Die radikale Pose verschafft Aufmerksamkeit, auch im Zeitalter des Klimawandels. Aber hat sie auch politisch was zu bieten? Oder ist alles nur ein Irrtum? Ein Selbstversuch soll Klarheit bringen.

Vor einigen Wochen war Barack Obama in Deutschland. Das hat nicht jeder bemerkt. Zwar füllt er als begnadeter Rhetor immer noch Säle, wo er auch hinkommt; aber da er eben auch nur noch ein Ex-Präsident ist, dessen Vermächtnis zumal von seinem Nachfolger systematisch zerfetzt wird, war das Interesse bei den Medien nicht so groß wie noch einige wenige Jahre zuvor. Das könnte aber auch einen anderen Grund haben.

Wenn man Obamas Botschaft hört – sein beharrliches Plädoyer für Pragmatismus in der Politik – dann weiß man sogleich: Das ist nicht der Sound der Saison. Binnen kurzem wirkt der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten wie aus der Zeit gefallen. Selbstverständlich hat er immer noch die angesagtesten und ambitioniertesten Themen in seinem Portfolio: Klimawandel, Gleichberechtigung der Geschlechter, gesellschaftliche Toleranz, Kampf gegen wachsende Ungleichheit. Aber sein Einsatz für den bedächtigen Weg der Kompromisse, des Konsenses, der langsamen Fortschritte und seine Absage an radikale Veränderungen und der Trennung von „Wir“ und „Sie“ widerspricht dem aktuellen Mainstream: Man hört den Prediger noch gern; allein, die Gemeinde ist mit Herz und Hirn woanders. Radikalität ist angesagt.

DAS R-WORT

Regelmäßige Beobachter bzw. Betrachter der sogenannten „Öffentlichkeit“ können schon lange nicht mehr übersehen, dass sich das Adjektiv „radikal“ zurzeit einer gewissen Beliebtheit erfreut. In den Redaktionsstuben, wo es wie ein scharfer Drops im Munde geführt wird, um einen frischen politischen Atem zu bekommen, gewann es schnell an Bedeutung, um die Dringlichkeit und Wirkungstiefe der geforderten radikalen Lösungen bei Klima-, Bau- und Bienenfragen zu verdeutlichen. Da konnte es nicht lange dauern, bis es auch bei den Bewohnern der sogenannten Sozialen Medien eine gewisse Konjunktur bekam. Man darf deshalb schon ohne schlechtes Gewissen von einem „Radical Chic“ in Politik und Medien sprechen.

Der Begriff „Radical Chic“ geht auf den Autor Tom Wolfe zurück, der ihn als stilbildend für die Beschreibung einer Party im Jahre 1970 nutzte. Der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein hatte zusammen mit seiner Frau Felicia Freunde und Bekannte aus dem Showbiz und der Schickeria New Yorks in ihr Penthouse in der Park Avenue eingeladen – und etliche Aktivisten der Black Panther mit ihren Frauen noch dazu. Die ließen sich nicht lumpen und traten stilsicher mit Lederkluft und Sonnenbrille unter die Gäste und erfreuten sich wie alle an den spirituellen Getränken, den Roquefort-Käsehäppchen und den Fleischbällchen au Coq Hardi, die ihnen das weiße Personal reichte.

Nun, da es auch die Werbung für sich entdeckt hat, wie ich jüngst in meiner Post feststellen musste, könnte man meinen, dass der Stachel, der dem Wort innewohnt, gezogen wäre: Jetzt fällt es der Beliebigkeit anheim, wenn der Markt es schon verwurstet und gefälliger Strickware das Etikett „radikal“ anheftet. Und wenn es jetzt auch noch Markus Lanz in seiner Talkrunde benutzt, dann ist es erledigt, und alle Radikalinskis müssen auf ein Synonym ausweichen (z.B. „konsequent und kompromissarm“, wie ich jüngst in dem Tweet einer Ex-Piratin las).

Damit ist allerdings im Moment nicht wirklich zu rechnen. Das hat vor allem damit zu tun, dass es eine radikale Politik schon gibt: nämlich die der Rechtspopulisten wie Trump, Salvini oder Orbán, und so manch ein Politiker, Aktivist, Philosoph oder Journalist meint, man müsse einem radikalen Rechtspopulismus einen radikalen Linkspopulismus entgegensetzen, denn nur so sei jener erfolgreich zu bekämpfen. Das ist eine Frage, die aktuell auch die Demokratische Partei in den USA umtreibt: Welche Strategie ist die richtige, um Trump bei den Wahlen im nächsten Jahr zu besiegen? Die einer radikal linken oder die einer die Mitte umschmeichelnden?

Die belgische Philosophin Chantal Mouffe hat sie – nachzulesen in ihren Büchern und Interviews – für sich und die liberalen Demokratien des Westens schon beantwortet: Sie plädiert für offene Konflikte und einen Agonismus, also einen Wettkampf der Interessen mit der Betonung eines Wir/Sie-Gegensatzes: Eine Radikalisierung der Demokratie sei „durch eine immanente Kritik“ zu erlangen, um schließlich „an die Macht zu kommen und eine progressive Hegemonie aufzubauen“.

