Die vergangenen Tage zeigen: Kremlkritiker Alexei Nawalnyj hat bei seiner Rückkehr nach Russland wenig dem Zufall überlassen. Bei seiner Ankunft in Moskau versuchte er, die Regeln des politischen Spiels in Moskau neu zu definieren.

Über lange Jahre waren die Rollen zwischen Alexei Nawalnyj und dem Kreml klar verteilt. Auf der einen Seite der Anti-Korruptionsblogger, der im Internet die krummen Geschäfte und illegalen Deals der russischen Elite anprangerte. Auf der anderen Seite das Regime, das Nawalnyj, seiner Familie und seinen Anhängern das Leben mit inszenierten Gerichtsverfahren und Angriffen durch bestellte Schlägertrupps erschwerte. Da sich Nawalnyjs Opposition zu großen Teilen auf youtube und Twitter abspielte, sah die Macht, wie man in Russland den Staat nennt, sich nicht wirklich herausgefordert. Die Nadelstiche von Polizei und Gerichten waren für Nawalnyj zwar schmerzhaft, aber sie bewegten sich im Rahmen dessen, was man von einem autoritären Regime erwarten kann. In den kontrollierten Massenmedien kam er gar nicht vor; so erfuhr die fernsehende Mehrheit nichts oder nur wenig über ihn und seine Popularität blieb begrenzt. 

Doch im Laufe der vergangenen Jahre gelang es Nawalnyj, seine politische Basis auszubauen. In beharrlicher Arbeit hat er sich eine Organisation geschaffen, die in ganz Russland präsent ist – unter den repressiven Bedingungen und bei der Größe des Landes eine beachtliche Leistung. Außerdem versuchte er, den politischen Kampf aus der virtuellen Welt an die Wahlurnen zu verlagern. Nawalnys Ziel war es nun, die unpopuläre Kremlpartei „Einiges Russland“ bei den bevorstehenden Wahlen dadurch vorzuführen, dass er den jeweils stärksten Gegenkandidaten unterstützt – selbst wenn es sich um Kommunisten oder Nationalisten handelte. Mit dieser Strategie versuchte er zu zeigen, dass die Legitimität des Regimes nicht nur in Moskau, sondern auch in der Provinz bröckelt. 

Ob es die Angst vor den kommenden Wahlen war, die zur Entscheidung führte Alexei Nawalnyj in Sibirien zu vergiften wissen wir nicht. Dafür wissen wir dank der Recherchen von Bellingcat und Nawalnyj mittlerweile detailliert, wer den Anschlag wie ausführte und warum er scheiterte. Mit dem Mordversuch wurde deutlich, dass der Kreml seine Gegner auch weiterhin nicht schont. 

Nawalnyj fordert Putin heraus

In den letzten zwei Tagen haben wir erlebt, wie Nawalnyj nach seiner Genesung den Gegenangriff fährt. Zunächst sorgte er dafür, dass ein ganzer Tross Journalisten ihn auf dem Flug zurück in die Heimat begleitete. Wer wollte, konnte seine Verhaftung inklusive Abschiedskuss für seine Frau, im Livestream verfolgen. Auch der improvisierte Schauprozess, der am nächsten Tag in einem schäbigen Moskauer Vorortrevier stattfand, ließ sich auf Twitter in Echtzeit verfolgen. Der Kremlkritiker und seine Mitstreiter spielten auf der digitalen Klaviatur, die er exzellent beherrscht. 

Doch nachdem das Gericht ihn zu dreißig Tagen Arrest verurteilte, ging Nawalnyj in die Offensive. Er bekräftigte er, dass er „keine Angst habe“ und rief seine Anhänger noch aus dem Gerichtssaal auf, auf die Straße zu gehen und zwar „nicht für mich, sondern für eure Zukunft“. Damit verlagerte er die Auseinandersetzung aus dem Cyberspace auf die Straßen und Plätze Russlands. In Nawalnyjs neuem Spiel geht es darum, die Bevölkerung wie in Belarus zu mobilisieren und den Protest in den öffentlichen Raum zu tragen. Das ist seit den color revolutions der 2000er Jahre, den Protesten von 2011 und dem Maidan der persönliche Alptraum Wladimir Putins. Wie ernst der Kreml diese Drohung nimmt, zeigte sich schon in der Nacht in Moskau: die Polizei sperrte den Roten Platz. Für den 23. Januar ist eine Kundgebung auf dem Puschkin-Platz im Zentrum geplant, wo sich bereits zu sowjetischen Zeiten die Dissidenten trafen.

Um zu zeigen, dass er es ernst meint, hat Nawalny heute im Internet noch nachgelegt. In einem aufwendig in Deutschland produzierten Video geht es dieses Mal nicht um die Lakaien des Präsidenten, sondern um Putin selbst. In einem epischen zwei-Stunden-Film zeichnet er die Karriere des Herrschers und seines Männernetzwerks nach https://navalny.com/p/6453/. Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein Palast, den er am Schwarzen Meer errichtet. 

In der politischen Kultur Russlands bedeutet dies, dass er Putin, den Herrscher, persönlich herausfordert. Nawalnyj will zeigen, dass er mittlerweile so mächtig ist, dass er das Establishment selbst aus dem Gefängnis vor sich hertreiben kann. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Alexei Nawalnyjs Rechnung aufgeht. Der Kreml hat die größeren Ressourcen, doch das Ansehen und die Legitimität der Herrschenden schwinden. Kann Alexei Nawalnyj Russland in ein weiteres Belarus verwandeln? Lässt sich die Bevölkerung mobilisieren? Wird er den Mythos Putin beschädigen? Noch sind diese Fragen offen, doch der Vorhang zu einem neuen Drama russischer Politik hat sich geöffnet. Es geht um nicht weniger als um Macht und Zukunft der beiden Protagonisten.