Die Jugend Irans begehrt gegen das Mullah-Regime auf, das seit über 40 Jahren das Volk schikaniert und einen Frieden im Nahen Osten verhindert. Doch die Unterstützung für den Widerstand ist in Europa sehr verhalten. Warum ist das so?

In den letzten Monaten musste ich öfter an Sophie Scholl denken. Vor allem an ihre Hinrichtung: wie die beiden Henker die gefesselte zierliche junge Frau ohne Mühen hochnahmen und unter das Fallbeil schoben, das sie wenige Sekunden später vom Leben zum Tode beförderte (in zwei Spielfilmen dokumentarisch genau wiedergegeben). Scholl gehörte zu den wenigen, die sich in Deutschland dem Nazi-Regime widersetzte. Ihr gehört zurecht unser Andenken. Aber warum erinnerte ich mich gerade jetzt an sie? 

GRÖSSENWAHN UND INFAMIE

Das hat mit dem Iran zu tun, mit den Bildern junger Menschen, die in aller Öffentlichkeit an Baukränen aufgehängt werden, hingerichtet von einem Regime, das glaubt – nein, es ist unmöglich und sträflich davon auszugehen, dass hier wirklich geglaubt  wird –, dass also behauptet, einen Gottesstaat errichten zu wollen, und dass jeder, der sich dieser mörderischen und despotischen Narretei widersetzt, verurteilt wird wegen „Aufruhrs (oder Kriegs) gegen Gott“ und ohne Gnade ermordet. Man muss sich das sogenannte „Vergehen“ deutlich machen: Es sei gegen Gott gerichtet. Ist aber Gott angegriffen worden? Hat Gott gegen die vermeintlichen Angreifer geklagt? Ist er zur Staatsmacht, der Islamischen Republik, gerannt und hat Beweise vorgelegt, wie er mit Kopftüchern oder Parolen von jungen Menschen attackiert wurde? 

Anscheinend nehmen die Mächtigen des iranischen Staates für sich in Anspruch, nicht nur für Gott zu sprechen oder sein Reich auf Erden schaffen zu wollen, sondern sich mit dem Allmächtigen sogar in eins zu setzen. Man kann dafür sehr viele beschreibende Begriffe finden – Größenwahn und Infamie sind mit Sicherheit dabei.

Doch obwohl dieses Vorgehen des iranischen Regimes, junge Widerständler gleich auf der Straße zu erschießen oder nach durch Folter erpressten Geständnissen von einem Schnellgericht, das nicht zufällig an den Volkgerichtshof des Obernazis Rudolf Freisler erinnert, zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, bleibt der Protest gegen die Mullahs und ihre Schergen im Westen, in Europa, in Deutschland sehr verhalten und gründet sich fast allein auf die Schar Exiliraner, die um ihre Verwandten im Iran bangen müssen, ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunden und die einfach die Nachrichten und Bilder aus der ehemaligen Heimat nicht ertragen können und wollen.

Aus der europäischen Politik hört man laue Protestnoten, ein paar Empörungstweets, Missbilligungsadressen, Appelle, mit dem Morden aufzuhören – eigentlich nicht mehr als das, was jeder mit einem Smartphone und entsprechenden Apps absetzen kann. Lahme Macht, kaum verhohlenes Desinteresse. Natürlich sind die Mittel zunächst beschränkt, das Regime in die Schranken zu weisen. Aber man versucht ja noch nicht mal die vorhandenen Mittel zu nutzen, wie zum Beispiel die Revolutionsgarden auf die Liste der Terrororganisationen zu setzen. Das ist besonders verwunderlich angesichts der Tatsache, dass der Iran seit vier Jahrzehnten ein überaus skrupelloser und aggressiver Akteur in eigener Sache ist. 

In Kürze: Er unterminiert den Libanon, stützt die mörderische Diktatur Baschar al-Assads in Syrien, befeuert den Bürgerkrieg im Jemen, unterbindet jeden politischen Fortschritt bei seinem Nachbarn Irak, verhängte eine Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, droht dem Satiremagazin Charlie Hebdo mit „Konsequenzen“ und Israel mit Auslöschung, baut an einer Atombombe, hat die islamischen Revolutionsgarden („Pasdaran“) zu einer quasi unabhängigen, schlagkräftigen, der SS ähnlichen Truppe aufgebaut, die die Revolution nach allen Möglichkeiten exportieren und jeden Protest im Inneren niederschlagen soll, und bekämpft entsprechend mit dieser alle Freiheitsbewegungen in der Region. Aber dabei bleibt es nicht. Das Magazin Katapult  hat einmal aufgelistet, wo die Pasdaran mit Morden, Anschlägen und anderen Aktionen aus dem bekannten Terror-Portfolio in den vergangenen Jahrzehnten aktiv waren: Man kommt auf über 180, häufig in Europa, auch gegen Oppositionelle im deutschen Exil. 

