Der deutsche Rechtsstaat zeigt sein zähestes Gesicht, wenn es um Fragen des Asyls geht. Die Gerichtsreporterin Raquel Erdmann berichtet von einem ausgesprochen statischen Prozess.

Vor einigen Tagen machte die Geschichte einer georgischen Familie Schlagzeilen, die zu nächtlicher Stunde mit ihren sieben Kindern in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. Beide Eltern arbeiteten hier, der Familienvater in der Pflege, in der händeringend Personal gesucht wird. Fünf der sieben Kinder sind hier geboren, die älteste Tochter besuchte die fünfte Klasse eines Gymnasiums. In Deutschland sind die Kinder zuhause, Georgien ist ihnen fremd. Die Familie machte Fehler: Sie integrierte sich, hatte ordentliche Papiere, sorgte selbst für den Lebensunterhalt.

Und wird abgeschoben.

Seit vielen Jahren gibt es die fruchtlose Debatte darüber, ob wir die Falschen abschieben. Fruchtlos deshalb, weil es immer wieder um Menschen geht, die alles dafür tun, sich hier ein gutes und redliches Leben aufzubauen, froh darüber sind, in einem Rechtsstaat zu leben und sich an die Gesetze halten – und die wir wieder hinauswerfen. Erfolgreich hinauswerfen, denn diese Menschen machen keinen Krawall. Leider. Es sind nicht die, die sich einen Anwalt nehmen, der zwar unter vier Augen und oft auch vor Gericht klingt wie ein AfD-Redner, aber gut lebt von den Einsprüchen gegen die Abschiebung von Menschen, die er persönlich befürwortet.

Einzelfallentscheidungen Fehlanzeige

Bei den bornierten Behörden zählt „Schema F“, Herkunftsland: Kategorie A, B, C. Einordnen – fertig;

Integration, Gesetzestreue, Ausbildungsverhältnisse, eigenständiger Lebensunterhalt: nichts.

Auf allen Ebenen der Verwaltungen werden, so ist der Eindruck, stur und formal die Vorgänge abgespult, von „Einzelfallentscheidungen“, wie stets behauptet, ist nicht viel zu sehen.

Im derzeit laufenden Verfahren gegen den Bundeswehroffizier Franco A., der sich als syrischer Flüchtling ausgab und subsidiären Schutz bekam, schilderte ein Mitarbeiter des BamF u.a. eine skurrile Situation: Ein tatsächlich sich als Syrier ausweisender Mann bat ausdrücklich nicht um Asyl für sich, nur Frau und Kind habe er in Sicherheit bringen wollen, er selbst wolle sofort zurück nach Syrien, da er dort Direktor einer Bibliothek sei, um die er sich kümmern müsse. Er bekam wider Willen Asyl und ging zurück, oder, in den Worten des Vorsitzenden des Staatsschutzsenates im Verfahren gegen Franco A.: „Er floh vor dem deutschen Asyl“.

Es folgt: Eine kleine Geschichte aus dem Amtsgericht über eine erfolglose Abschiebung.

Flug QR0608

Noor kommt aus Pakistan.

Dahin soll er auch wieder zurück.

Er will aber nicht.

Weil er nicht will, hat er sich bei seiner Abschiebung widersetzt. Dieser „Widerstand“ bringt ihn vor Gericht. Dass er deshalb vor Gericht steht, ausschließlich deshalb, scheint ihm nicht klar zu sein. Oder einerlei. Wieder und wieder redet er über seinen Asylantrag, über die Sozialhilfe, die er nicht bekäme. Also kein Geld, nur Gutscheine vom Landratsamt. Wert „82 Euro ohne Genussmittel“. Den jungen, lässigen Dolmetscher für Urdu in weißem Hemd, Zopf und Turnschuhen ignoriert Noor meistens und klagt in Pidginenglisch der Kammer Leid und Leben. Der Dolmetscher, hier geboren – sein Vater kam als Student aus Pakistan hierher – wird von dem Vorsitzenden gefragt, ob er geprüft habe, dass Noor ihn versteht. Ja, habe er. Zu Verhandlungsbeginn muss er zunächst erst einmal vereidigt werden; religiös schwören, wahrheitsgemäß zu übersetzen, will er nicht, da er nicht religiös sei.

Noors Wechsel von Urdu in Pidgin und zurück folgt er ungerührt. Noor will einen Verteidiger beigeordnet bekommen, verkündet sein Verteidiger. Also einen Pflichtverteidiger. Wegen der Sozialhilfe. Der Antrag wird zurückgewiesen. „I need medical aid!!“, regt sich der kleine Noor auf. Dreißig Jahre ist er alt. „Sprechen Sie doch Urdu“, antwortet der Richter. Er unternimmt drei Anläufe, Noor zu seiner Widersetzung zu befragen. „Er hat gerade nochmal gefragt, ob er keinen Anwalt kriegt“, unterbricht der Verteidiger. Bezahlt kriegt, ist gemeint. Nein. „Erklären Sie ihm doch nochmal, dass es nicht um seinen Asylantrag geht, nicht um seine Sozialhilfe. Es geht hier ausschließlich darum, dass Sie Beamte angegriffen haben“, so der Richter in geduldiger Höflichkeit. „My country is dangerous for me! I don’t want to go back!“, ruft Noor. Er hat einen Stapel Papiere vor sich, grüne, rosa Blätter, Behördenunterlagen.

