Das Ramstein-Debakel
Statt eines Befreiungsschlages gab es in Ramstein ein weiteres Mal nur mehr vom Gleichen. Deutschlands Hinhaltetaktik in der Panzerfrage schwächt den Westen und lähmt die Ukraine, analysiert unser Gastautor Marcus Welsch.
Die griffigste Formulierung nach dem enttäuschenden Ramstein-Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe lieferte der Tagesspiegel. Die Bundesregierung, hieß es dort, erinnere in Fragen der Kooperation auf europäischer Ebene an das Auftreten der Türkei gegenüber Verbündeten. Zwar habe man in Ramstein den Bündnis-Konsens noch nicht gesprengt. Aber es bleibe eine Anmaßung, Militärhilfe, die viele Alliierte für richtig halten, zu blockieren, indem ihnen die Genehmigung zum Export ihrer Kampfpanzer aus deutscher Produktion in die Ukraine verweigert wird.
Auch die USA halten sich zwar noch bedeckt dazu, wie weit sie insbesondere bei der Lieferung von ballistischen Raketen gehen wollen. Aber der Ball liegt derzeit eindeutig bei der Bundesregierung. Die Signale, die man damit an Moskau sendet, könnten fataler nicht sein: Wir haben nicht nur die letzten Jahre bei Eurer Aufrüstung großzügig weggeschaut, sondern wir sind auch jetzt nicht gewillt, die Ukraine im Kampf entscheidend zu unterstützen. So wird Putin erst recht ermutigt, den Krieg fortzusetzen.
Ein Nebeneffekt dieses trotzigen Kurs von Bundeskanzler Scholz ist die zunehmende Spaltung der EU. Längst verselbstständigt sich der Eindruck, dass auf Deutschland in Sicherheitsfragen kein Verlass sei. Seit langem schon appellieren die am meisten von Russland bedrohten Ländern der EU an die Bundesregierung, ihre Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine zu überdenken. Dieser Ruf findet Gehör bei den wichtigsten Instituten, die der Bunderegierung mit Sachverstand zur Seite stehen. Stellvertretend hierfür steht die Sicherheitsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Claudia Major:
Ein weiterer Kollateralschaden der zögerlichen Haltung: Olaf Scholz droht zur wichtigsten Wahlkampfhilfe für die nationalistische PiS-Partei in Polen zu werden, wo im Herbst ein neuer Sejm gewählt wird. Seine unentschlossene Politik in der Frage der Ukraine-Hilfe fügt sich perfekt in die antideutsche PiS-Kampagne ein. Die oft wankelmütige Haltung Deutschlands gegenüber Russland wird in Polen einheitlich negativ wahrgenommen. Berlins Verzögerungstaktik bei wichtigen Waffenlieferungen für die Ukraine ist Wasser auf die Mühlen der polnischen Nationalisten.
Scholz‘ Verzögerungspolitik kommt vor allem Russland zugute
Zeit ist im Krieg ein bestimmender Faktor. Die logistischen Vorbereitungen für den effizienten Einsatz von Kampfpanzern in der Ukraine wären selbst bei besten Willen aller Seiten eine große Herausforderung. Wenn aber zutrifft, dass das Berliner Verteidigungsministerium erst jetzt damit beginnt, Inventarlisten der Leopard-2-Panzer anzulegen oder eine Lieferung zumindest seriöser zu prüfen, dann müssen Scholz und seine Regierung sich vorwerfen lassen, gegenüber der Ukraine und den europäischen Verbündeten bewusst und auf gefährliche Weise auf Zeit gespielt zu haben. In dieses Muster passen auch die diversen Wortmeldungen von SPD-Politikern, die aus einer Position ohne Regierungsverantwortung heraus ein falsches Bild der Kriegslogik verbreiten halfen. Hand in Hand ging dies mit der Rhetorik des Kanzlers, der gebetsmühlenartig betonte, nur ja alles „mit Bedacht“ tun zu wollen. In der Zwischenzeit eskalierte Russland seine Angriffe auf die ukrainische Zivilgesellschaft immer weiter. In dieser Lage muss verstören, wie viel Zeit man sich im Kanzleramt bei der Entscheidung zur Panzerlieferung lässt. Zumal mehrere Länder, die näher an Russland liegen, ihre Leopard 2 längst liefern wollen; auch hier sitzt Berlin die überfällige Entscheidung aus. Aus russischer Sicht geht das eigene Kalkül so allmählich auf: Der Westen agiert mehr und mehr uneins, sodass das es sich lohnt, den Krieg mit allen Mitteln in die Länge zu ziehen – er könnte sich schließlich später noch zu Russlands Gunsten wenden.
