Ein Interview mit der Politikwissenschaftlerin Rachel Bitecofer, die seit 2018 jede Wahl in Amerika korrekt vorhergesagt hat

Hannes Stein: Ich habe mich gerade eine Woche in Hamburg herumgetrieben. Eigentlich jeder, den ich traf, ging davon aus, dass Trump die Wahl im November gewinnt. Was hätte ich den Leuten Ihrer Meinung nach sagen sollen?
Rachel Bitecofer: Ich hätte die Leute gefragt, ob sie wissen, was das bedeutet. Ist Ihnen bewusst, dass Trumps Sieg den Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie bedeuten würde? 

Stein: Ja, das wissen sie sehr wohl.
Bitecofer: Ich verstehe, warum es den Eindruck gibt, dass Trump gewinnen wird. Ich würde den Deutschen also erklären, dass es in dieser Wahl letztlich auf sieben “swing states” ankommen wird. Und dass trotz der Schwächen von Joe Biden, über die alle ständig sprechen, auch Trump massive Schwächen hat. Seine Wählerschaft ist gespalten — es gibt Nikki Haley als republikanische Gegenkandidatin, es gibt die Never Trumpers, also Republikaner, die  für die Demokraten stimmen werden. Alle, die davon reden, dass Joe Biden nicht wieder antreten sollte, verstehen nicht, dass das bedeuten würde, einen bedeutenden strukturellen Vorteil zu opfern: den Amtsbonus. Es ist sehr selten, dass ein amtierender Präsident die Wahl verliert — in jüngster Zeit ist dieses Kunststück nur Donald Trump gelungen. Da Joe Biden sich keinen Vorwahlen stellen musste, konnte er 140 Millionen Dollar für den Wahlkampf sammeln. Das Democratic National Committee, das nationale Organisationsgremium der Demokratischen Partei, ist gut organisiert, es gibt kaum Spaltungen.

Stein: Viele Deutsche glauben aber, dass Joe Biden senil ist und es wegen seines fortgeschrittenen Alters nicht schaffen wird. Was sagen Sie dazu?
Bitecofer: Ja, Biden ist alt. Er war schon 2020 alt, schon damals war das ein großer Nachteil. Die Trump-Leute haben das immer verstanden, und sie haben Videos verwendet — manipulierte Videos —, um diesen Eindruck in die Köpfe zu hämmern. Sie müssen verstehen, dass das eine finanzierte Kampagne ist. Biden soll unfähig aussehen. Dass diese Kampagne funktioniert, sieht man daran: Wer diese beiden Männer, also Trump und Biden, dabei beobachtet, wie sie ihren jeweiligen Job tun, dem wird sofort klar, dass nur einer von ihnen bedeutende psychologische Probleme hat. Und das ist Joe Biden, nicht wahr? (lacht) Der Eindruck ist entstanden, dass Biden Probleme hat, Trump hingegen nicht. Das ist aber natürlich das Gegenteil dessen, was eine objektive Untersuchung ergeben würde. Und das heißt: Jemand hat eine sehr erfolgreiche Kampagne gefahren. Darum ist ganz wesentlich, dass die Biden-Leute anfangen, über Trumps Geisteszustand zu sprechen. Denn all das, worüber sich die Leute bei Biden lustig machen, passiert bei ihm täglich: Er vergisst Namen, er vergisst, wo er ist und sogar, wer er ist. 

Stein: Sie haben jede Wahl seit 2018 korrekt vorhergesagt: Sie wussten vorher, dass die Demokraten 2018 die Zwischenwahlen wolkenkratzerhoch gewinnen würden. Dass die Demokraten das Weiße Haus zurückgewinnen würden, war Ihnen klar, als es noch nicht einmal einen demokratischen Kandidaten gab. Sie wussten, dass die Republikaner 2021 die Gouverneurswahl in Virginia gewinnen würden, und Sie prophezeiten korrekt, dass es bei den Zwischenwahlen 2022 keine “rote Welle” geben würde, die Republikaner also keine großen Gewinne machen würden. Beinahe alle Demoskopen behaupteten damals das Gegenteil. Was ist Ihr Geheimnis? Zeitmaschine?
Bitecofer: Ich bin eine ausgebildete politische Wissenschaftlerin und habe meine Doktorarbeit über das Verhalten von Wählerinnen und Wählern aus psychologischer Sicht geschrieben. Ich verstehe also, wie Wahlen funktionieren — nicht aufgrund von Beobachtungen oder Anekdoten, sondern strukturell, aufgrund von quantitativen Analysen. Dieses Wissen habe ich ins Rampenlicht gestellt. 

