Auch mehr als ein Dreivierteljahr nach Kriegsbeginn sind in der deutschen Debatte weiter realitätsferne Stimmen zu hören, die Eskalation befürchten, wo keine möglich ist, und die einen Frieden fordern, der auf Kosten der Ukraine ginge. Unser Gastautor Marcus Welsch analysiert.

Sie sind wieder da, die deutschen Talkshow-Reflexe. Nach Beginn des Krieges gab es eine Phase, in der der Ungeist einer sehr deutschen Debattenkultur für kurze Zeit verflogen schien. Anstatt möglichst kontroverse Allgemeinplätze zu verbreiten, ergriffen in den Sendungen echte Sicherheitsexperten das Wort. Mittlerweile schlägt das Pendel aber wieder in die andere Richtung aus: Zu den größten Ärgernissen des vergangenen Jahres gehörte die reflexhaft immer wiederkehrende Äußerung, man müsse jetzt noch einmal darüber reden, ob nicht doch der Zeitpunkt gekommen sei, mit Putin über das Ende dieses Krieges zu verhandeln. Womit auch immer die Produktionsfirmen, die diese TV-Formate vorbereiten, sich so beschäftigen, die Umstände dieses Krieges waren es wohl eher weniger. Andernfalls würde nicht diese Pseudodebatte immer wieder aufgewärmt.

Verwundert reibt man sich die Augen, wenn in Fernsehrunden erst erklärt werden muss, dass die Ukraine die russischen Flughäfen bombardieren darf, von denen aus die Bomber starten, die ihre Infrastruktur in Schutt und Asche legen. Es scheint für die Anhänger eines alten Weltbildes schlicht zu viel verlangt zu sein, diesen Krieg so zu akzeptieren, wie er ist. Sätze wie „Ich bin kein Militär-Experte, aber…“ benutzte kürzlich auch der ehemalige Kulturstaatsminister der ersten Schröder-Regierung, Julian Nida-Rümelin, der bei Maybrit Illner suggerierte, der Westen habe womöglich wegen der Massaker in Butscha Ansätze von Friedensverhandlungen unterbunden. Nida-Rümelin ging dabei erkennbar davon aus, dass mit dem russischen Präsidenten wie mit einem vernüftigen Gegenüber verhandelt werden solle, weil auch Putin ja irgendwann einsehe, dass seine Kriegsziele nicht zu erreichen seien.

Putin will nicht ernsthaft verhandeln

Eigentlich müsste auch dem letzten „Briefeschreiber“ in den vergangenen Monaten klar geworden sein, dass Russland nicht bereit ist, von seinem elementaren Kriegsziel – der Zerstörung der Ukraine – auch nur einen Zoll abzurücken. Im Gegenteil: Putin schwört seine Landsleute noch erbitterter auf einen mittlerweile absehbar langen Krieg ein. Ultranationalistische Kriegsbefürworter bestimmen die Diskussion in Russland, und es gehört zur Strategie des Kremls, Wortführern wie Ramsan Kadyrow und den Finanziers der Wagner-Söldner-Gruppe unter Jewgeni Prigozhin weiter Einfluss zu gewähren.

Ergänzt wurde diese Fehleinschätzung in Illners Talkrunde vom neuen Vorsitzenden der Linken, Martin Schirdewan, der ein ganzes Feuerwerk an Gefahren durch Unterstützung der Ukraine einschließlich „Pulverfass“-Rhetorik und wilder Eskalationsszenarien abbrannte. Er verwies damit auch auf das zweite große Ärgernis dieses Jahres, in dem eine Rhetorik der „Eskalation“ etabliert wurde. Deren simpler Kern: Alles ist brandgefährlich und könnte Putin dazu reizen, den Krieg auszuweiten. Dabei ist Putin schon lange nicht mehr in der Lage, die Kampagne militärisch substanziell zu eskalieren. Die russische Armee operiert längst am Limit.

Warum in der deutschen Öffentlichkeit solche Verdrehungen der Kriegslogik nicht zuletzt auch von Fernsehmoderatoren konsequenter abgeräumt werden, wird noch all denjenigen lange vorzuhalten sein, die diese irreführende Rhethorik – ob mit Bezug auf das Nuklearwaffenarsenal Russlands oder im Zusammenhang der notwendigen Lieferung komplexerer Waffensystemen an die Ukraine – immer wieder bemüht haben.

