Deportationen sind in der Menschheitsgeschichte keine neue Methode, sich ganzer Völker zu entledigen. Doch während die einen keinen Hehl aus ihren verbrecherischen Absichten machen, versuchen andere diese zu verbergen. Eine Klarstellung und Warnung.

„Der Aufbau des jüdischen Nationalheims war kein koloniales Unternehmen, bei dem Europäer kamen, um fremde Reichtümer auf Kosten und mit Hilfe der einheimischen Arbeitskräfte auszubeuten. Palästina war und ist ein armes Land, und wenn es irgendwelche Reichtümer besitzt, dann sind sie ausschließlich das Produkt jüdischer Arbeiter; sollten die Juden je aus dem Land vertrieben werden, dann wird es aller Wahrscheinlichkeit nach diese Reichtümer auch nicht mehr geben.“

Hannah Arendt, „Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?“ (1948)

Es besteht ein großer Unterschied darin, ob man etwas ernst oder wörtlich nimmt. Bei Drohungen kann es sogar überlebenswichtig sein, gefährliche Worte nicht zu übersehen – und sie schließlich ernst zu nehmen. So haben einige bis 1933 Adolf Hitler zwar ernst genommen, aber außerhalb seines fanatischen und fanatisierten Anhängerkreises nur sehr wenige wörtlich. Daher konnten viele lange nicht glauben, dass die Nazis die europäischen Juden tatsächlich in die eroberten Gebiete im Osten deportieren würden. Letztlich erwies sich das gar als Vorstufe und Teil des Holocausts, also der geplanten Ermordung der Juden im industriellen Maßstab durch Arbeit, Erschießung und Vergasung. Schon im August 1920 hatte Hitler in einer programmatischen Rede unter dem Titel „Warum sind wir Antisemiten?“ seinen aggressiven Antisemitismus unter dem zustimmenden Gejohle seiner Anhängerschaft präsentiert. Darin stellte er im Gegensatz zum hart arbeitenden „Arier“ die Juden als faul, unmoralisch, zersetzend und parasitär dar – aber in der Lage, ganze Völker zu unterjochen. Was sich daraus ergeben würde, war nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, sondern hieß explizit: „Entfernung der Juden aus unserem Volke“. Und: „Wir haben uns … entschlossen, daß wir nicht mit Wenn und Aber kommen, sondern daß, wenn einmal die Sache zur Lösung kommt, das auch gründlich gemacht wird.“ Hitler nutzte in seiner Rede den Antisemitismus zur distinktiven Abgrenzung seiner neuen Bewegung und zur Erklärung, warum sie national und sozialistisch sei. Sein Antisemitismus stand in der Tradition des Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon; dieser bezeichnete die Juden als „eigensinnige und höllische Rasse“ und als „Feind des Menschengeschlechts“. Man müsse sie nach Asien zurückschicken oder ausrotten: „Durch Eisen oder Feuer oder durch Vertreibung muss der Jude verschwinden.“

NICHT ENDENDE DEPORTATIONSPHANTASIEN

Der finstere Traum der organisierten Umsiedlung ganzer Stämme, Gemeinschaften und Völker über tausende Kilometer hinweg scheint zum festen Gedankengut des autoritären Charakters zu gehören. Im vergangenen Jahrhundert erwies sich neben Hitler auch Josef Stalin als Großmeister willkürlicher und oft todbringender Deportationen: Er ließ während seiner Herrschaft ohne viel Aufhebens Gruppen und Völker, die ihm, aus welchen Gründen auch immer, suspekt waren, weit in den Osten seines Sowjetreiches transportieren, darunter Wolgadeutsche, Koreaner, Finnen, Kalmücken, Tschetschenen, Krimtataren, Türken und etliche mehr. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal wahrscheinlich nur, weil sie so zahlreich waren und kein Raum entsprechender Größe zur Verfügung stand. Dafür wurden sie im Holodomor gezielt dem Hungerstod ausgesetzt.

