Durften Polizisten bei der Verteidigung des Kapitols bis zum Äußersten gehen? Ja, meint unser Autor.

Ich habe mir ziemlich viele Videos von dem Sturm auf das Kapitol angesehen und glaube, ohne Übertreibung jetzt Folgendes sagen zu können: Dies war ein faschistischer, nihilistischer, mordbereiter Mob. Die Vereinigten Staaten sind am 6. Januar sehr knapp an einer größeren Katastrophe vorbeigeschrammt — auf einem Planeten B sind jetzt 50 Senatoren und Kongressabgeordnete sowie der Vizepräsident der Vereinigten Staaten tot; Alexandria Ocasio-Cortez wurde mehrfach vergewaltigt, ehe die Sturmtruppen ihr die Kehle durchschnitten; Nancy Pelosi lebt nicht mehr. Und die Auszählung der Stimmen konnte nicht zum von der amerikanischen Verfassung angeordneten Termin erfolgen.

Außerdem weiß ich dieses: Donald Trump hatte dem Mob zuvor praktisch befohlen, aufs Kapitol zu marschieren. Er wollte die zeremonielle Auszählung der Stimmen verhindern, den Vizepräsidenten kidnappen lassen und ihn mit Gewalt zwingen, Trump im Amt zu bestätigen. Es gab Polizisten im Kapitol, die sich auf die Seite des Mobs stellten. (Zwei wurden mittlerweile vom Dienst suspendiert.) Andere waren Helden, etwa der schwarze Polizist Eugene Goodman, der eine Gruppe von Aufständischen vom Senat weglockte und damit wertvolle Sekunden gewann, während denen es den Senatorinnen und Senatoren drinnen gelang, sich in Sicherheit zu bringen. Ein bestürzendes Detail, das mittlerweile bekannt wurde: Die republikanische Kongressabgeordnete Lauren Boebert, die an die antisemitische QAnon-Verschwörungsreligion glaubt, gab einer großen Gruppe einen Tag vor dem Putschversuch eine Besichtigungstour im Kapitol — umso bemerkenswerter, als das Kapitol für Besucher wegen des Coronavirus im Moment eigentlich für Besucher gesperrt ist. Offenbar hatten die Putschisten Pläne, sie kamen nicht unvorbereitet. Sie wussten genau, wohin sie sich wenden sollten.

Sechs Menschen sterben bei diesem Putschversuch. Eine von ihnen war Ashli Babbitt. Sie war 35 Jahre alt, als sie starb. Was weiß ich von ihr? Nicht mehr, als in der Zeitung steht: Sie war aus San Diego, diente lange Jahre in der Luftwaffe. Sie war zum zweiten Mal verheiratet. Sie war eine glühende Unterstützerin von Präsident Trump. Sie glaubte der Propagandalüge, Joe Biden habe die Wahl gestohlen. Sie glaubte ferner, das Coronavirus sei nicht gefährlich und der Lockdown, der über side verhängt wurde, eine unzulässige Zwangsmaßnahme. Man kann sie, wenn man so will, als Opfer einer Desinformationskampagne ansehen. Andererseits war die Frau erwachsen. Niemand zwang sie, sich in ein Flugzeug zu setzen, von Kalifornien nach Washington zu fliegen und sich dort an einem rechtsradikalen Sturmangriff zu beteiligen. 

Ich habe angefangen, mich intensiver mit Ashli Babbitt zu beschäftigen, weil mein Freund Alan Posener auf Facebook jedem mit Entfreundung droht, der ihre Erschießung im Kapitol gutheißt. Jeder, der Alan Posener kennt (und ich kenne ihn ein bisschen), weiß, dass er so ziemlich das Gegenteil eines Trump-Anhängers ist. Er gehört nicht zu jenen ehemaligen Linksradikalen, die sich — eigentlich ohne Zwischenstopp in der politischen Mitte — in völkische Verteidiger des christlichen Abendlandes verwandelt haben. Alan ist ein Anhänger des demokratischen Rechtsstaates, ich auch. Also nehme ich ernst, wenn er etwas auf Facebook postet.

Ich habe drei Dinge getan. Erstens habe ich mir angeschaut, wo Ashli Babbitt zum, Zeitpunkt ihres Todes war. Dank „Washington Post“ ist das sehr genau möglich.

