Die Revolte in Frankreich scheint auch nach den Zugeständnissen der Regierung nicht abzuflauen. Derweil versuchen deutsche Beobachter, sie zu deuten – ist sie links oder rechts oder beides? Und ist sie relevant für uns? Versuch einer Einordnung.

Die französischen Straßenproteste gehen in die sechste Woche und haben inzwischen ihre Unschuld verloren. Auf dem Trittbrett des gelb behängten Revolutionszuges fahren Querfrontler und Putinisten, Facebook-Trolle und schlichte „casseurs“: Schläger und Plünderer. Aber auch vorher unbescholtene, unpolitische Arbeiter mittleren Alters greifen zur Gewalt und begründen das mit lang angestauter Wut sowie der Tatsache, dass Regierungen die stille Botschaft fast nie, die gewalttätige aber um so aufmerksamer anhören.

Deutsche Deutungsversuche

In Deutschland hat man die Bewegung der Gelbwesten lange so wahrgenommen, wie man Streiks und Sozialproteste in Ländern, die man nur zum Urlaubmachen betritt, eben abtut: als die spezielle Folklore südlicher Breiten mit höherer sozialer Betriebstemperatur.

Doch inzwischen dämmert den Deutschen, dass sie der Wutfranzose doch mehr angehen könnte als gedacht. Und wie nicht anders zu erwarten, ordnen sich die Reaktionen und Interpretationen längs unserer politischen Feldlinien an wie Eisenspäne, wenn man einen Elektromagneten einschaltet.

Die AfD begrüßt die Revolte gegen das „Elitensystem“, als wäre sie von einer G20-Amnesie befallen; damals in Hamburg las man dieselben Bilder als Untergang des Abendlandes. Die Linkspartei bejubelt den Volksaufstand – wahrscheinlich, weil sie weder das Volk hinter sich hat, noch mit dem eigenen „Aufstehen!“ so richtig reüssiert. Das grün-liberale Milieu wiederum versucht sich, angeführt von der taz, in der Einordnung der Bewegung und kommt zu dem Schlusse, sie sei eher rechts; das sagten die Umfragen, Dany Cohn-Bendit und andere Kämpen der französischen Ökobewegung.

Aber darüber hinaus bieten die linksliberalen Netzwerke auch ein geschichtsphilosophisches Deutungsmuster an. Ihm zufolge revoltieren hier die Fußgänger gegen den Weltgeist zu Pferde, genauer: zu Elektroauto. Denn, so das Interpretament, in Frankreich stemmen sich Diesel-Fahrer, Provinz-Malocher und Kleinbürger von Gestern gegen den Lauf einer neuen Ordnung, die weder Ochs, noch Esel, noch gallischer Hahn aufhalten wird, und die der Reformer Macron den Franzosen beizubiegen versucht. Daher zeiht man den französischen Präsidenten, der in Reaktion auf die Ereigisse nun die Ökosteuer auf Eis legt und den Mindestlohn anhebt, der Schlappschwänzigkeit.

Wer sich zwischen Green Growth, Smart Economy und vorgeblich intelligenten Energie-Landschaften nicht mehr zurechtfindet, weil er keine Arbeit mehr findet, der muss, sorry, auf den Müllhaufen der Geschichte. Gleichzeitig ist man der Meinung, man sei in Deutschland viel weiter als in Frankreich: Zwischen Vollbeschäftigung, Schwarzer Null und Erneuerbare-Energien-Gesetz sieht man sich auf der Siegerstraße. Ausnahmen und Rückständige bestätigen die Regel. Und so zieht man eine direkte Linie vom blockierten französischen Treibstofflager zum AfD-wählenden Braunkohle-Sachsen.

Zwischen Schein und Sein

Es gibt gut begründeten Anlass zu der Annahme, dass diese Deutung falsch ist, und dass wir keinesfalls weiter sind als unsere französischen Nachbarn. Was garantiert bei uns den Zusammenhalt, wenn die Wirtschaft abschmiert und die fetten Jahre vorbei sein werden? Unsere vorbildliche Klimapolitik? Unsere ökologische Reform? Deren Resultate sehen im Vergleich zu den französischen gar nicht so gut aus. Wer dies anzweifelt, sollte in der täglichen Statistik den CO2-Ausstoß und den Strompreis von Atom-Frankreich und Wind-Deutschland vergleichen. An dieser Front ist Frankreich uns trotz aller Strukturprobleme weit voraus; Macron hat seine Ökosteuer-Offensive daher vermutlich nicht dem Klima, sondern dem Staatssäckel zuliebe gestartet.

Häufig lag in diesen Tagen der Revolutionsvergleich in der Luft: Macron, das sei der Ludwig XVI. des 21. Jahrhunderts, der nun vom Thron gefegt werde. Mir scheint jedoch ein anderer historischer Vergleich aus der Revolutionsgeschichte viel näher zu liegen: Macron und die Gilets Jaunes, das ist die republikanische Regierung in Paris im Konflikt mit der aufständischen Vendée. Die Peripherie revoltiert, weil die sozialen Hoffnungen, die man in die Revolution gesetzt hat, enttäuscht wurden. Man widersetzt sich einer von oben auferlegten Umwälzung, weil man glaubt, von ihr nicht profitieren zu können. Und man setzt dem Protest Leitbilder voran: damals König und Glaube. Heute repräsentative Demokratie und Kaufkraft.

