Als die Zivilgesellschaft noch Repräsentanten hatte: Heinrich Böll war der wichtigste öffentliche Intellektuelle der alten Bundesrepublik. Seine Kämpfe strahlen bis in die heutige Zeit. Doch Bölls Ruf ist beschädigt. Versuch einer Rehabilitation aus gegebenem Anlass.

Viel Ehr, viel Feind – auch diese Tatsache ist längst „demokratisiert“ worden. Wer heute in den asozialen Medien einigermaßen meinungsstark auftritt, die eine oder andere Häresie begeht oder nur ein anstößiges Wort benutzt, der kann in kürzester Zeit eine riesige Empörungswelle auf sich zurollen sehen, die immer häufiger mit der einen oder anderen Morddrohung garniert ist. Wir leben im Wilden Westen, die Schimpfworte sitzen locker, im täglichen High Noon wird überall Satisfaktion gefordert, jeder Heißsporn benötigt nur ein Smartphone, um Unheil anzurichten.

Wenn er heute noch leben würde, könnte der Schriftsteller Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger von 1972, ein Lied davon singen, wie man neben der Ehre viel Feindschaft auf sich zieht. Sie hat sich über seinen Tod hinaus erhalten, wenn auch abgekühlt. Was aber noch immer stark ist: eine intellektuelle Reserve in Kunst, Kultur und Feuilleton gegenüber seiner Person.

Feindschaft erfuhr Böll vor allem in der politisch heißen Zeit der 1970er Jahre, als der Alltag der Bundesrepublik vom Terror der Roten Armee Fraktion überschattet wurde, der Hetze der Springer-Medien und den staatlichen Überwachungsmaßnahmen. Böll erlebte sie am eigenen Leib: Er wurde als Terror-Sympathisant verunglimpft, er bekam Drohbriefe säckeweise, ein Handwerker wollte nicht mehr für ihn arbeiten, seiner Familie widerfuhren mehrere Hausdurchsuchungen. Was war geschehen? Anfang 1972 hatte er einen Essay im SPIEGEL veröffentlicht mit dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Böll verwahrte sich in dem Text gegen die Bild-Zeitung, die nach einem Bankraub in Kaiserslautern diese Tat unmittelbar und ohne Beweise der „Baader-Meinhof-Bande“ zuschrieb. Böll stritt in seinem Essay gegen die mediale Hetze, die allgemeine Hysterie und die pfeilschnellen Vorverurteilungen, für die er die Springer-Presse mit verantwortlich machte. Man braucht keine große zeitliche Distanz, um feststellen zu können, dass beim Verfassen des Textes viel Böllsche Wut die Hand geführt hat, die Formulierungen nicht immer geglückt waren und mancher Gedanke nicht zu Ende gedacht. Doch was den Text letztlich so explosiv machte für Böll, das war die Überschrift, die von der SPIEGEL-Redaktion eigenmächtig – sprich: ohne Bölls Kenntnis und Einverständnis – geändert worden war und mit dem bloßen Vornamen „Ulrike“ – gemeint war natürlich Ulrike Meinhof – eine Vertraulichkeit suggerierte, die es nie gegeben hatte. Böll kannte die Meinhof nicht, und er hatte auch für den Terror der RAF keinerlei Sympathie. Doch nach dem Essay brach eine Kampagne los, die mit dem zeitgenössischen Wort „Shitstorm“ untertrieben wäre und die erst knapp zehn Jahre später endete – eine Kampagne, in der sich Presse, Polizei und Politik (aus den Reihen der CDU) gegenseitig mit Vorwürfen, Unterstellungen und Diffamierungen gegen Böll munitionierte.

DER GEGENSPIELER

Man sollte, und doch kann man dies alles nicht trennen von den Einwürfen und Widersprüchen, mit denen Böll die Entwicklung der Bundesrepublik seit dem Anfang der 1950er Jahre intensiv begleitete. Er war politisch, als es unmodern war, politisch zu sein. Er war unbequem, als man es sich gerade auf dem Wohlstandssofa bequem machte. Und er war moralisch, als man von Moral nichts hören wollte. Vor allem aber war er eigensinnig, stur und wütend in einer Art und Weise, wie man es in einer deutschen Talkshow heute so nicht mehr findet. Er legte sich mit allen an: der Gesellschaft, dem Staat, der Kirche, den Unternehmern, sogar mit der riesengroßen Sowjetunion. Und jedes große und kleine politische Thema fand bei ihm einen kritischen Widerhall: die Restauration, die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, Springers Einfluss, der Deutsche Herbst, die NATO-Nachrüstung usw. Er hat Bewegungen unterstützt, und wenn es keine Bewegung gab, eigenhändig Trubel gemacht. Er konnte zu einer Pressekonferenz rufen – und alle, alle kamen. Er war der intellektuelle Gegenspieler von Adenauer und Schmidt und wurde zum „Gewissen der Nation“ stilisiert. Kein Wunder, dass eine Umfrage einmal ergab, dass ihn 90 Prozent der Bevölkerung kannten.

