionen fest? Könnten sie sich nicht ebenfalls im Großen und Ganzen auflösen? Warum beharren sie in ihrer Verstocktheit darauf, dass sie einen Nationalstaat brauchen?

Des Näheren war der Antisemitismus immer ein moralisierender Diskurs. Die Antisemiten sahen sich selber nie als die Bösen. Die Bösen waren vielmehr die Juden, die sich abscheulicher Verbrechen schuldig machten: Menschenfeindlichkeit, Gott- bzw. Götterlosigkeit, Wucher, Hostienschändung, Tierquälerei, Genitalverstümmelung, Streben nach Weltherrschaft, Fanatismus, Begünstigung des Bolschewismus, Begünstigung des Kapitalismus, Bombardierung von Krankenhäusern. Der Antisemitismus war immer ein Aufstand der Anständigen. Und natürlich ist jedes Argument, das man dagegen vorbringt, verlorene Liebesmüh’, denn der Antisemit weiß es besser; er hat seine Quellen.

Eine Dummheit, die man im Zusammenhang mit dem Antisemitismus viel zu oft hört, lautet: Araber könnten keine Antisemiten sein, weil sie doch selber Semiten seien. Demnach wäre das Werk “Die Mazze von Zion”, in dem der syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlas (1932–2017), unzweifelhaft ein Araber, schrieb, dass die Juden ihre ungesäuerten Brote mit arabischem Kinderblut backen, ein philosemitisches Buch. Und die bekannte völkische Erbauungsschrift “Mein Kampf” von Adolf Hitler, im Nahen Osten auch Abu Ala genannt, hört in dem Moment, wo sie ins Arabische – eine semitische Sprache! – übersetzt wird, auf, ein antisemitisches Dokument zu sein. Hadsch Amin Al Husseini, der Großmufti von Jerusalem, der mit Hitler und Himmler befreundet war und eine “Endlösung der Judenfrage” samt Gaskammern und Krematorien in Palästina plante, war, weil Semit, über jeden Verdacht des Judenhasses erhaben. Und so weiter ad absurdum. Das Wort “Antisemitismus” wurde nicht von Juden erfunden, sondern von Antisemiten. Es meinte von Anfang an nur eines: Abneigung gegen Juden. Araber sind genauso des Antisemitismus fähig wie andere Leute auch. 

Der Antisemitismus ist für beinahe alle, die nicht von ihm betroffen sind, unsichtbar. Vielleicht hat er das mit dem Rassismus, der Homophobie oder der Verachtung von Frauen gemein. Ich erinnere mich an ein Video, das eine Frau beim Spaziergang durch New York aufgenommen hatte, um zu dokumentieren, wie unendlich der Strom der Anmachen war; ich kapierte erst aufgrund dieses Films, dass ich aufgrund meiner Geschlechtszugehörigkeit angeborene Privilegien habe. Juden, die nicht in Israel oder der Upper West Side von New York aufgewachsen sind, leben seit ihrer Kindheit mit dummen Sprüchen, latenten Drohungen, oft auch offener Gewalt. Eine Erfahrung, die wahrscheinlich jede jüdische Generation aufs Neue machen muss, geht dabei so: Juden, die eher links denken, sind (das ergibt sich aus der prophetischen Tradition der hebräischen Bibel) solidarisch mit allen Unterdrückten der Erde. Sie setzen sich für das Proletariat, die Bürgerrechte der Schwarzen, die Palästinenser und den Kampf gegen den Klimawandel ein. Sie lachen über ihre reaktionären Eltern, die ihnen weismachen wollen, die Gojim seien insgeheim ja doch Antisemiten. Dann kommt der Moment, wo die Juden Solidarität brauchen. Und von den Leuten, mit denen man gerade noch auf die Straße gegangen ist, kommt: Schweigen. So erging es den jüdischen Revolutionären von 1848, den jüdischen Linken und Linksliberalen nach der Machtergreifung der Nazis (erinnern wir uns an den Satz von Hannah Arendt, erschreckend gewesen sei damals nicht das Verhalten der Feinde, sondern der Freunde); so war es im Golfkrieg 1991, und jetzt erleben wir die nächste Runde. Die Welt ändert sich radikal, aber manche Dinge bleiben ewig.  

Zum Glück gibt es Joe Biden, der sich gerade als großer Präsident entpuppt. Zum Glück gibt es Omid Nouripour und Robert Habeck, zwei Grüne, die das sind, was man auf Jiddisch “a mensch” nennt. Zum Glück gibt es die deutsche Außenministerin. Zum Glück sind Juden nicht mehr wehrlos. Zum Glück gewinnt unterdessen die Ukraine ihren Krieg. 

Das war’s. Ich koche jetzt Abendessen.