Ashli Babbitt befand sich also um 14 Uhr 44 vor dem Eingang zur Lobby des Repräsentantenhauses. Sehr weit drinnen im Kapitol. Zwei Minuten früher waren die Kongressabgeordneten durch eine Hintertür in Sicherheit gebracht worden, aber das konnte Ashli Babbitt nicht wissen. 

Zweitens habe ich mir angeschaut, was „Rolling Stone“ — das Magazin, auf das Alan Posener sich beruft — über John Sullivan zu sagen hat, den Gewährsmann, der meint, Ashli Babbitt habe nicht verdient zu sterben. Das Magazin bezeichnet ihn als „embedded journalist“. Er habe sich unter den Mob gemengt, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Wenn man ihn an einer Stelle des Films sagen hört „Ich habe ein Messer“, um eine Tür aufzubrechen, so habe das lediglich Tarnungszwecken gedient. Sullivan, der schwarz ist, bezeichnet sich als Sympathisanten der „Back Lives Matter“-Bewegung. Das mag wahr sein oder nicht. Wenig glaubwürdig erscheint mir allerdings die Behauptung, er sei „Journalist“. Es gibt von ihm — soweit ich das im Internet nachprüfen konnte — kein Werk, anders als im Fall von Luke Mogelson, der ein eindrucksvolles Video für den „New Yorker“ gedreht hat und aus Syrien und Afghanistan berichtet hat. An einer Stelle hört man John Sullivan sagen: „Wir müssen diese ganze Scheiße hier“ — gemeint ist das Kapitol — „niederbrennen.“ Er sagt dies offenbar nicht zu Tarnungszwecken, sondern weil er es so meinte. Ich gehe davon aus, dass es sich bei Sullivan um einen Trump-Unterstützer und ein Mitglied des Mobs handelt — und dass die Zeitschrift „Rolling Stone“ auf seine Tarnlegende hereingefallen ist.

Im Zweifel für den Todesschützen

Nun kann auch ein unglaubwürdiger Zeuge die Wahrheit sagen. Ich habe mir also drittens John Sullivans Video noch einmal angesehen (das ich in einer kürzeren Version schon kannte). Der entscheidende Moment kommt nach einer Stunde und zwölf Minuten.

Der Mob hat versucht, die Glastür zur Lobby des Repräsentantenhauses eingeschlagen. Davor stehen eher hilflos ein paar Polizisten herum. Jemand schreit: „Fuck the blue“, also „Fickt die Polizei“. Dann ruft John Sullivan: „A gun! He’s got a gun!“ Man sieht hinter der Glastür und von der Seite her einen Arm, eine Hand mit einer Pistole. Schüsse fallen. Die Kamera schwenkt. Dann sieht man, dass eine Frau — Ashli Babbitt — mit sportlichem Schwung versucht hat, die Glastür zu erklimmen. Sie fällt zu Boden.

Ich stelle mir vor, ich wäre Geschworener in einer Jury, die über den Schützen zu Gericht zu sitzen hat. Würde ich sagen, er habe unangemessene Gewalt angewendet? Die Glastür wackelte schon im Rahmen. Das Glas wurde mit Baseballschlägern traktiert. Wusste der Schütze, dass die Kongressabgeordneten sich zwei Minuten vorher in Sicherheit gebracht hatten? Dachte er, dass sich nur diese Glastür zwischen dem Mob und den Leuten hinter ihm befand, für deren Sicherheit er verantwortlich war? Was sah er in der Frau, die wie ein Panther auf die Glastür zusprang, die schon geborsten war? 

Fragen über Fragen. Ich erkenne die Tragödie von Ashli Babbitt: eine 35-jährige Frau, die, das Video beweist es, jedenfalls kein Feigling war, sondern Todesmut bewies — nur eben für eine entsetzlich falsche Sache. In einer anderen Version der Realität würde sie jetzt zuhause sitzen, Tee trinken und verrückte Facebook-Einträge schreiben. In einer anderen Version der Realität hätten Nationalgardisten sie am Betreten des Kapitols gehindert, und sie wäre am Abend des 6. Januar ganz friedlich wieder nachhause geflogen. In einer anderen Version der Realität würde ich vielleicht versuchen, mit ihr zu reden, an ihre Vernunft zu appellieren. Aber so war es eben nicht. Und ich denke, dass ich als Geschworener — „in dubio pro reo“ — für den Todesschützen entscheiden würde.