Damit sind die Deportationsphantasien aber leider nicht an ihr historisches Ende gekommen. Wir wissen schon länger, was für abgründige Vollstreckungsphantasien in der AfD und ihren nahestehenden Organisationen und Institutionen wie dem berühmt-berüchtigten „Rittergut“ in Sachsen-Anhalt ausgebrütet werden. Trotzdem war es gut, dass die breite Öffentlichkeit von einem Treffen rechtsextremer Hasardeure und anderer Wichtigtuer in einem Potsdamer Hotel erfuhr, wo Pläne zur „Remigration“ unerwünschter Personen auf der Tagesordnung standen und als nach der Machtergreifung zu exekutierender Wille ernsthaft besprochen wurden. Seitdem beweist die Mitte der Gesellschaft, dass sie die AfD nicht nur ernst, sondern ihre Vorhaben auch wörtlich nimmt.

So verhält es sich auch mit der Mitte in Israel. Sie kämpft schon länger gegen die Rechtsextremen im eigenen Land, eine Gruppe, die erheblich kleiner als die AfD, aber Teil der Netanjahu-Regierung ist und großen Rückhalt in der Siedlerbewegung hat. Damit kommt ihr mehr Macht zu, als es die Wählerzahlen erwarten ließen: Sie stellen den politischen und institutionellen Schutz für die aggressiven Siedler im Westjordanland dar – bis zum 7. Oktober eines der großen Probleme für einen annähernden Frieden in Palästina, neben der Ablehnung aller Friedensbemühungen durch die Hamas und die palästinensische Autonomiebehörde. Wie groß das fanatische Selbstbewusstsein der Rechtsextremen ist, haben sie erst vor ein paar Wochen bewiesen, als sie auf einer „Konferenz“ nicht weniger als ganz Palästina für sich beanspruchten – was nicht weniger als die Vertreibung der Palästinenser bedeuten würde. Eine deutliche Mehrheit in Israel sieht das völlig anders. Doch das hindert die Rechtsextremen in ihrer Mischung aus Arroganz, Größenwahn und Grausamkeit nicht, ihre Pläne laut hinauszuposaunen. Sie wollten ernst und wörtlich genommen werden. Und das verlangten sie so laut, dass die Gegner und Feinde Israels wie Iran, Hamas, Hisbollah sich nicht einmal bemüßigt sahen, dieses völkische Phantasma groß zu kommentieren. Warum auch? Die Rechtsextremen erledigten ja einen Bärendienst für sie: Sie lenkten die Welt von ihren eigenen Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien ab, die sie an Israel und den Juden exekutieren wollen. Diese Phantasien waren der Grund für den 7. Oktober und der wiederum die Ursache für den aktuellen Krieg im Gazastreifen.

AUS DER TRICKKISTE DER ANTISEMITEN

Dass dieses Faktum im Westen und speziell in Deutschland allerdings immer mehr in den Hintergrund rückt, liegt vor allem an der lautstarken pro-palästinensischen Unterstützung, an den Bildern der Verheerung aus dem Gazastreifen und einem simplen Trick: Linker Antisemitismus und Antizionismus kommen oft verschleiert und verschleiernd daher, verschwiemelt, spitzfindig und Tatsachen verdrehend. So sei es zum Beispiel unklar, was am 7. Oktober geschehen sei; die Hamas sei eine Befreiungsbewegung und wehre sich nur gegen einen Kolonialstaat; „From the River to the Sea – Palastine will be free…“ sei gar nicht so gemeint, wie es gemeint ist. Der Euphemismus ist ein zungenfertiges Instrument, jede Bösartigkeit bekommt ein Blumengebinde: Protest sei nur pro-palästinensisch zu verstehen und, nein, nein, nicht gegen die Juden gerichtet, nur gegen Netanjahu. Wer einen Antisemiten antisemitisch nennt, gilt schnell als Rassist. Pro-palästinensisch zu sein schützt davor, als antisemitisch erkannt zu werden.

Zum Inventar der Trickkiste gehört auch der Kampf gegen die international anerkannte und im Kampf gegen Antisemitismus weithin genutzte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Weil man sie nicht frontal diskreditieren konnte, hat man in den einschlägigen Kreisen mittels einer „Jerusalemer Erklärung“ einfach eine neue Antisemitismusdefinition ausbaldowert, die die „Meinungsfreiheit nicht einschränken soll“. Was die IHRA-Definition gar nicht getan hat. Während in den vergangenen Jahren eine Ausweitung und inflationäre Nutzung des Rassismus-Begriffs stattfand, versuchte man mit der Jerusalemer Erklärung den Antisemitismus-Begriff so sehr zu verengen, das er kaum noch wahrnehmbar wird – obwohl der Antisemitismus zunimmt. Wird er unübersehbar durch reale, brutale Gewalt, wird die Tat, seine Wirkung, seine physische Realität camoufliert durch Allgemeinplätze, Rabulistik oder ganz einfach tiefdunkles Schweigen. Der Antisemitismus wird mit und mit in ein Abstraktum umgewandelt, eine rein historische Weltanschauung, einen Gegenstand akademischer Arbeiten und elaborierter Diskussionen. Den konkreten, den leibhaftigen Antisemiten gibt es dann gar nicht mehr. Er wird zum Phantom politischer Feuilletons. Hingegen sei der Rassismus allgegenwärtig, strukturell verankert und ansteckend wie ein Virus, das jeden erfasst hat, der weiß ist.