So einer reizt immer zum Denkmalsturz. Vor allem, wenn man so scharfsinnig und überaus polemisch kritisieren und analysieren konnte wie Böll. Nur zwei Beispiele: Als er im Jahre 1965 die Erinnerungen Adenauers rezensierte, gelang ihm mit seiner Sprach- und Stilkritik der Kanzlerprosa auch eine immanente Machtkritik, die sich gewaschen hatte. Bölls Resümee:

„Es ist viel Niedertracht in diesem Buch, und es bedurfte wohl des letzten Restes von Menschenverachtung, auch der allerletzten Verachtung unserer Sprache, es zu publizieren, nicht ahnend, wie viel Sprache verraten kann. Die Lektüre ist niederschmetternd, sie ist verderblich (…)“

Ein Urteil, das sich ein Schriftsteller für seinen Roman oder Lyrikband gewiss nicht wünschen würde.

Im Jahre 1971 produzierte Böll für den WDR den Film „Die Sprache der kirchlichen Würdenträger“. Auch das war ein Aufklärungsstück, so entlarvend, erhellend und polemisch, wie es Böll bei so einem ernsten Gegenstand wie Sprache und Glaube vermutlich nicht anders vermochte:

„Vielleicht ist es die Fertigkeit, die Glätte, die die Sprache der kirchlichen Würdenträger so nichtssagend macht. Sie sind nicht bewegt und nicht bewegbar. (…) Ihre Sprache (…) ist die Sprache von Kontaktlosen oder zumindest Kontaktgestörten.“

Doch diesmal bekam er Gewissensbisse: Als der von ihm kritisierte protestantische Bischof Scharf einige Jahre später selbst als Sympathisant der RAF diffamiert wird, bereut Böll die Angriffe im Film und bittet um Verzeihung für seine Attacken, die er in einer Rede in Anwesenheit des Bischofs selbst „böse, fast bösartig“ nennt.

LUST UND SPIEL

Doch all dies hat seinem Ruhm und seinem Ruf weniger geschadet als die Nachrede, er sei quasi ein „Heiliger“, eine „moralische Instanz“ und künstlerisch belanglos. Es half nichts, dass er dies immer zurückwies; dass er auch Lust und Spiel als kreative und aktivistische Triebfedern seines Tuns hervorhob. Es waren vor allem Kollegen von Goetz bis Gernhardt, die ihn in den 1980er Jahren als moralinsauren Peinsack darstellten und klarstellten, dass man als politischer Autor quasi natürlich gegen das deutsche Geniegebot verstoße: nämlich dass die aktuelle Politik im Kunstwerk nichts zu suchen habe. Der Fall Böll wirkt bei deutschsprachigen Schriftstellern zum Teil bis heute nach. Gleichzeitig – wie es die Zeit so mit sich bringt – kriegt heute ein Kunstwerk kaum noch Aufmerksamkeit, wenn es nicht irgendwie „ein Zeichen setzt“ – und sei es noch so politisch schön lächerlich und nichtssagend.

Heinrich Böll, dessen Werkausgabe 27 Bände umfasst, war ein Mann mit Mut und Entschlossenheit, der sich nicht davor scheute, als Fluchthelfer durch den Eisernen Vorhang zu agieren, verbotene Manuskripte von Schriftstellern zu schmuggeln und sich auch für die Freiheit dieser Verfemten selbst einzusetzen.

Nach Bölls Tod 1985 konstatierte Hans Magnus Enzensberger: Die Zeit der großen politischen Intellektuellen sei nun vorbei, ihre Rolle hätte nun Greenpeace übernommen. Aber wer spricht heute noch von Greenpeace?

Sicher ist: So einen öffentlichen Intellektuellen wie Heinrich Böll gibt es nicht mehr, braucht es vielleicht auch nicht mehr, kann es wahrscheinlich auch nicht mehr geben in Zeiten der Trend-Influencer und Kurzzeit-Kampagneros.

Trotzdem, ich erlebe es in meinem Beruf immer noch und immer wieder, dass sich Leute die Frage stellen, was Heinrich Böll zu diesem oder jenem politischen Problem heute sagen würde. Ich weiß nur eins: Am 21. Dezember wäre Heinrich Böll hundert Jahre alt geworden.

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Zwei Böll-Biographien sind kürzlich erschienen: eine von Jochen Schubert, die andere von Ralf Schnell. Zudem hat Kiepenheuer & Witsch 2018 den Band „Die Panzer zielte auf Kafka“ herausgegeben, der hier bei den Salonkolumnisten von Marko Martin rezensiert wird.