Doch ist es notwendigerweise rechts, darauf zu beharren? Ist das „tiefe“ Frankreich im Unrecht, jener Teil des Landes, an dem die Ressourcenströme der Globalisierung vorbeilaufen, ohne in den Städtchen und Dörfern wertvolles Sediment zu hinterlassen?

Die Welt des Prekariats

Ich will ein Beispiel nennen. Zu Forschungszwecken muss ich manchmal in Kernkraftwerken arbeiten. Meine Strahlenschutzdatei wird von einer Servicefirma geführt, die Leih- und Vertragsarbeiter an die Atomindustrie vermittelt. Bei jeder Revision sehe ich meine temporären Kollegen wieder: Ältere, erschöpfte Atomarbeiter, die von Anlage zu Anlage, von Revision zu Revision wandern. In den guten alten Zeiten vor der Strommarkt-Liberalisierung hatten diese Leute feste Anstellungen in den Kraftwerken; jetzt sind sie Teil des Prekariats.

In der französischen Atomwirtschaft ist das ein Massenphänomen. Auch die Grünen haben hierzulande schon häufig auf die „Nuklearnomaden“ hingewiesen, wenn sie auf die Verwerflichkeit der Kernkraft als solcher hinauswollten. Im Gegensatz zu Deutschland erheben allerdings die Nuklearnomaden in Frankreich ihre Stimme; und sie führen nicht nur harte Arbeitskämpfe inklusive der Bestreikung von Kraftwerken, sie sind auch bei den Gelbwesten-Protesten dabei. Auf der Webseite einer ihrer Organisationen prangt seit einiger Zeit eine gelbe Warnweste mit der Aufschrift „Fâché ePasFacho“ – „Aufgebracht, aber kein Fascho“.

Dieses Prekariat, das tagtäglich mit Lohndumping und Verwässerung von Sicherheitsstandards kämpft, fährt im Auto mit angehängtem Wohnwagen oder im Caravan von Baustelle zu Baustelle. Kreuz und quer durch die französische Nuklear-Provinz, von der Normandie an die Rhône, von Lothringen zum Atlantik. Für diese Leute ist ein steigender Dieselpreis ein Schlag ins ohnehin magere Budget. Sie können die Mehrkosten nicht durch Nichtfahren kompensieren, und sie können auch nicht im Hochgeschwindigkeitszug zur Arbeit fahren. Folglich sind sie in Wut, und in Gelb auf der Straße.

Heute melden sie sich gegen Ökosteuer und Billiglohn zu Wort, morgen vielleicht schon gegen die Schließung von Kernkraftwerken. Sie fürchten die deutsche Krankheit. Anders als unsere Grünen meinen sie nicht, dass nur ein totes Kernkraftwerk ein gutes sei – sie wollen ein sicheres. Und anders als man angesichts ihrer Situation vermuten würde, hängen auch die Kontraktarbeiter an ihren Arbeitsplätzen.

Sozialrevolte hierzulande – undenkbar?

Dieses Lebensgefühl scheint Welten entfernt von dem der (noch) wohlsituierten deutschen Autobauer, oder dem des „Wir-nennen-es-Arbeit“-Laptop-Prekariats unserer Metropolen, dem neben dem gut situierten Öko-Bürgertum wahrscheinlich größten Wählerreservoir der Grünen. Es ist schon näher an dem der Hartz-Aufstocker, der Zeitarbeiter, und jener Familien, denen ein Strompreis von rund 30 Cent pro Kilowattstunde, Tendenz steigend, langsam nicht nur das Licht, sondern auch die Luft abdreht.

Den deutschen Autowerkern, dem deutschen Startup-Prekariat dürfte noch bevorstehen, was die französischen und zunehmend auch die deutschen Leiharbeiter schon heute erfahren: die elementare Angsterfahrung des Übergangen- und Vergessenwerdens in Zeiten sogenannter Reformen. Die deutschen Kernkraftwerker haben diese Erfahrung bereits hinter sich – ihnen folgen gerade die Braunkohle-Kumpel.

Wie die Gelbwesten, so werden sich auch unsere Protestler ab einem bestimmten Kippunkt spontan und rhizomartig organisieren; wie diese, werden auch sie gespalten, missverstanden und missbraucht werden. Wie im Falle der Gelbwesten wird ihr Protest erst gehört werden, wenn er die Grenzen des friedlichen Protests überschreitet. Die französische Wut war nur der Anfang, und es ist nicht auszuschließen, dass Steuerlast, Energiearmut und Abwicklung ganzer Industrien auch dem schönen neuen Ökodeutschland irgendwann um die Ohren fliegen.