„He hit my leg!“

Die „Widerstandshandlung“ wird rekonstruiert. Mit Hilfe von Anwalt, Unterlagen und den Polizeibeamten, die zu dritt Noor nach Pakistan bringen sollten. Er hatte sich nämlich schon einmal erfolgreich widersetzt. In Dreierbegleitung sollte es nun gelingen, Noor in his country zu transportieren. Doch er trat, versuchte zu beißen, da, in der letzten Reihe im Flugzeug. „Fucking police! I have problems!“, schrie er dabei. Das verursachte den gewünschten Wirbel. Der Kapitän erschien persönlich und bedeutete den Beamten, „dass er auf Grund des Verhaltens ihn nicht befördern“ werde. Daraufhin „wurde die Maßnahme abgebrochen“, sagt einer der für die Begleitung vorgesehenen Beamten aus. Noor ging zurück in das Asylbewerberheim am Flughafen. Vorher noch zum Arzt, er behauptete, die Polizisten hätten ihn verletzt. Noor steht auf: „He hit my leg!“ Von einer Verletzung ist in der Uniklinik nichts zu sehen.

„Er war abschiebepflichtig. Die Entscheidung treff ja nicht ich oder meine Kollegen“, sagt einer der Beamten aus, als müsse er sich rechtfertigen. „I don’t bite nobody! I came to live life! I’m not criminal man. I want to live in Deutschland!“, klagt Noor lautstark dazwischen. Der Polizist seufzt. Er spielt Noors „Widerstandshandlung“ herunter. „Das Problem war, dass er laut geschrien hat. Die anderen Passagiere auf sich aufmerksam machte.“

Kein Pass, kein Asyl

Noor war via Trinidad und Tobago mit einem Transitvisum für den Schengenraum in Deutschland eingereist. Das Zweitagevisum hatte er sich auf dem Inselstaat geholt. Seine Ehefrau lebt da. Noor sagt, er sei unverheiratet. Seinen Pass habe er zerstört, bevor er hier seinen Asylantrag stellte.

„In seinem ersten Interview – die Ausländer sagen immer Interview – “, schiebt der Dolmetscher ein, hatte er angegeben, dass sein Leben in Pakistan gefährdet wäre. „My life is dangerous in my country!“, ruft Noor wieder aufstehend dazwischen. Sein Anwalt zieht ihn zurück auf den Stuhl. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Noor klagte gegen den Bescheid. Sein erster Anwalt bedeutete ihm gleich, dass das Zeitverschwendung sei. Noor bekam von der Behörde die Weisung, zum pakistanischen Konsulat zu gehen und sich selbst Reisedokumente zu besorgen. Innerhalb von sechs Wochen nach der Abweisung des Asylantrages sollte er ausreisen. Sich selbst abschieben, quasi. Was er natürlich nicht tat.

„Leben Sie wohl!“

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft sieht „den Vorwurf bestätigt“ und fordert eine Geldstrafe von sechzig Tagessätzen à fünf Euro wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und versuchter Körperverletzung. Noor hat das letzte Wort. „Er bittet um Hilfe. Er hat in Pakistan sehr große Probleme mit dem Leben“, übersetzt der Dolmetscher für Urdu Noors Englisch.

Die Kammer des Amtsgerichts, Abteilung 978, verwarnt Noor. „Die Geldstrafe bleibt vorbehalten.“ Sie folgt in der rechtlichen Einordnung der Staatsanwaltschaft. Noor habe sich „einer vollziehbaren Ausreise widersetzt. Wenn er sich nicht strafbar“ mache, erledige sich die Sache in einem Jahr, ansonsten wird die von dem Staatsanwalt geforderte Geldstrafe fällig. Die Noor ja aber sowieso nicht zahlen könne. „Es war mir wichtig, Ihnen ein Signal zu setzen, dass es nicht rechtmäßig war, sich dem Urteil unseres Rechtsstaates zu widersetzen. Es ist viel Bürokratie in dem Staat, aber der dient dazu, Ihre Rechte zu wahren. Leben Sie wohl!“

Der Name ist geändert.

Über die Autorin Raquel Erdtmann: Aufgewachsen in (Ost-)Berlin. Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Seit 2016 freie Autorin. Berichtet aus dem Gericht für die F.A.Z. (F.A.S.) Aktuelles Buch: »Und ich würde es wieder tun« Wahre Fälle vor Gericht (S. Fischer). Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.