Die arabische Straße führt durch Neukölln
Eine dritte Intifada? Die wird es so schnell nicht geben – zumindest nicht auf den Straßen von Nablus oder Hebron.
Nach 26 Jahren ununterbrochenem Aufenthalt war es diesen Sommer soweit: Die Entscheidung stand an, wo ich mein Studium fortsetzen würde. Sowohl aus Berlin, als auch aus Tel Aviv hatte ich eine Zusage bekommen. Nachdem der bürokratische Irrsinn bewältigt war, entschied ich mich letztendlich dafür in Berlin zu bleiben. Ich hatte mit meiner Freundin eine Wohnung bezogen und schnell Freunde gefunden. Außerdem liebte ich es, den ganzen Tag durch Neukölln zu spazieren. Als gebürtiger Wiener empfinde ich das als willkommene Abwechslung zum öden, alt-aristokratischen Wiener Gedöns.
Als ich mich jüngst für ein Referat über die erste Intifada vorbereiten musste, waren die aktuellen Proteste gegen die Anerkennung Jerusalems mit meinem Unikram zeitlich zusammengefallen. Während meiner Vorbereitung schlenderte ich mal wieder durch meinen Kiez und kam so auch an den üblichen, pro-palästinensischen Demonstrationen vorbei. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zählte in den letzten Tagen über 21 solcher Versammlungen in Berlin. Die Teilnehmerzahl lag hierbei am 08.12. bei ca. 1.200 Teilnehmenden. In Riad, Ankara oder Kairo blieben die Proteste bisher überschaubar. Großflächige Proteste gab es vor allem in Europa: In Stockholm, Paris oder Brüssel. In Israel hingegen waren es oft nur wenige Hunderte.
“Don’t make the mistake of assuming that Muslim-majority countries are in any real sense ‘pro-Muslim.’”, schrieb jüngst der Nahost-Kenner Shadi Hamid. Arabische Staaten hätten, so Hamid, über lange Zeit hinweg die palästinensische Sache benutzt: “(…) for rhetorical effect and to absorb or deflect popular anger over their own failures and missteps. But for Arab populations, Palestine still matters, even if primarily on a symbolic level.” Auch das jüngst veröffentlichte Statement der “Organisation für Islamische Zusammenarbeit” (OIC), welches sich als Sprachrohr der Muslime versteht, wirkte eher symbolisch. Aller unqualifizierten Wortmeldungen eines Erdogan zum Trotz ist es ein offenes Geheimnis, dass die Aufmerksamkeit der sunnitischen Autokratien – von Jordanien bis Saudi-Arabien – momentan anderen Schauplätzen gilt: Irak, Syrien, Jemen. Nach 8 Jahren Obama-Administration interessiert man sich mehr für die rasch voranschreitende Präsenz des Iran, als für die palästinensische Sache. Wo kein Wille, da auch kein Weg. Die Zeit der Intifada scheint vorerst vorüber, die “Arabische Straße” wirkt wie gelähmt. Im Exil lebt sie allerdings fort. Hamid hat Recht: Den arabischen Volkszorn kann man dieser Tage am Besten in Europa studieren. Nicht in Riad oder gar in Israel.
Middle Eastern Studies in Neukölln
Viele meiner Freunde lieben Tel Aviv. Tel Aviv ist bunt, sexy, hip und schwul. Pro-israelische PR-Agenturen sprechen gerne von einer “Insel des Erfolgs” oder wahlweise einer “Insel der Stabilität”. Ehud Barak nannte Israel einst eine “Villa im Dschungel”. Neukölln dagegen ist zwar ebenfalls hip – aber an vielen Ecken erschreckend zurückgeblieben. Wo Tel Aviv schwul und bunt ist, ist Neukölln hetero und grau. In Israel gibt es bewaffnete Männer und Frauen an der Front, in Neukölln verschleierte Frauen im Frauenblock. Zwar sieht man an beiden Orten schwarzhaarige Männer, die sich in der Öffentlichkeit Küsschen geben. In Tel Aviv auch mal auf den Mund, in Neukölln stets auf die Wange: Was ein Unterschied ums Ganze ist.
Die Sonderrolle Israels im Nahen Osten zeigt sich außerdem an ihrer einzigartigen Sicherheitsstrategie: Kriegsführung heißt in Israel seit 1950 fast immer nur eine Sicherung des Status Quo – durch militärische Abschreckung. Einen Angriffskrieg mit andersweitiger Zielsetzung gab es 1982 im Libanon – und die brachte prompt die Gründung der israelischen Friedensbewegung mit sich.
