Im August 1968 erlebte Heinrich Böll den sowjetischen Einmarsch in Prag. Der Band „Der Panzer zielte auf Kafka“ erinnert an jenes Geschehen, das Böll nachhaltig prägen sollte.

Am 20. August 1968 kommt Heinrich Böll auf Einladung des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes nach Prag und mietet sich im Hotel Alcron nahe des Wenzelsplatzes ein. Am darauf folgenden Morgen hört er kurz nach sieben die ersten Schüsse. Der sowjetische Einmarsch hat stattgefunden und zermalmt mit dem Prager Frühling die Hoffnungen nicht allein der Tschechen und Slowaken. Böll begibt sich trotz des Risikos hinaus auf die Straße, sieht aufgebrachte junge Tschechen auf scheinbar unbeeindruckte Panzersoldaten einreden und notiert die Rufe, die damals durch Prag hallten: Proteste („Gestapo!“) und Ermutigungs-Slogans („Dubcek, Dubcek, Svoboda!“).

Gleich nach seiner Rückkehr nach Deutschland schreibt er zwei essayistische Reportagetexte über seine Erfahrung und gibt Zeitungen und Rundfunkanstalten Interviews. Eine in ihrer Absurdität besonders erhellende Beobachtung gibt dem soeben zum 50. Jahrestag der damaligen Ereignisse erschienenen Band seinen Namen: „Der Panzer zielte auf Kafka“. Böll hatte gesehen und notiert, wie ein Sowjet-Panzer selbst vor Kafkas Geburtshaus Stellung bezogen hatte.

Gemeinhin scheinen Bücher mit zahlreichen Anmerkungen und tagesaktuellen Interviews eher für eine kleine Fan-Gemeinde gedacht. Dieser Band indessen, herausgegeben von Heinrich Bölls Sohn René, beweist das Gegenteil: Bereits die Typographie – Faksimiles aus Bölls Notizbuch und aus den damals noch nicht zensierten Prager Zeitungen, Flugbatt-Ausrisse und eindrucksvolle doppelseitige Schwarzweißfotografien – ziehen den Leser sofort in die Atmosphäre dieser Augusttage.

Hinzu kommen eben jene konzisen Anmerkungen, die nicht nur Namen erklären, sondern auch Hintergründe offenbaren. Ein paar Wochen vor Böll war beispielsweise der Westberliner Studentenführer Rudi Dutschke nach Prag gereist, um seinen erstaunten tschechischen Kommilitonen in herrischer Diktion mitzuteilen, dass „die repräsentative Demokratie westlichen Musters keine Alternative zur Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei“ sei.

Westliche Überheblichkeit

Eine Überheblichkeit, vor der Böll, der skrupulöse Beobachter, gefeit war. Mehr noch: Sofort macht er sich Gedanken, welche konkrete Hilfe er leisten könnte. Dass dies nicht lediglich die Emotion eines Augenblicks war, thematisiert ein dem Band beigefügter Essay von Jochen Schubert. In den Folgejahren setzte Böll sich konsequent für tschechische Kollegen wie Vaclav Havel, Pavel Kohout und Jan Patocka ein, schrieb offene Briefe, die selbst die partei-gesteuerte Justiz unter dem neuen Machthaber Gustav Husak zu manch milderem Urteil zwang, verfasste Rezensionen, gründete – als Hommage an die legendäre Prager Reform-Zeitschrift „Literárni listy“ – die Vierteljahres-Publikation „L 76“ und stand schließlich auch den in der CSSR verfolgten Unterzeichnern der „Charta ’77“ bei.

Nein, Heinrich Böll hatte seine Prager August-Erfahrung nicht vergessen, und es ist weit mehr als eine schöner Pointe, was daraus folgte: Als nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers Heinrich Böll von Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit erneut als „Terroristen-Sympathisant“ geschmäht wurde, war es nun an den Prager Dissidenten Jiri Hayek und Pavel Kohout, in einem offenen Brief Solidarität mit ihrem Kollegen in Köln zu demonstrieren: „So wie Sie uns bei unseren Bestrebungen beistehen, so sind auch wir auf Ihrer Seite.“

Ein westöstlicher, ein europäischer Dialog von unten, der noch heute ermutigt. Wie gut, dass es gerade jetzt dieses Buch gibt.

 

Heinrich Böll: Die Panzer zielte auf Kafka. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018,  220 S., geb., Euro 20,-

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Zu Heinrich Böll hat sich Bernd Rheinberg hier bei den Salonkolumnisten an einen Versuch einer Rehabilitation gewagt.