Eine weitere Raffinesse, um den Antisemitismus-Begriff wie eine Tablette im Ozean aufzulösen und so seiner Wirkung und Geltung zu berauben, ist die Gleichstellung mit eben jenem „Rassismus“ und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Als geschähe alles gleich auf dem Niveau von Diskriminierung und Herabwürdigung. Tatsächlich wird keiner Gruppe außer den Juden unterstellt, sie würden – so stünde es in einem Buch – durch eine Verschwörung die Welt beherrschen wollen und trügen an allem möglichen Unglück in der Welt die Schuld: an Kriegen, Ungerechtigkeit, weichem Keks und schlechtem Wetter.

Der größte Trick aber ist es, den antisemitischen und antizionistischen Evergreen „From the River to the Sea…“ als harmlosen Kindervers erscheinen zu lassen. Wer insistiert, dass er unmissverständlich die Vertreibung der Juden und die Auslöschung Israels fordert und nichts Anderes, weil der bloße Wortlaut und der Kontext einer Demonstration oder „Aktion“ in Universitäten und auf den Straßen des Westens nämlich nichts Anderes zulässt, der wird hochtrabend eines Besseren belehrt, wie jüngst in der „Geschichte der Gegenwart“ (aber nicht nur da). Es sei alles einfach viel komplexer, es könnte auch dieses bedeuten oder jenes. – Genauso gut kann man auf diese Weise aber auch das Horst-Wessel-Lied zur Freiheitshymne uminterpretieren.

EIN BÜNDNIS VON MOB UND ELITE

Das ist die besondere Chuzpe: Die Protestierenden deklamieren die Worte, die die Vertreibung oder die Ermordung der Juden bedeuten; gleichzeitig wird die Eindeutigkeit der Worte durch „Wissenschaftler“ angezweifelt – und alle zwinkern sich einvernehmlich zu. Dieses Zusammenspiel ermöglicht, dass die Aktivisten sich selbst sehr ernst nehmen können, ohne dass sie ihre Worte mal hinterfragen müssen. Das muss das „Bündnis zwischen Mob und Elite“ sein, von dem Hannah Arendt einst sprach. Und wieder sind Universitäten an der Spitze der Bewegung.

Natürlich werden sich die über neun Millionen Israelis nicht wirklich vertreiben, umsiedeln oder widerstandslos meucheln lassen. Denn sie können und wollen nicht woanders hin. Sie werden nicht wieder ihre Koffer packen; sie werden nicht wieder ihre Häuser abschließen und sich ihres Eigentums berauben lassen; sie werden auch nicht ihre Waffen an ihre Feinde übergeben. So gesehen sind die Hassgesänge auf deutschen Straßen, in Universitäten und Museen wirkungslos. Sie entfalten aber eine Wirkung hier, in Deutschland, dem Land vergangener und geplanter Deportationen. Sie säen den Hass gegen die Juden hier, schüchtern sie ein, signalisieren eine klammheimliche Übereinkunft mit Hamas, Hisbollah und Iran, den Todfeinden Israels und der Juden.

Und es ist kein Zufall, dass Aktivisten jüngst eine Lesung von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft  in Berlin gesprengt haben. Wir dürfen zwar annehmen, dass sie das Buch gar nicht kennen. Aber vielleicht hatte es sich bei den Störern herumgesprochen, dass sich das erste umfangreiche Kapitel mit dem Antisemitismus als Element und Ursprung totaler Herrschaft beschäftigt. Soviel Aufklärung und Warnung musste in ihren Augen natürlich verhindert werden. Es könnte ja sprichwörtlich sonst noch jemand dahinter kommen, was sie sind und was sie letztlich wollen.