Stein: Können Sie mir ein Beispiel geben, wie das konkret funktioniert?
Bitecofer: Struktur diktiert menschliches Verhalten. Wenn wir in einer Welt ohne Mauern leben würden, gäbe es nur fundamentale Bedürfnisse: Wir müssen essen, schlafen, brauchen es warm. Aber in dem Moment, in dem eine Struktur eingeführt wird — eine bestimmte Art Landschaft, eine bestimmte Art Wetter —, wird diese Struktur den Umfang der Antworten auf die fundamentalen Bedürfnisse diktieren. Die wichtigste Struktur, die in Amerika das Wahlverhalten determiniert, ist der Akt des Wählers selbst. Gibt es in Deutschland eigentlich eine Wahlpflicht?

Stein: Nein, aber bei einer Wahlbeteiligung von fünfzig Prozent, wie sie in den Vereinigten Staaten als normal gilt, würde man in Deutschland von einer akuten Krise der Demokratie sprechen.
Bitecofer: Bei Ihnen ist die Struktur also so beschaffen, dass Ihnen das Wählen leicht gemacht wird. Hier in Amerika stimmt das Gegenteil: Sie müssen sich registrieren, und wenn Sie den Termin verpassen, dürfen Sie nicht wählen. In den “swing states” müssen Sie das System der Wahlleute verstehen, Sie müssen verstehen, was die Aufstellung einer dritten Partei bedeutet und so weiter. Wir werden 2024 also sehen, dass in Bundesstaaten wie Colorado, Oregon und Minnesota die Wahlbeteiligung sehr hoch ist; in Texas dagegen wird sie sehr niedrig sein, weil es dort institutionell schwieriger ist zu wählen.

Stein: Können Sie kurz erklären, was “negative Parteilichkeit” bedeutet und wie sie das Wahlverhalten der Amerikaner beeinflusst?
Bitecofer: Die Wählerschaft der Neunziger und der Nullerjahre existiert heute nicht mehr; wir sind in Amerika so gespalten wie in der Zeit des Bürgerkrieges. Das ist kein Klischee, das ist objektiv messbar. Wegen dieses politischen Tribalismus werden die Amerikaner heute viel mehr davon angetrieben, dass sie die andere Partei hassen, als davon, dass sie ihre eigene politische Partei lieben.

Stein: Sie haben nun ein sehr lustiges Buch geschrieben, in dem Sie erklären, wie die Demokraten die negative Parteilichkeit nutzen können, um Wahlen zu gewinnen. Ihr Buch trägt den deutlichen Titel: “Hit ´Em Where It Hurts”: Haut sie dort, wo es wehtut. Was steht in Ihrem Buch drin?
Bitecofer: Vor allem wollte ich die Demokraten mit der Realität der amerikanischen Öffentlichkeit konfrontieren. Sie haben mir am Anfang erzählt, dass alle Deutschen damit rechnen, dass Trump gewinnt und Amerika faschistisch wird. Hier redet kein Mensch darüber. Mit zwei Ausnahmen: Washington und New York — dort sprechen die Leute ständig über die Krise der Demokratie. Aber sonst ist sie kein Thema. Warum? Weil niemand sich dafür interessiert. Niemand schaut Nachrichten, niemand verfolgt, was gerade passiert. Wir haben eine sehr schwache politische Kultur. Bei den Präsidentschaftswahlen 2024 haben sechzig Prozent der Amerikaner gewählt; für unsere Verhältnisse war das eine hohe Wahlbeteiligung! Aber vierzig Prozent der Amerikaner haben sich einen Scheiß darum gekümmert, ob Biden oder Trump gewinnt. Irre, oder? Die Demokraten müssen erreichen, dass normale Leute Folgendes verstehen: Ihnen droht eine existenzielle Gefahr. Denn sie wissen es nicht, und unsere Annahme, sie wüssten es, ist komplett falsch.

