Jedes Medium produziert seine eigenen Stars. Die interessantesten haben eine kleine, aber feste Fangemeinde. Sie lassen uns an etwas teilhaben, das man einen Lebensroman nennen könnte. Eine Twitter-Rezension.

Was ist diese Sache eigentlich, die sich Twitter nennt? Vor allem wohl ein Newsticker, der, je nach Zahl der Menschen, Institute und Agenturen, denen man selbst „folgt“, im Minuten- oder Sekundentakt etwas ausspuckt, das eine Information ist, eine Nachricht, ein Link oder eine Sentenz, die eine andere erwidert oder provozieren soll. Man wird in schnellen Schnitten konfrontiert mit allem, was das Leben zu bieten hat: Bürgerkriegstote und Katzen-GIFs, Empörung über geschmacklose Witze und die Formkrise eines Fußballers. Politiker nutzen gerne Twitter, und wie gut und erfolgreich dieses Medium für Attacken gegen Andersdenkende genutzt werden kann, hat der amtierende POTUS im Weißen Haus in der Vergangenheit bewiesen. Die Berühmtheiten der Unterhaltungsbranche haben natürlich auch ihren Account, mit denen sie den Neuigkeitshunger ihrer Millionen Fans stillen.

Jedes neue Medium produziert seine eigenen Stars, und das sind heutzutage vor allem sehr junge, aufgeweckte, hübsche Frauen, die die Kuss-Schnuten noch etwas aufreizender und voller hinkriegen als die ganzen Generationen von Teenagern in ihren besten Selfie-Momenten. Aber etwas mehr können sie natürlich schon, diese Vorbilder: Lena und Lisa, beispielsweise, die bei Musical.ly groß geworden sind (kann man das schon so sagen?), sind unerschrockene Playback-Performer. Pamela Reif hält mit ihrem überdefinierten Body auf Instagram die Gemeinde bei Laune. Und Bibi zeigt auf Youtube mit solch einer Verve ihre Schminktipps, dass man sofort zur Feuchtigkeitscreme greifen möchte. Natürlich sind sie als gute Promoter auch auf den jeweils anderen Kanälen präsent und wirkmächtig: eigene Kollektionen und Webshops folgen, der Erfolg gebiert unentwegt Klamotten und Kosmetik, aber natürlich auch einen Stil, der der meist stillosen Welt etwas entgegensetzt.

EIN FLUSS DER ERZÄHLUNGEN

Twitter ist dagegen so ein Erwachsenen-Ding, und vielleicht liegt darin auch der Grund, warum die Wachstumsprognose des Mediums mehr als bescheiden ist. Aber gerade bei Twitter findet man, wenn man Glück hat und mit dem Kescher seiner Aufmerksamkeit am nie abreißenden Fluss der Tweets sitzt und bereit ist zu sehen und zu lesen, auch veritable Geschichtenerzähler, die ihre hart erarbeitete Fangemeinde von vielleicht acht bis zwölf Tausend Followern haben (das ist eine Zahl, die die meisten Belletristik-Autoren in Verzückung versetzen würde). Sie sind schon lange dabei, seit Jahren, Pioniere der ersten Stunde teilweise, die ihre ganz eigenen Themen und einen ebenso eigenen Sound gefunden haben. Das geht natürlich nicht, ohne permanent an den eigenen Motiven zu arbeiten, dem unverwechselbaren Stoff, der dem Nutzer nützt und der ihn erfreut, so dass er immer wieder nachschauen will im Twitterticker wie in früheren Zeiten der Verliebte am Briefkasten, ob denn nicht die Postkarte da ist mit den herzerquickenden Zeilen.

Eine dieser Geschichtenerzähler ist Anne Hufnagl, alias #Twelectra. Dieser Account-Name ist eigentlich unpassend, denn von Blut und Rache, wie bei der Elektra der griechischen Antike, die mit ihrem Bruder Orest die Mutter und deren Geliebten meuchelte, ist nie die Rede, ebenso wenig passt wohl die Auftragskillerin Elektra aus den Daredevil-Comics zu der Fotografin aus Hamburg. Aber er signalisiert natürlich weibliches Selbstbewusstsein. Und selbstbewusst ist auch Twitter-Electras Umgang mit dem Medium. Sie ist sich ihrer Mittel, aber auch der Verpflichtung, die sie eingegangen ist, als sie den Faden zu spinnen begann, bewusst und sendet täglich ein, zwei Dutzend Tweets beharrlich und mit einer stupenden Disziplin an die Leserschaft hinaus. Hinzu kommen diverse Retweets, dieses Einspeisen fremder DNA in den eigenen Text-Körper; doch nimmt es nicht wunder, dass darunter meist Tweets sind, die die Vorliebe Twelectras für Science-Fiction, romantische Fotos und schräge, manchmal surreale Notizen teilen.

