Die Welt hat gerecht zu sein
Schuld ist hin und wieder einseitig verteilt. Doch genau gegen diese banale Erkenntnis wehren sich ausgerechnet viele Deutsche mit Händen und Füßen – das hat auch der „Presseclub“ vortrefflich gezeigt.
Als ich sechzehn Jahre alt war, erlebte ich in meiner Schulklasse eine Krisenintervention. Seit fünf Jahren gab es Mobbing in der Klasse – Mitschüler drangsalierten andere Mitschüler und Mitschülerinnen, auch mit sexueller Belästigung, sie bewarfen sie mit Geld und Flaschen, äfften sie im Unterricht nach, bestahlen, diffamierten und erniedrigten sie regelmäßig. Nicht einmal die Lehrer waren sicher vor ihnen. Wer Schwäche zeigte, musste dafür büßen.
Die Intervention war eine Mediation, das heißt, es gab einen Workshop mit sogenannten Streitschlichtern. Deren Programm basierte offensichtlich auf der Annahme, dass es Konfliktparteien in der Klasse gab, zwischen deren Interessen nur ein Kompromiss gefunden werden müsse. Auf dem Plan standen deshalb diverse Übungen, um sich gegenseitig besser kennenzulernen und Verwundbarkeit und Nähe zuzulassen. Am Ende war eine Versöhnung vorgesehen, in der die Schülerinnen und Schüler einander Lösungsangebote machen sollten. Nur: welche Lösung sollten diejenigen anbieten, die Opfer des Mobbings geworden waren? Ein Mitschüler wurde beispielsweise immer wieder wegen seines Lispelns verhöhnt. Welchen Anteil hatte er an dem Konflikt? Er hatte keine Verhandlungsmasse, konnte effektiv nur Schweigen oder einen Schulwechsel als „Lösung“ anbieten.
Es wird niemanden überraschen, dass diese Intervention nichts gegen das Mobbing ausgerichtet hat. Nutzlos war sie trotzdem nicht, denn dank ihr lernten wir einen fundamentalen sozialen Irrtum kennen, der heute auch die Grundhaltung vieler Deutscher zur Außenpolitik prägt. Er lautet: Jeder Konflikt ist bilateral – Schuld ist niemals einseitig. Dieses plumpe Axiom ist für große Teile der Bevölkerung hochattraktiv, denn es erlaubt ein Festhalten an der Idee einer inhärent gerechten Welt. Viele Menschen glauben daran selbst dann noch, wenn sie mit ihren eigenen Augen das Gegenteil sehen. Sie glauben, die NATO hätte irgendwie Russlands Überfall auf die Ukraine verhindern können, wenn sie nur bereit gewesen wäre, einen Kompromiss zu finden, obwohl es einen solchen Kompromiss weder gab noch gibt. Und sie glauben, die Ukraine müsse jetzt mehr Verhandlungswillen zeigen, obwohl Russland erklärtermaßen nichts von dem haben will, was man ihm geben könnte. All die Vorwürfe aus Moskau über Nazis und Völkermord, über das Lispeln und die fehlenden Markenklamotten seiner Anrainerstaaten sind nur vorgeschobene Begründungen für die Aggression. Diese Aggression ist die eigentliche Wurzel des Übels: Sie ist das Problem, das Russland heute tief in sich trägt und das niemand wird beherrschen können außer Russland selbst.
Selbstverständlich hat Aggression immer eine Vorgeschichte, aber diese Binsenweisheit ist kein Freibrief. So wenig meine Mitschülerinnen und Mitschüler damals für die Erziehungsmethoden der Eltern ihrer Mobber konnten, so wenig ist es heute die Schuld der Ukrainer, dass die russische Geschichte mindestens seit Iwan dem Schrecklichen in Blut ersäuft. Die Gewalt, die wir sehen, ist eine Gewalt ohne Sinn und Zweck, die man nur zurückdrängen kann, nicht ausgleichen. Solange die Bedingung für Russlands „Frieden“ die Vernichtung der Ukraine ist, wird sie nicht verhandeln.