Stein: Sagen Sie bitte ein paar Worte darüber, wie die Abtreibungsfrage amerikanische Frauen umtreibt.
Bitecofer: Wenn wir eine Chance haben, Trump zu schlagen — ich würde sagen, im Moment beträgt sie ungefähr fünfzig Prozent —, dann besteht sie darin, dass die Republikaner sich in den Reifen dieses spezifischen Autos verbissen haben, ehe sie für immer an die Macht kamen. Dass sie das Abtreibungsrecht gekippt haben, hat sie seither in jeder Wahl Stimmen gekostet. Deshalb gab es 2022 keine “rote Welle”. Als der rechtliche Schutz für Abtreibungen auf der Bundesebene wegfiel, kam es in den republikanisch regierten Staaten zu diesen verrückten rechtsrtadikalen Regelungen, die heute dafür sorgen, dass Frauen auf den Parkplätzen von Krankenhäusern sitzen und darauf warten, dass Sepsis einsetzt, weil etwas mit der Schwangerschaft schiefging, aber kein Arzt eine medizinische Abtreibung vornehmen darf. Die Wut darüber wird nur noch wachsen — mit jedem Vergewaltigungsopfer, das gezwungen wird, das Baby seines Vergewaltigers auszutragen. Vor allem, weil auch Kinder dazu gezwungen werden.

Stein: Bei den Vorwahlen im Bundesstaat Michigan haben etwa 100,000 Leute gesagt, dass sie sich nicht auf Präsident Biden als Kandidaten festlegen wollen. In Michigan leben viele Amerikaner arabischer Herkunft, die mit der Hamas sympathisieren. Wie groß ist die Zahl der Hamas-Sympathisanten in der Demokratischen Partei? Und könnte Bidens Parteinahme für Israel ihn 2024 die Wahl kosten?
Bitecofer: Im Kongress sind es genau elf Demokraten, die dem Hamas-Flügel angehören — und sie alle werden sich in Vorwahlen Gegenkandidaten stellen müssen, weil Sympathie für eine Terrororganisation den meisten Demokraten zu weit geht. Zu Michigan kann ich Folgendes sagen: Es ist ein Problem, aber kein großes. Biden hat acht von zehn Kandidaten gewonnen. Und Michigan hat “offene Vorwahlen”, das heißt, man kann auch dann mitmachen, wenn man kein registriertes Mitglied der jeweiligen Partei ist. Es haben Demokraten und Unabhängige bei den Republikanern mitgewählt, weil sie Nikki Haley stärken wollten. Das bedeutet aber, dass Biden diese Wähler momentan verliert; Biden sieht also schwächer aus, als er in Wahrheit ist. Den Muslimen in Michigan muss man einfach klar machen, was eine Präsidentschaft von Trump für sie bedeuten würde: Massendeportationen, Loyalitätstests, Vernehmungen, um zu beweisen, dass man ein loyaler Amerikaner ist. Und als loyaler Amerikaner würde man nur dann gelten, wenn man dafür ist, dass Gaza dem Erdboden gleichgemacht wird und alle Palästinenser ausgerottet werden.

Stein: Als ich in Hamburg war, gab es dort gerade eine große Demonstration gegen die AfD. Haben Sie als Amerikanerin einen Rat für die Gegnerinnen und Gegner der AfD?
Bitecofer: Ja, habe ich. Was die Faschisten bei Ihnen bisher daran gehindert hat, wieder hochzukommen, war, dass die Regierung ihre Fähigkeit, sich zu organisieren und miteinander zu kommunizieren, rigide begrenzt hat. Heben Sie diese Restriktionen bitte auf keinen Fall auf. Und sollten Sie diese Restriktionen schon gelockert haben, zurren Sie sie schleunigst wieder fest.