Mouffes Ansatz steht also konträr zu dem Obamas, der immer wieder betont, die Spaltung in der Gesellschaft überwinden zu wollen. Mouffe will diese Spaltung gezielt sichtbar machen und sogar vertiefen, um eine Vormacht des „Progressiven“ – was immer das sein soll – zu erreichen.

Wer etwas von der Geschichte der Bundesrepublik weiß, der weiß auch: Die Bundesrepublik hat bislang keinen Drang zu solch einer Radikalisierung verspürt, auch wenn es solche Einflüsterungen immer mal wieder gab. In ihr galt ein anderes Maß: das deliberative Modell eines Jürgen Habermas (in seiner mittleren Phase), der so wenig Schmerz wie möglich verursachende Konsens, ein Primat der Mittigkeit als Ort der Gemeinwohlpolitik – und man konnte es sich auch finanziell leisten. Das schlagendste Beispiel: der Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau. Während in England unter Thatcher die unrentablen Zechen einfach und damit tatsächlich radikal und ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen geschlossen wurden, galt in Deutschland der Weg des geordneten inkrementellen Plans mit milliardenschweren Abfederungen. Thatchers radikales Vorgehen hat die britische Gesellschaft gespalten, das deutsche Vorgehen nicht. Es wurde uns allerdings erleichtert, weil nicht nur Milliarden den Strukturwandel verzuckerten, sondern weil die sehr viel billiger zu gewinnende Braunkohle in Deutschland großflächig zur Verfügung steht – mit all ihren ökologischen und damit in gewisser Weise auch radikalen Folgen. Soviel Wahrheit müssen wir uns zugestehen.

RADIKAL IN DEN VERBOTSSTAAT

Im Augenblick ist es gerade der Klimawandel, der dem zeitgenössischen Radical Chic am meisten Oberwasser verschafft. Es sind aber auch bemerkenswerte Voraussetzungen: Da liegt quasi eine eschatologische Unbedingtheit vor, die mutmaßlich alles rechtfertigt, und es gibt Interessensgegensätze zwischen Süd und Nord, die man nicht einfach übergehen kann. Und so werden die agonistischen Praktiken sogar übertroffen und allerorten Notstandsregime gefordert oder nach eigenem Gutdünken die Abschaffung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Das bevorzugte Instrument des Radical Chic ist das Verbot, sein revolutionäres Subjekt die Verbotspartei, das Endziel: der ökofreundliche Obrigkeitsstaat. Es ist keine Einbildung: In den Kreisen der deutschen Progressiven scheint ein Hang zum Tyrannischen mittlerweile zum guten Ton zu gehören (Richard Volkmann hat das hier beschrieben). Schließlich generiert er ja auch Aufmerksamkeit, einen gewissen medialen Debattenmehrwert und einen Hauch von Rebellen-Coolness.

Aber mal von der Ungeheuerlichkeit abgesehen, die hinter diesen radikalen Phrasen und Posen stecken und die auch von der kindischen Lust herrühren, es dem Juste Milieu mal wieder so richtig zu zeigen: Würde es seine Ziele mit seinen Absichten erreichen, und würde das Volk genau diesem Weg folgen wollen? Den Fragen müssen wir uns beim größten anzunehmenden Lackmustest, dem Klimawandel, stellen. Denn an dieser Herausforderung werden wir in den nächsten Jahrzehnten nicht vorbeikommen. Dabei geht es vor allem darum, den Ausstoß von Treibhausgasen (insbesondere dem CO2) erheblich zu reduzieren – und zwar zügig. Um welche Mengen es geht, das kann jeder einmal für sich persönlich beim CO2-Rechner des Umweltbundesamtes nachvollziehen. Das ist deshalb sinnvoll, um einen Blick auf den eigenen CO2-Fußabdruck erhaschen zu können und einen Eindruck von der Härte der wahrscheinlich notwendigen Aufgabe, den CO2-Ausstoß auf unter eine Tonne CO2-Äquivalente im Jahr zu drücken – denn das ist der „Zielhorizont“.