Eskalationsrhetorik dient vor allem Russland

Diese verzerrte Darstellung der Realität kommt in einem entscheidenden Moment dieses Krieges. Nicht die Unterstützung der Ukraine durch den Westen verlängert nämlich diesen Krieg oder steigert die Gefahr für die Sicherheitslage in Europa. Es ist das Gegenteil der Fall: Nur dank der vermehrten Lieferungen westlicher Präzisionswaffen an die ukrainische Armee ist es gelungen, die russischen Nachschubwege zu stören und so Angriffe einzudämmen. Russland war in manchen Abschnitten zuletzt sogar gezwungen, sein schweres Gerät von der Frontlinien ins Hinterland zu verlagern. Die russische Arme hat zu viel ihres besten Kriegsgeräts wie Panzer, Infanterie-Kampffahrzeuge, Artillerie und selbst große Bestände der Luftwaffe verloren, als dass ihr noch größere raumgreifende Angriffe möglich wären. Worin dann noch die große Eskalationsgefahr liegt, bleibt das Geheimnis jener Mystifaktionsrhetoriker, die vor allem eines nicht tun wollen: Nämlich sich mit den Realtäten dieses Krieges ersthaft auseinanderzusetzen, anstatt ihrem eigenen pazifistischen Wunschdenken zu erliegen.

Darüber hinaus dürfen wir eines auch im Interesse unserer eigenen künftigen Sicherheit nicht ignorieren: Je mehr die russische Armee ihre Unfähigkeiten offenbart, umso berechenbarer wird sie im Kontext kommender Bedrohungsszenarien. In Großbritannien beispielweise hat man aus der fatalen Kriegsführung Russlands der ersten fünf Monaten längst Schlüsse für zukünftige Militärstrategien gezogen.

Verteidigungsministerium in Not

Was aber macht die Bundesregierung? Der Militärhistoriker Sönke Neitzel kritisiert vor kurzem, dass die sogenannte Zeitenwende „mit Karacho gegen die Wand“ gefahren werde. Während man in Europa und bei der NATO im Februar von der „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers noch beeindruckt war, überwiegt bei unseren Nachbarn mittlerweile wieder die Skepsis darüber, ob auf Deutschland in Sicherheitsfragen tatsächlich verlass ist. Ein „Munitionsgipfel“ im Kanzleramt demonstrierte öffentlich den Vertrauenentzug gegenüber dem Verteidigungsministerium, und das jüngste Debakel rund um den Schützenpanzer „Puma“ hat die Gräben vertieft. Die eigentlichen großen Aufgaben wie etwa eine Reform des trägen System innerhalb des Ministeriums werden so erst gar nicht angegangen. Wann aber sollte das geschehen, wenn nicht jetzt?

Vielleicht fehlt es schlicht weiter an der Einsicht der Notwendigkeit eines fundamentalen Wechsels in der Einstellung gegenüber Russland. Zwei der profiliertesten Kenner der internationalen Politik und Experten zur russischen Ukraine-Politik, Wilfried Jilge und Stefan Meister, haben jüngst in der Frankfurter Allgemeinen eine gute Übersicht dieser Selbsttäuschung unserer alten Russlandpolitik veröffentlicht.

Selbsttäuschung und Fehlannahmen statt Verantwortung

Es geht dabei um nicht weniger als fatale Fehlannahmen der letzten 30 Jahre. Diese Aufarbeitung ist wichtig, weil sonst die nötige Korrektur nicht gelingen kann. Was Jilge und Meister beschreiben, geht aber über die Kritik an einem überholten Weltbild hinaus: Sie fordern eine breiter gedachte Sicherheitsarchitektur, die auf einem belastbaren Verantwortungsbewusstsein ruht und damit eben auch Deutschland ein stärkeres Engagement abverlangt. Das sind die eigentlichen unangenehmen Fragestellungen, die den Polit-Talk auf allen Ebenen aufwerten würden. Eines müsste dafür endlich verinnlicht werden: Für jegliche Form der Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland, Verdrehung der realen Kriegslogiken und die tausendfach wiederholten, aber dennoch falschen Illusionen darf kein Platz mehr sein. Es geht jetzt um Verantwortung – nicht um Selbsttäuschung.


Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war in den letzten zehn Jahren Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gefahren und hat mit ihm dieses Jahr an der Auswahl seines Buches „Himmel über Charkiw“ zusammen gearbeitet. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in einem mehrteiligen Tagebuch.

Zum jüngsten Teil seines mehrteiligen „Tagebuches aus Deutschland“ geht es hier, Links zu weiteren Einträgen finden sich am Ende dieses Textes.

Das Titelbild dieses Beitrages stammt vom Kriegsfotografen Till Mayer. Sein Fotobuch
Ukraine – Europas Krieg ist im Oktober im Erich-Weiss-Verlag erschienen. Wir danken herzlich für seine freundliche Unterstützung. Weitere Informationen zur Person finden Sie unter www.tillmayer.de.