Das hat Corona geschafft: Es hat uns den Wert unseres normalen Lebens aufgezeigt. Normalität ist jetzt der „heißeste Scheiß“ unter der Sonne. Doch dahin zurück zu kommen, das wird nicht einfach werden. Notwendig ist es aber schon. Aus mehreren Gründen.

Eigentlich wollte ich dieses Jahr in die USA fliegen, vier Wochen reisen von Boston bis Key West. Nun wird daraus nichts mehr. Außerdem wollte ich eigentlich die neue Ring-Inszenierung in der Deutschen Oper sehen – aber es steht nun in den Sternen, wann sie rauskommt. Einmal die Woche gehe ich normalerweise zu meinem Lieblingsvietnamesen, eigentlich immer nach dem Kino. Ich gehe auch gerne in Bars und Jazz-Clubs, mag die intime Atmosphäre, die Drinks, die Musik. Eigentlich. Ich würde auch gerne mal wieder ein paar Freunde treffen, das ist doch ganz normal. 

Wir wollen eigentlich zurück zur Normalität, weil wir sie so schätzen. Eine Beschäftigung mit der Heideggerschen Eigentlichkeit, in der sich das Sein „lichtet“ und eine transzendente Wahrheit zum Vorschein kommt, muss uns nicht interessieren. Auch die aufgewärmten Utopien, die dargeboten werden wie Zaubertinkturen für alles und jeden und die Krankheit der Welt, können wir links liegen lassen. Aber unser historisch einmaliger Alltag, unsere eigentliche Wirklichkeit, sie ist uns nicht schnuppe. Weil wir uns daran gewöhnt haben. Weil sie so schön ist, so einmalig. Weil sie viele sinnvolle Güter hat, funktionierende Infrastrukturen, Bildung und schier nicht endende Möglichkeiten. Jeder einfache Arbeiter, Handwerker oder Angestellter lebt heute besser als ein König vor zweihundert Jahren: Er hat eine bessere Ernährung, eine bessere medizinische Versorgung, eine Vielzahl komfortabler Geräte und er kann in Windeseile, bequem und kostengünstig an fast jeden Punkt der Welt reisen. Eigentlich. 

Lassen Sie sich nicht von der Ambivalenz dieses Wortes verunsichern: eigentlich. Es drückt ein Bedauern aus, wenn wir einen Verlust anzeigen, und einen Anspruch, der den erstaunlichen Nachdruck einer Forderung entwickeln kann.

Natürlich blendet uns unser normales Dasein auch, macht uns vergessen, dass es auf Kosten zukünftiger Generationen geht. Das Reich der Optionen ist oft genug auch Illusion, aber es birgt eben auch die immerwährende Verheißung von Glück. Dagegen kommt kein calvinistischer Jargon an, der in Seminaren und Redaktionen im Akkord produziert wird. Wir Menschen – und das ist wirklich universell – haben Träume, Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen, Leidenschaften. Sie sind und waren immer größer als unser Dasein und meist im Bunde mit dem Offenen, das wir Entwicklung nennen und Freiheit (die aber tatsächlich sehr viele auf dieser Welt nicht haben und für die es auch ökologische Grenzen gibt).

Jedermanns Bucket List

Ohne sie in Medien herauszuposaunen oder zu inszenieren, führen wir trotzdem alle unentwegt eine innere Bucket List, die sich definitiv nicht in den eigenen vier Wänden realisieren lässt und die nicht auf dem Balkon endet. Selbst der vergemeinschaftete Garten, der Park, reicht nicht auf Dauer. All das ist immer noch zu eng, unsere Sehnsüchte gehen weit darüber hinaus, sie sind voller neuer Landschaften und Bekanntschaften, Bilder und Geschichten, Abenteuer und Aufbrüche – bevor sie im hohen Alter wieder in unserem individuellen Ithaka enden. Sie sind sehr, sehr attraktiv, weil sie jenseits der Zumutungen des Alltags das fortwährende Morgen und – weil sie  das Andere sind. Sie sind der imaginierte Kitzel auf der Haut, der höhere Puls beim Phantasieren und Planen, die lustige Heftzwecke unterm müden Hintern. Selbst das Gute kennt ein Besseres. Was funktioniert, könnte noch runder laufen. Nichts lässt die Seele mehr hungern als die Schönheit, die fehlt. Der Tag ist wohl bekannt, die Nacht möge aufregender sein, die kommende Woche, der Sommer. 