Dies alles ist grundiert von Sehnsucht und Selbstironie, wobei das erstere undeutlich bleibt, wie meist bei romantisch veranlagten Menschen, und das letztere sehr pointiert eingesetzt wird – zu aller Vorteil: „Sitze im rosa Bademantel mit schwarzer Hornbrille gebeugt vorm Rechner. Wahrscheinlich zeichnet mich irgendwer gerade in einem Comic.“ Wir schauen in ihr offenes Tagebuch und dürfen teilhaben an ihrem Lebensroman. Aber nie wird es peinlich, nie lässt sie uns zu nah herankommen. Wenn es gut ist, wie bei Twelectra, dann ist es unterhaltsam und mit der richtigen Menge an Kitzelmomenten und Geheimnissen versehen, die unsere Neugier braucht, um dabei zu bleiben.

FOTOS UND SPINOFFS

Gelegentlich fragt man sich: Was macht sie, wenn sie nicht tweetet? Und all die anderen Kanäle bearbeitet: Facebook, Instagram, Pinterest etc.? Bleibt da noch etwas übrig an Zeit außerhalb der Timeline, dem Storytelling? Aber dem Konsumenten sind die Produktionsbedingungen dann letztlich doch egal, und er freut sich lieber an der besonderen Spezialität der Autorin: ihren flotten Assoziationen, diesen Spinnoffs der Gedanken, die sich zu lakonischen privaten Aphorismen verdichten und an guten Tagen gleich reihenweise jedes erfahrene Kalenderblatt links liegen lassen.

Kostproben? Hier: „Die Leute werden jetzt so alt, dass es für drei Midlife-Krisen reicht.“ „Man muss manchmal vielleicht gar nicht mehr machen, als weiße Tulpen angucken.“ „Solange ich noch mehr Ideen habe als Zeit, ist alles in Ordnung.“ „Meine Terrasse ist ein bisschen verwildert, das hat sie von mir.“

Einbezogen in die Textsendungen ist auch ein lebendiger Hamster, eine Mischung aus Totemtier und Alter Ego, mit dem sie skurrile Dialoge führt, weil sich ein gewisser Grad von Einsamkeitsgefühlen nicht verheimlichen, so doch überspielen lässt.

Und dann gibt es da noch ihre Fotos. Ohnehin ist Twitter ja nicht nur das Politdramamedium, wie es manchmal grell scheint, sondern auch eine Art großes Fotoalbum, durch das wir auf die Welt da draußen gucken dürfen. So geht es einem auch mit Twelectras Bildern, die auf der Arbeit anfallen, Fotos von glücklichen Menschen in jenen romantischen Inszenierungen, die man Hochzeiten nennt. So ist ihr fortschreitendes Album natürlich auch ein Werbeprospekt; trotzdem schaut man sich die Fotos gerne an, wie auch jene, die bei anderen Gelegenheiten entstehen. Doch allen Fotos fehlt auffällig das, was Roland Barthes ein „punctum“ nannte, jenes Zufällige, das einen besticht als der „springende Punkt der Wirkung“. Bemerkenswert, dass sie in ihrer Profession abfällt gegen ihre Passion: Vielleicht hängt es mit dem Verhältnis von der geübten Inszenierung eines Bildes und dem freien Spiel der Gedanken zusammen. Ähnliches hat es in der Kulturgeschichte ja schon öfter gegeben.

Twelectra ist eine wirklich gute Autorin. Man lernt schnell ihren Witz mögen, ihre Selbstzweifel, ihren Stolz und ihre Formulierungskunst. Eigentlich unterscheidet sich ihr Fortschreiben im Netz nicht von einem Knausgard-Roman: Im Erzählen verbinden sich Selbsterkenntnis mit Selbsterfindung. Oder wie sie es in gebotener Kürze selber schrieb: „Ich habe mich über Twitter kennengelernt.“