DIE ZURÜCKHALTUNG EUROPAS

Trotzdem tut man so, als würde uns, Europa, auch das nicht richtig etwas angehen. Einerseits liegt das sicher, wie so oft, an den Geschäften, die man noch machen will. Deutschland ist für den Iran nach Aussage der deutsch-iranischen Industrie- und Handelskammer beispielsweise immer noch der wichtigste Wirtschaftspartner in Europa. Da wundert es nicht, dass die deutschen Exporte in den Iran im letzten Jahr gestiegen sind (allerdings waren sie in der Vergangenheit auf höherem Niveau, für das sich – wir erinnern uns – eine Zeitlang die FDP in dubioser Weise sehr engagierte). Die politische Zurückhaltung in Europa dürfte aber vor allem mit den aktuell ruhenden Verhandlungen über das Atomprogramm Irans zusammenhängen: Die Europäische Union hofft – und ihr beredtes Schweigen in dieser Sache ist laut, sehr laut – auf Wiederaufnahme der Verhandlungen, um auf diesem Weg die iranische Urananreicherung zu stoppen und so den Bau einer Atomwaffe zu verhindern (Iran verfügt über Mittelstreckenraketen, die Atombomben bis in die EU tragen könnten, und andere für einen gerade mal minutenlangen Flug bis Israel). Aber schon durch diese Hoffnung wird die EU erpressbar. Die Zentrifugen zur Urananreicherung wirken wie Hypnosescheiben, die sich so schnell drehen, dass die EU wie erstarrt und handlungsunfähig wirkt gegenüber dem Regime in Teheran. Während Elon Musk mit seinen Starlink-Satelliten freie Internetzugänge für die iranische Opposition einrichtet, muss man den Eindruck gewinnen, der EU geht es mehr um ihren Ruf als „zivile Macht“ als um eine starke Position gegenüber einer Diktatur wie den Iran. Dabei wäre der Sturz des Regimes die größte Versicherung für einen Iran ohne die Bombe und eine echte Chance für Frieden im Nahen Osten. Gleichzeitig schaut man in der EU auch der Waffenbrüderschaft zwischen Russland und Iran fast regungslos zu, derweil diese ihre Demokratiefeindschaft mit Drohnen und Raketen zelebrieren. Es ist ein Grund mehr, der Ukraine jede benötigte Waffe zur Verfügung zu stellen. Doch auch damit tut sich die Bundesregierung ja bekanntlich schwer. Lieber finanziert sie durch das Auswärtige Amt in Deutschland den Thinktank CARPO, der dem iranischen Regime nahesteht und die deutsche Politik „beraten“ soll.

DER VERRAT DER PROGRESSIVEN

Doch blicken wir nicht nur auf die Politik. Geradezu schlagend auffällig ist das Schweigen des sogenannten „progressiven Lagers“, das sich doch eigentlich der Solidarität mit emanzipativen Bewegungen verschrieben hat. Nicht so bei Irans Opposition. Wieso? Warum nur? Sind es die jungen Menschen im Iran, die für ihre Freiheit kämpfen, nicht wert, dass man sie vorbehaltlos unterstützt? Da weigert sich im Iran eine junge Frau, Mahsa Amini, das vorgeschriebene Kopftuch zu tragen, wird von der Sittenpolizei wegen „unislamischer Bekleidung“ festgenommen und im Gewahrsam zu Tode geprügelt. Ein großer Teil der iranischen Jugend erhebt sich, die Frauen entledigen sich ostentativ ihrer Kopftücher, führen den Widerstand an. Hunderte sterben bei Protesten, werden in Gefängnissen gefoltert, etliche zum Tode verurteilt und manche gehenkt. Die Exil-Opposition protestiert wütend und verzweifelt. – Und die deutsche Linke schaut weg, so wie sie schon bei den früheren Aufständen der letzten Jahrzehnte weggeschaut hat und auch bei den Verurteilungen und Hinrichtungen von Homosexuellen im Iran. Und sie schweigt. Oder schreibt Artikel, in denen dem Westen eine kolonialistische Fixierung auf das Kopftuch vorgeworfen wird, wo es doch eigentlich ein emanzipatorisches Kleidungsstück sei, und außerdem wisse die Opposition im Iran und im Exil ohnehin nicht, was sie wolle, habe keinen Plan für die Zukunft, und irgendwie stecke doch die USA hinter allem.