„Rien faire comme une bête“, schrieb Theodor W. Adorno im Jahre 1945 im sommerlichen Kalifornien, „auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle Bestimmung und Erfüllung‘, könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung einzumünden.“ Aber dieser Sommer der Kontemplation will erarbeitet sein, immer wieder, alle wollen ihn, für einen Moment, für drei, vier Wochen. Und danach werden wir uns etwas Neues ausdenken. Es gibt kein „Alles auf Anfang vor fünfzig Jahren!“ Nur ein „Alles auf Erneuerung!“ Und das mitten im Alltag. Die Aufklärung, die Wissenschaft, die Moderne waren immer der verlängerte starke Arm unserer Träume, Sehnsüchte, Leidenschaften. 

Es stimmt: Es ist nicht wichtig, ob man acht oder zwölf Paar Schuhe besitzt. Kaum jemand leidet im Moment darunter, dass er für sechs Wochen die neuen Kollektionen nicht unmittelbar sehen konnte. Aber das fehlende Offene, die Zukunft und die Weite, die selbst der eintönigste Alltag noch als Möglichkeit und Versprechen im Rucksack führt, das schnürt das Herz und knebelt die Kehle.    

Die Corona-DDR

Die Bundes- und Landesregierungen haben bisher richtig gehandelt. Sie haben die Kurve flach gehalten, die Fallzahlen gering – sie haben Schlimmeres verhindert. Aber zu dem Preis, eine Art Corona-DDR zu errichten: Die meisten Maschinen stehen still, und es findet kaum Wertschöpfung statt. Die Massenarbeitslosigkeit wird durch Kurzarbeitergeld überdeckt. Transfersummen zur Stützung aller möglichen Bereiche schweben durch den Raum, ohne dass die Finanzierung gesichert ist. Und dann sind da noch die Reisebeschränkungen. 

Je länger die Tage werden, desto größer wird gleichzeitig die Unruhe, wie man allerorten sehen und spüren kann. Der alte Alltag scheint mit dem Frühling im Bunde. Alles will raus und das Leben leben. Es wird immer schwerer für die Herrschenden den Beherrschten Selbstbeherrschung abzuverlangen. Das ist immer das besondere Kunststück der Demokratien gewesen: Freiheit, Ordnung, Sicherheit und Wohlstand zusammenzubringen. Eine herkulische Leistung. Um nicht weniger geht es auch jetzt in der nächsten Phase. Und deshalb wird die Maske zum Signum unserer Zeit werden, solange es keinen Impfstoff gibt. Die Maske ist der Mittelweg. Sie hält die Risiken klein. Auch wenn sie nicht die Lösung für alles sein kann.

Aber mit den Utopien, die jetzt überall von den Marktschreiern der Öffentlichkeit als einmalige Chance feilgeboten werden, sollten wir uns nicht lange abgeben. Sie wollen wieder zu viel, zu schnell, zu schlau, zu piefig. Das Problem mit den Utopien ist ihre Orthodoxie, ihre Erstarrung, ihre Zweifellosigkeit. Sie kennen ein Ziel, einen Weg und sind sich sicher, dass es keine Abzweigung geben kann, die in die falsche Richtung führt. Jetzt aber wollen die Menschen zunächst ihren Alltag wieder haben, ihre Arbeit, Momente zum Träumen und die Kraft zu Veränderungen. Sprich: Es muss eigentlich alles wieder so normal wie möglich werden, damit es besser werden kann.