Konrad Muzyka, Chef von Rochan Consulting und militärischer Analyst mit umfassender Erfahrung zur Sicherheitspolitik in Europa, stößt ins gleiche Horn. Teile Westeuropas seien nicht klar darüber im Bilde, was die Ukraine alles braucht. Was jetzt versprochen werde, hätte schon vor einem halben Jahr geliefert werden müssen, erklärt er auf Anfrage. Dabei sei es ein Kernanliegen des „alten Europas“, Russlands Vormarsch in der Ukraine zurückzudrängen. „Wenn die Ukrainer die Russen nicht militärisch besiegen und der Krieg in einer Art politischer Lösung endet, die keine der beiden Seiten zufriedenstellt, ist die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nur eine Frage der Zeit.“
Die zähe Panzerdebatte lenkt von grundlegenden Fragen ab
Ein Rückblick zeigt, wie im Westen bereits jetzt wertvolle Zeit verspielt wurde. Spätestens im September hat die ukrainische Armee ihre Fähigkeiten unter Beweis gestellt und gezeigt, dass sie die teilweise desaströs aufgestellte russischen Armee mit großen Geländeverlusten zurück drängen kann. Das ist entscheidend. Bevor Putin nicht den Eindruck gewinnt, dass er Gefahr läuft, weitere Gebiete zu verlieren, wird es keine ernsthaften Verhandlungen zur Beendigung dieses Krieges geben: Das ist derzeitig der Konsens unter Militärexperten und den erfahreneren Analysten dieses Konflikts. Seit langem wird aus diesen Kreisen eine qualitativ höhere Ausstattung an Waffensysteme für die Ukraine gefordert.
Schon im September 2022 gab es Forderungen nach einer abgestimmten europäischen Leopard-Lieferung, verbunden mit dem Hinweis, dass mehr Verantwortung auf der europäischen Ebene auch die mittelfristige Planung betreffe. Gleichzeitig hieß es in besser informierten Kreisen in Berlin, dass die vernehmbaren Andeutungen des Kanzleramts, Ausfuhrgenehmigungen für den Leopard 2 zu verweigern, andere Regierungen davon abgeschreckt haben, offiziell anzufragen. Beweisen lässt sich das zwar nicht, aber wenn mit Christian Mölling der Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im deutschen Fernsehen offen davon spricht, das man in Washington genervt sei von der Hinhaltetaktik der Bundesregierung, dann spricht das für sich. Mölling wird sogar noch deutlicher: Er spricht aus, dass der Krieg sich mit einer anderen Politik der Bundesregierung verkürzen ließe.
Die Ergebnisse von Ramstein sind vor diesem Hintergrund ein Debakel. Den hohen Preis für Deutschlands Zögern zahlen Familien in der Ukraine, die ihre Angehörigen an der Front verlieren. Den SPD-Abgeordneten, die dem Kurs des Kanzlers Nibelungentreue geschworen haben, scheint das entweder nicht bewusst zu sein. Oder aber ihnen ist schlicht egal, was ihre Haltung für die Menschen „im Osten“ bedeutet – wie das ein polnischer Historiker im Nachgang einer Demonstration zur Ramstein-Konferenz vor dem Kanzleramt sarkastisch anmerkte.
In Deutschland fehlt ein klares Bild von der Kriegsführung
In Deutschland ist völlig aus dem Blick geraten, wie blutig der Krieg derzeit in den Orten um Bachmut wütet; wie sehr am Anschlag die dortigen Militärärzte arbeiten. Der zynische Ansatz der russischen Militärdoktrin, mit unzähligen Angriffswellen von schlecht ausgestatteten Rekruten die ukrainischen Stellungen zu zermürben, erinnert an den Ersten Weltkrieg. Auch die Intensität des Beschusses auf engstem Raum steht dem längst nicht mehr nach. Kriegsentscheidender Parameter bleiben deshalb das Artillerie-Feuer und dessen Kräfteverhältnis auf beiden Seiten. Die Panzerdebatte in Deutschland überdeckt deshalb zahlreiche andere aktuelle Probleme der ukrainischen Armee wie die wiederkehrende Munitionsknappheit und die Herausforderungen bei der Ausrüstung neuer Truppenteile.
So gesehen, lenkt die Panzerdebatte in Deutschland von den aktuellen Problemen der ukrainischen Armee ab. Sie haben immer wieder mit Munitionsknappheit zu kämpfen. Ganz zu schweigen von Ausrüstung für neue Truppenteile. Egal, wie viele Panzer am Ende an die Ukraine geliefert werden: Ohne Artillerie-Unterstützung wird die Lage sowohl in der Defensive als auch der Offensive schnell prekär werden.
Vielleicht hat man sich im deutschen Journalismus zu schnell vom sympathischen Bild des erfolgreichen ukrainischen Partisanenkampfs verführen lassen. Schon bei den ersten Befreiungsvorstößen der Ukrainer waren Artillerieeinheiten entscheidend für den Erfolg. Ohne eine quantitativ erhöhte Unterstützung der ukrainischen Artillerie werden Offensivvorstöße von Panzereinheiten sich schwierig gestalten, wie der Militärfachmann Tom Cooper anschaulich ausführt.
Man kann darüber streiten, ob die Besonnenheitsrhethorik des Kanzlers in breiten Teilen der Bevölkerung noch verfängt oder ob stattdessen mehr und mehr Menschen sein Nicht-Handeln als Verantwortungsverweigerung wahrnehmen. Ohne Qualitätssprung bei der militärischen Unterstützung und einer deutlich verbesserten Abstimmung auf europäischer Ebene wird der Krieg in der Ukraine nicht in einem für Europa vertretbaren Sinne zu beenden sein. Diese Unterstützung muss jetzt in Angriff genommen werden: Die Ukraine zählt darauf. Jetzt muss diese Realität nur noch im Regierungshandeln ankommen.
Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war in den letzten zehn Jahren Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gefahren und hat mit ihm dieses Jahr an der Auswahl seines Buches „Himmel über Charkiw“ zusammen gearbeitet. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in einem mehrteiligen Tagebuch.
Zum jüngsten Teil seines mehrteiligen „Tagebuches aus Deutschland“ geht es hier, Links zu weiteren Einträgen finden sich am Ende dieses Textes.