Neu ist das alles nicht. Der Iran bekam gleich nach der Revolution und der Machtergreifung des Ayatollah Chomeini 1979 den Nimbus eines Vorkämpfers gegen den US-Imperialismus und den westlichen Kapitalismus. Der französische Philosoph und Halbgott der Poststrukturalisten, Michel Foucault, fuhr gleich zweimal in den Iran und feierte zuhause in Artikeln und Interviews die „erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme“, und irgendwo entdeckte er, von der Revolution ergriffen, auch sogleich eine politische Spiritualität in der Erhebung, ohne auch nur einen Gedanken auf den totalitären Charakter des kommenden islamischen Gottesstaates zu verwenden. Ein anderes Beispiel: Joschka Fischer, damals noch Straßenkämpfer und Autor im Frankfurter Pflasterstrand, pries die iranische Revolution als Aufstand gegen die westliche Lebensweise, den „konsumistischen Atheismus“, obwohl schon abzusehen war, dass die theokratische Bewegung Chomeinis die Macht rigoros übernehmen würde. Es hätte also wahrscheinlich nichts genutzt und ihre Einschätzung geändert, wenn sie Khomeinis Buch gelesen hätten, das er Anfang der siebziger Jahre verfasst hatte. In diesem beschrieb er seine Vorstellung eines Gottesstaates, der auf Allah, Koran und Scharia basieren sollte und den er zu realisieren gedachte. Aber für alle diejenigen, die vielleicht doch Bedenken hatten wegen der sehr entschlossenen Machtergreifung eines Geistlichen, pflegte dieser zur Beruhigung eine Zeitlang die Sprache der Demokratie, des Ausgleichs, der Kompromisse – bevor das Aufräumen, die Machtkonsolidierung und die Hinrichtungen von Gegnern begannen. Dessen ansichtig konstatierte Bundeskanzler Helmut Schmidt so trocken wie falsch, dass die Ayatollahs das Land auf Dauer trotzdem nicht regieren könnten.

Diese Mischung aus antiwestlicher Tradition, politischer Fehleinschätzung und Ignoranz setzt sich bis heute fort. Da nimmt es nicht wunder, dass man sich mehr darüber aufregt, wenn ein amerikanischer Präsident den Iran einen „Schurkenstaat“ nennt, als sich zu fragen, ob der Iran unter der klerikal-feudalistischen Herrschaft der Mullahs und Revolutionsgarden nicht genau das ist: ein Schurkenstaat. Die gleiche Empörung und Aufregung kocht hoch bei der Qualifizierung des Iran als (Islamo-)Faschismus. Dabei ist er weitgehend ein kaum verhüllter Führerstaat, dessen Macht auf Repression und Aufhebung demokratischer Prinzipien und Gewaltenteilung beruht und sich dabei des Islams als ideologischer Folie bedient. Der Iran ist  ein faschistischer Staat. Wenn man die richtige Politik gegen den Iran machen will, dann muss man ihn zunächst richtig bewerten. Es ist auch die weitverbreitete und völlig unkritische und zutiefst weltfremde Islamophilie der Linken, die das verhindert: Im Muslim – gleich ob Islamist, Ayatollah, Migrant oder einfacher Gläubiger – steckt für die Linke letztlich das diskriminierte, unterdrückte Objekt der kapitalistischen, imperialen, rassistischen Herrschaft des Westens. Wenn sie nur einmal so viel Energie in die Unterstützung der iranischen Opposition aufbringen würde wie für die Kritik an Israel – die Opposition wäre gleich doppelt so stark und halb so frustriert in ihrem Kampf gegen die Theokratie und für die Freiheit des iranischen Volkes. Aber insgeheim ist ihr die iranische Opposition einfach zu bürgerlich, zu freiheitsbetont. „Frau – Leben – Freiheit“ – unter diesem Slogan versammelt sich die iranische Jugend für ihren Kampf. Anscheinend sagt das den Linken einfach nichts. Sie merken noch nicht einmal, dass sie damit die sehr mutige Jugend Irans verraten. Aber das ließe sich ja ändern, wenn sie nur wollten.