Wenn viele Menschen zum Beispiel in Deutschland etwas derart Offensichtliches nicht verstehen, dann liegt der Schluss nahe, dass sie es nicht verstehen wollen, weil ihr Welt- und Selbstbild an der Erkenntnis zerbrechen würden. Wer glaubt, jeder Konflikt sei bilateral, für den gibt es zu jedem Konflikt auch einen Kompromiss. Das vermittelt ein wunderbares Gefühl von Kontrolle und Überlegenheit: Wer vernünftig handelt und Verständnis für sein Gegenüber hat, dem kann ein solcher Konflikt – sei er privat oder international – gar nicht passieren. Das ist die individuelle Perspektive.
Die russische Propaganda weiß das
Aber das ist nicht alles. Im Falle Deutschlands reden wir schließlich von einem Land, das in seiner eigenen Geschichte mehr als einen radikalen Fall geopolitischen Mobbings begangen und Genozide und Weltkriege auf dem Kerbholz hat. Und hier wird es dann kompliziert, denn wenn es einseitige Konflikte tatsächlich gibt, dann bedeutet das auch, dass Menschen sehenden Auges das Böse wählen. Legt man das aber zugrunde, dann war es am Ende auch gerechtfertigt, deutsche Innenstädte in Schutt und Asche zu legen – überaus unschön.
Deshalb spielt die Fantasie einer gerechten Welt hierzulande weiter eine so große Rolle, und zwar nicht nur für Deutschlands Vergangenheit, sondern auch für sein Selbstverständnis auf der internationalen Bühne heute. Seit ich alt genug bin, um Nachrichten zu verfolgen, war unsere Außenpolitik vor allem von dem brennenden Wunsch getrieben, nur einmal das Richtige zu tun. „Nie mehr Krieg“ meint in Wirklichkeit „nie mehr Schuld“. In einer komplexen weltpolitischen Situation aber ist es so gut wie unmöglich, sich nicht schuldig zu machen: Wenn man nichts tut, sterben Menschen, wenn man eingreift, auch. Wenn so vielen Menschen hierzulande unwohl ist beim Gedanken an Waffenlieferungen, dann wohl kaum, weil ihnen das Leben der ungewaschenen jungen Männer aus Kalmückien am Herzen liegt, die Putins Armee in der Ukraine verheizt. Sondern eher aus der tiefsitzenden Angst heraus, dass „wir“ wieder die falsche Seite der Geschichte wählen, dass am Ende ukrainische Rechtsextreme mit deutschen Waffen Terrorzellen bilden und dass Deutschland für die Aufgabe seines sicheren moralischen Highgrounds am Ende bezahlen muss. Einige schöne Beispiele für diese Denke lieferte der ARD-Presseclub am vergangenen Sonntag, in dem mehrere Gäste sich ernstlich besorgt zeigten, die Ukraine könne es mit dem Krieg zu weit treiben, Russland „provozieren“ und am Ende den Spieß umdrehen – mit unseren Waffen! Natürlich weiß die russische Propaganda um diese deutsche Deformation und schmiert der hiesigen Öffentlichkeit die ukrainischen Nazis deshalb tagtäglich aufs Butterbrot.
Wie viel attraktiver erscheint demgegenüber die „gewaltfreie“ Lösung, die Verhandlung: Hier bleibt die Weste immer weiß, denn scheitern alle Kompromisse, kann man den Kriegsparteien dafür die Schuld geben, während man sich im Gelingensfalle selbst des Erfolges rühmt. Nur in diesem tiefen Vertrauen auf die Verhandlungslösung lässt sich auch am Glauben festhalten, dass die Welt gerecht sei und dass es das Böse nicht gibt, sondern nur Missverständnisse.
Leider sterben aber jeden Tag in der Ukraine Menschen für dieses Weltbild, auf das Deutschland im Übrigen in den letzten Jahren auch seine Wirtschaft verwettet hat. Und all die deutschen Politiker und Journalisten, die heute großäugig erklären, Putin habe sie so arg getäuscht, haben sich im Grunde selbst veräppelt. Man weiß nicht, wie die Schulzeit von Personen wie Michael Kretschmer und seiner Mitstreiter aus der Verhandlungen-um-ihrer-selbst-willen-Fraktion ausgesehen hat – aber es scheint eine rosige Zeit gewesen zu sein, in der es nur Freundschaft und konstruktive Gespräche gab. Und auch das zeigt mal wieder, dass die Welt in Wahrheit ungerecht ist.