In Deutschland sei kein Platz für Antisemitismus, heißt es dieser Tage gerne. Richtig ist aber: In Deutschland ist es schwer, Platz für Solidarität mit Israel zu finden.

Berlin ist eine Stadt, in der ständig etwas vermisst wird: Fahrräder, Katzen, Kanarienvögel, der Frühling, eine Vogelspinne, die große Liebe. Ein Berliner, der nichs vermisst, ist keiner. Die Stadt ist voll von Vermisstenanzeigen – auf Bäumen, in Bibliotheken, an Bushaltestellen, in der U-Bahn. Nur, wenn es um gut 200 Menschen geht, darunter Frauen und Kinder, die nach dem Hamas-Massaker vermisst werden, darf in der Öffentlichkeit nicht daran erinnert werden. Wie bitte?

Aber der Reihe nach: Am 17. Oktober, vor genau drei Tagen, fragte der Mitgründer der Salonkolumnisten, David Harnasch, die Berliner Firma Wall AG, die sich auf die Vermarktung von Werbeanzeigen im Stadtraum spezialisiert hat, ob es möglich sei, die Vermisstenplakate als Display-Werbung zu veröffentlichen: „Im Wissen, dass Eurem Gründer Hans Wall das Eintreten gegen jeden Antisemitismus ein lebenslanges Anliegen war, wollte ich anfragen, was es kosten würde, in den nächsten Wochen die Vermisstenanzeigen der durch die Hamas entführten Israelis auf Wall-Displays in Berlin Mitte zu publizieren. Falls nötig, würden wir einen Fundraiser organisieren.“ Dazu muss man sagen, dass der 2019 verstorbene und politisch nicht unumstrittene Gründer Hans Wall nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer war, sondern auch ein Mäzen, der für sein Eintreten gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit von der jüdischen Gemeinde Berlin mit einem Preis ausgezeichnet wurde.

Einen Tag später kam eine Reaktion: „Zur abschließenden Beantwortung Ihrer Anfrage bräuchten wir die Kampagnenmotive vorab, da Kampagnen mit politischem Inhalt gemäß der Vorgaben unserer Vertragspartner eine Prüfung durchlaufen müssen.“ Schon an diesem Punkt könnte man einhaken und fragen: Was ist politisch an einer Anzeige, in der es um vermisste Menschen geht. Wenige Stunden später kam dann die endgültige Absage: „Die Rücksprache im Haus mit Prüfung der Motive hat ergeben, dass die vorliegenden Motive nicht in den Aushang gebracht werden können. Grund sind die Vorgaben unserer Vertragspartner.“

Das wollten wir von den Salonkolumnisten so nicht stehen lassen. David Harnasch fragte noch einmal nach: „Die eingereichten Motive – die Portraits der israelischen Geiseln sowie die Forderung, diese „lebendig nach Hause zu bringen“, hier nochmal im Anhang – sind m.E. keineswegs „politischer“ als z.B. das „Museum of Modern Ahrt“, welches künstlerisch das Staatsversagen während der Ahrtalflut kommentierte und auf den Display der Wall AG stattgefunden hat. Damit stellt sich die Frage, welcher Ihrer Vertragspartner nicht neben diesen Motiven stattfinden will und wieso. Aktuell sehe ich in der Tram-Haltestelle vor meiner Wohnung – und schräg gegenüber der Synagoge in der Oranienburger Straße – Werbung von Porsche, Aldi Nord sowie „share now“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eines dieser reputablen Unternehmen ein Problem damit hat, auf denselben Displays zu werben, auf denen für diese fundamentale Geste der Menschlichkeit geworben wird. Selbstverständlich kann die Wall AG als Privatunternehmen frei darüber entscheiden, mit welchen Geschäftspartnern sie zusammenarbeiten will und mit welchen nicht – aber dazu muss sich ein Medienunternehmen bitte auch öffentlich verhalten.“

Die Antwort kam gestern, am 19. Oktober, um 9 Uhr 43 – kurz und knapp: „Als Unternehmen können wir zum Sachverhalt nur Folgendes festhalten: Wir haben gegenüber unseren kommunalen Vertragspartnern vertragliche Verpflichtungen einzuhalten. Entsprechend wurden die Motive den kommunalen Vertragspartnern vorgelegt, aber ihrerseits nicht für den Aushang genehmigt.“

Um wen es sich bei diesen „kommunalen Vertragspartnern“ handelt, ist inzwischen klar: die Berliner Verkehrsverwaltung. EIne Sprecherin sagte dem Tagesspiegel: „Die Gefahr einer konfliktverschärfenden Wirkung mit Folgen für die öffentliche Sicherheit, sowie das Risiko für die Werbeanlagen und letztlich damit auch für die Firma Wall sind zu groß.“

Mit anderen Worten: Wall und die BVG haben Angst um ihre Werbedisplays. Radikalisierte Sympathisanten des Hamas-Terrors könnten die Tafeln an Haltestellen und in U-Bahnhöfen beschädigen. Jetzt wissen wir also, was das Leben einer Hamas-Geisel nicht wert ist: 4890,- Euro. So viel kostet ein Outdoor-Display. 

Da sollte man eine weitere Anzeige schalten: „Vermisst – die Zivilcourage der Berliner Verkehrsbetriebe.“