DIE WERTE DER WAHRHEIT

Ich habe mich dem Rechner tatsächlich mal ausgesetzt – und hier ist das Ergebnis: Der Durchschnittswert in Deutschland liegt momentan bei ca. 11,6 Tonnen CO2-Äquivalente pro Person und Jahr. Ich selbst bin beim Test auf 9,2 gekommen. Hinter dieser Zahl steckt folgender Lebensstil: Ich besitze kein Auto, fahre mit Rad oder ÖPNV, beziehe seit vielen Jahren Ökostrom, fliege aber ca. dreimal im Jahr (mit „Kompensation“ bei Atmosfair); ich bin seit bald 40 Jahren Vegetarier (oder „80-Prozent-Veganer“), kaufe in der Regel regional im Bioladen ein und habe eher eine Schwäche für Bücher denn für Schuhe oder die neueste Zip-Off-Funktionshose. Und trotzdem komme ich real auf immer noch beachtliche 9,2 Tonnen! Würde ich, getrieben von einer individualethischen Anwandlung, auf die Flüge verzichten, so käme ich immer noch auf 6,0 Tonnen – also das Sechsfache des Erlaubten! Und ab hier beginnt das Reich des Irrealis: Würde ich in einem Mietshaus mit Gasheizung statt Ölheizung wohnen, dann wäre vielleicht eine weitere Minderung von knapp einer Tonne drin. Doch danach wird’s richtig heikel: Um auf die erlaubte knapp eine Tonne zu kommen, müsste ich jeden Konsum weitgehend einstellen und mich wie ein Reinhold Messner in der Wüste Gobi ernähren: von Haferflocken, Proteinriegeln und wenig Wasser. Netflix, der morgendliche Deutschlandfunk, all die schönen Tweets auf Twitter – finito. Das ist keine Polemik – das sind Fakten. Wollte eine Verbotspartei aus – sagen wir mal: – linken Kolumnisten und Influencern die Erreichung dieses Ziels mit Verboten durchsetzen, so hätte sie eine Menge Notstandsdekrete zu verfassen: Als erstes käme natürlich das Fliegen dran, dann das Autofahren und dann das Fleischessen. Würde es reichen? Nein. Was wird also danach verboten? Kompressionsstrümpfe, Haartrockner, Kuscheltiere?

DREI IRRTÜMER

Damit wir uns nicht missverstehen: Zum Instrumentenkasten staatlichen Handelns gehört auch in einer liberalen Demokratie gelegentlich das Verbot. Manchmal müssen zum Beispiel Parteien oder Vereinigungen verboten werden. Das kann zwingend notwendig sein. Was aber das Verbot von Plastikstrohhalmen bringt, erschließt sich dem gemeinen Betrachter nicht so recht. Bei der pfandfreien Getränkedose hat es auch nicht viel gebracht, obwohl der Gedanke nicht falsch war. Begrüßenswert war der Verbot der Qualmerei in einfach jedem öffentlichen Etablissement. Man kann es sich gar nicht mehr anders vorstellen. Aber Verbote sollten schon seltene Ausnahmen, schlichtweg sinnvoll, nicht kontraproduktiv und von realen Mehrheiten gewollt sein.

Womit wir bei den Irrtümern des zeitgenössischen Radical Chic wären: Es ist einfach der größte Irrtum zu glauben, ein Verbotsregime in Berlin könnte den Klimawandel mit seinen gewaltigen, langwierigen, planetaren Prozessen irgendwie beeindrucken. Die Effekte sind einfach zu klein und auf Dauer nicht bemerkbar. Allein das Internet hat schon einen größeren Auspuff als der Flugverkehr. (Davon mal abgesehen, dass gerade der Berliner, um seine ungebrochen ökofeindliche Sündhaftigkeit auszuleben, ins nahe, wenig beeindruckte Polen ausweichen würde.)

Der zweite Riesenirrtum ist zu glauben, eine Partei, die unsere Freiheit zu einem großen Teil suspendieren würde, bekäme genau dafür eine Mehrheit. Das wird zwar immer wieder von Apologeten des Radical Chic erhofft und behauptet, aber keine Partei – und, ja, auch die Grünen nicht – wird das jemals als Kern der politischen Praxis preisen. Denn solange es einen Wettbewerb gibt, wird es Parteien geben, die einen anderen, attraktiveren, besseren Weg vorschlagen und breite Mehrheiten für ihren Weg gewinnen wollen und werden.

Es ist, drittens, ein großer Irrtum, weil radikale Verbote Stillstand bedeuten, wo der globale Klimawandel doch eine technologische Effizienzrevolution erfordert, für die Innovationen, Kreativität, steuerliche Lenkungen und vor allem Investitionen gefragt sind. Die ökologische Transformation basiert auf Umbau, auf Konversion veralteter und ökologisch schädlicher Systeme. Das braucht gemeinsame Anstrengungen und Investitionen – übrigens auch für Anpassungsleistungen in Städten und Infrastrukturen – die eine Strahlkraft auch für andere Marktwirtschaften entwickeln. Umfassende Verbote bedeuten Niedergang. Die wichtigsten Akteure, die man für einen gemeinsamen und irgendwann auch globalen Green New Deal gewinnen muss, werden sich nur einem Fortschrittspfad anschließen.

Doch die Linke in ihrem selbstgefälligen Radical Chic hat wieder einmal nichts anzubieten außer – Vorschriften. Natürlich steckt dahinter auch die Strategie, die Grünen, die aktuellen Günstlinge der Götter, zu becircen für ein grün-rot-rotes Bündnis im Bund. Wer in den letzten Tagen die Sirenen-Tweets aus dem linken Lager Richtung Grüne sah, der konnte das mit einem Schmunzeln verfolgen. Denn die Grünen beißen gar nicht an, reden kaum von Verboten und wollen keine Verbots-, sondern eine Investitionspartei sein. Das klingt ganz anders und ist auch etwas Anderes. So oder so – wir dürfen gespannt sein auf das nächste Votum der Wählerinnen und Wähler. Denn sie haben das letzte Wort.