Nicht nur die israelischen Grenzgebiete, auch Neukölln ist “reich an Problemen”: Wenn ich meine Wohnung verlasse, begegnen mir nicht weniger als vier äußerst problematische Kulturvereine oder Moscheen, an deren Observation der Verfassungsschutz ein berechtigtes Interesse hat. Alleine in den letzten Tagen gab es mehrere Razzien gegen mutmaßliche islamistische Umtriebe. Tatsächlich gibt es in Israel islamistische Kräfte, die sogar mehrere Plätze in der Knesset belegen. Dafür hängen hier in Berlin Kunstinstallationen, die Mohammad Atta und die Attentäter vom Bataclan zu “Märtyrern” erklären. Und die dubiosen Kulturvereine sind nicht selten gern gesehene Kooperationspartner.
Die Mehrheit des muslimischen Neuköllner Exils betrachtet die “Organisation für Islamische Zusammenarbeit” oder das saudische Königshaus, die beide bisher lediglich symbolisch gegen die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt protestiert haben, mehr als nur argwöhnisch. Wie die Demonstrationen der letzten Tage unzweifelhaft gezeigt haben, hält man es hier eher mit der Hamas und der Hizbollah, welche glaubwürdiger im Kampf gegen Israel wirken, als die alteingesessenen korrupten Klüngel.
Flucht und Zuflucht in Israel
In Tel Aviv lernte ich stets israelische Juden, arabische Juden, deutsche Juden und russische Juden kennen. Viel seltener allerdings arabische Israelis, die oft sozial benachteiligt sind. Man muss nicht das schwachsinnige Gerade vom “Apartheidsstaat” bemühen, um sich einzugestehen: Soziale Segregation in Israel – auch in Tel Aviv – findet statt. Zwar gibt es auch erhebliche Immigration nach Israel. Gleichzeitig wandern immer größere Teile der Niedrigverdiener aus Israel aus oder sind gerade dabei. Der Grund: Keiner kann es sich mehr leisten. Zu hohe Mieten. Zu hohe Lebenserhaltungskosten. 2014 konnten sich 20% der israelische Staatsbürger nicht mehr von ihrem Einkommen ausreichend ernähren. Einige davon wohnen heute in Neukölln – wo es zumindest teilweise noch bezahlbaren Wohnraum gibt.
Hier diskutiert man unter Exil-Syrern über den Wiederaufbau eines vom Bürgerkrieg zerrütteten Landes, unter Türken über über die zunehmende Repression in der Heimat und mit Libanesen über den wahren Erfinder von Hummus. Offenes, jüdisches Leben existiert in Neukölln hingegen kaum noch. Damit ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Neukölln und dem Nahen Osten ersichtlich. Auch aus dem Irak, Yemen, Syrien, Libanon wurden mittlerweile fast alle Juden vertrieben.
Exceptional Status
Let’s face it: Tel Aviv ist eine Insel, die geographisch im Nahen Osten liegt, aber ansonsten wenig mit ihm zu tun hat. Während der Nahe Osten in den letzten 7 Jahren durch weitflächige, politische Eruptionen geprägt war, wird der israelische Ministerpräsident auch mit Beginn des neuen Jahres Benjamin Netanyahu heißen. Durch die erzwungene Flucht aus dem arabischen Raum – auch nach Deutschland – steht Neukölln heute als repräsentativer für die “arabische Straße” als so manche Stadt im Nahen Osten. Wo nicht Autokratie herrscht, herrscht Chaos: Weite Teile von Syrien, oder auch dem Libanon sind von miteinander konkurrierenden Milizen umkämpft. Neukölln bietet oft das Exil all jener, die es von dort rausgeschafft haben – und ihre politischen Ansichten nicht abgelegt haben.
Sollte es in den nächsten Wochen zum Ausbruch einer Intifada kommen, wird diese höchstwahrscheinlich nicht in Israel oder Palästina stattfinden. Eher noch in Europa. Vielleicht sogar in Neukölln.
Im Juli diesen Sommers verbrachte ich zwei Wochen an der Uni in Tel Aviv. Während ihres Vortrags meinte eine hochangesehene Professorin, dass sie – nach 3 Jahren Aufenthalt in Israel – nun endlich ihren langersehnten Umzug nach Brüssel antreten könne.
Ein neues Projekt warte auf sie. Sie schloss mit den Wörtern: “Finally I am going back to the real middle east.” Damals war ich stutzig. Seit ich Neuköllner bin, verstehe ich sie.