Kernenergie ist zu teuer und zu gefährlich – zu diesem Schluss kam das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie, mit der es auf die wieder aufgeflammte Diskussion um die Klimapolitik, die Krise der Energiewende und die Rolle der Atomkraft reagierte. Doch einer wissenschaftlichen Prüfung hält die DIW-Publikation nicht stand. Ein Dossier über die deutsche Energiewende-Wissenschaft, die stets das Gute will – und schlechte Forschung schafft.  

Im Zuge der Klimadiskussion hören wir immer wieder das Argument, man solle „auf die Wissenschaft“ hören, die nicht nur eine klare Situationsbeschreibung liefere, sondern auch die Instrumente zur Bekämpfung der Erderwärmung benenne. Hört man der internationalen Wissenschaft aufmerksam zu, dann ist unüberhörbar, dass die zivile Nutzung der Kernenergie als wichtiges Instrument für eine effiziente Dekarbonisierung von Industriestaaten angesehen wird, so beispielsweise in den Szenarien des IPCC.

Energiewende ohne Dekarbonisierung

Nimmt man den IPCC-Report ernst, ist die deutsche Energiewende falsch aufgestellt. Deutschland eliminiert sukzessive die CO2-arme, aber planbar und hochzuverlässig produzierende Kernenergie aus seiner Energiewirtschaft. Noch dazu wird der Atomstrom größtenteils durch fossile Produktion ersetzt, da das Stromnetz ohne ein kalkulierbares Backup für die unzuverlässig einspeisenden Wind- und Solaranlagen zusammenbrechen würde. Deutschlands Stromversorgung wird von Jahr zu Jahr instabiler und teurer, doch seine Klimaziele erreicht unser Land nicht. Deswegen gibt es neuerdings immer lautere Kritik am Atomausstieg.

Energiewende-Ökonomie und Atom

Das wiederum sorgt in der deutschen Erneuerbare-Energien-Ökonomie für erhebliche Unruhe. Inzwischen ist das ein großer Wirtschaftszweig mit einer mächtigen Lobby. Ökostromproduzenten und EE-Anlagenhersteller machen dank einer Förderung aus jährlich rund 30 Milliarden Euro EEG-Umlage, staatlicher Subventionierung und Einspeiseprivilegien gute Geschäfte und beschäftigen über 300.000 Menschen. Drumherum hat sich eine größtenteils staatsfinanzierte Beratungs- und Forschungsindustrie entwickelt, die die Öko-Energiewirtschaft mit wissenschaftlichen Dienstleistungen und Politiker und Medien mit Studien und Policy Papers versorgt. Die meisten dieser Akteure sehen die Dekarbonisierung der Industriegesellschaft als Nullsummenspiel: Kernenergie und Erneuerbare sind in ihren Augen inkompatibel. Ein Sieg der einen Seite setzt die totale Vernichtung der anderen voraus. Vorschläge, unsere Stromwirtschaft rasch, sicher und effizient CO2-frei zu machen, indem man das Backup für Erneuerbare durch Atomstrom sichert, werden von der EE-Lobby vor allem als Angriff auf ihre Pfründe und Arbeitsplätze wahrgenommen. So gesehen verhalten sich die Ökostromer nicht anders als die Kohle- und Atomwirtschaft in der Vergangenheit.

Wissenschaft als Aktivismus: das DIW

Ein führender wissenschaftlicher Fürsprecher der Energiewende ist das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird von Bund und Ländern finanziert. Die dort wirkende Energieökonomin Claudia Kemfert ist bei Regierung und Ökobranche als Expertin gern gesehen. Sie erklärt den Deutschen im Fernsehen, sozialen Netzwerken und Sachbüchern die Energiewende. Und sie geißelt deren Feinde: die Kohle- und Atomlobby, die mit ihrem dreckigen Strom die Netze „verstopfe“ und den Erneuerbaren-Ausbau torpediere. Das ist zwar elektrotechnischer und energiewirtschaftlicher Unsinn, illustriert aber den Wagenburg-Denkstil, der sich in der Energiewende-Begleitwissenschaft breitgemacht hat.

Wer in unserem Land eine gute Sache für bedroht hält, sieht sich neuerdings immer häufiger im Recht, für diese gute Sache auch einmal fünfe gerade sein zu lassen. Diese Tendenz zur selektiven Wahrnehmung der Realität macht sich leider nicht nur im medialen Bereich bemerkbar (vgl. Salonkolumnisten-Beitrag Quarks und Fakes) , sondern auch in der Wissenschaft. Das DIW – genauer gesagt, eine Autorengruppe um die Energieexperten Ben Wealer, Christian von Hirschhausen und die besagte Claudia Kemfert – hat auf die Kritik am Atomausstieg rasch reagiert. Im Juli 2019 veröffentlichte das DIW-Team eine in den Medien breit gestreute „Studie“ – so die Selbstbezeichnung – in der es davor warnt, die Kernenergie als Instrument zur Senkung der CO2-Emissionen in der Energiewirtschaft zu nutzen (Ben Wealer, Simon Bauer, Leonard Göke, Christian von Hirschhausen, Claudia Kemfert: Zu teuer und gefährlich: Atomkraft ist keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung, in: DIW Wochenbericht Nr. 30 (2019), S. 511-520; im Folgenden zitiert als DIW 2019. Zu „teuer und zu gefährlich“ sei die Nutzung von Kernkraftwerken. Der wahre Grund für die Nutzung der Kernenergie sei ihr militärisches Potenzial.

„Die Ergebnisse zeigen, dass Atomkraft aufgrund radioaktiver Strahlung für über eine Millionen Jahre mitnichten als „sauber“ bezeichnet werden kann, sondern für Mensch und Umwelt gefährlich ist. Zudem fallen hohe Risiken bezüglich Proliferation an. Eine empirische Erhebung aller jemals gebauten 674 Atomkraftwerke zeigt, dass privatwirtschaftliche Motive von Anfang an keine Rolle gespielt haben, sondern militärische Interessen.“ (DIW 2019, S. 512)

Das Bemerkenswerte an dieser Studie ist also, dass sie den Anspruch erhebt, „alle jemals gebauten Atomkraftwerke“ einer wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Analyse in Vergangenheit, Gegenwart und sogar Zukunft zu unterziehen. Im Zentrum steht die Ermittlung der Wirtschaftlichkeit durch Ermittlung des Nettobarwerts der Anlagen mittels einer Computersimulation. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Das Betreiben von AKWs war und ist der Studie zufolge der sichere Ruin für jedes Unternehmen. Selbst im günstigsten Falle kämen mindestens 1,5 Milliarden Euro Verlust dabei heraus, im schlechtesten bis zu 8 Milliarden. Da, wie jeder Antiatom-Aktivist weiß, die Energieversorger keine Wohltätigkeitsvereine sind, muss es also einen anderen Grund geben, warum trotzdem Atomkraftwerke betrieben werden. Auch diesen Grund hat das DIW nach eigenen Angaben identifiziert: es ist die militärische Nutzung. Die Bombe mache das AKW eben aus Staatssicht doch noch lohnend.

Landauf, landab wird nun das „teuer, gefährlich, militärisch“-Verdikt des DIW von NGOs und Medien reproduziert, versehen mit dem Gütesiegel eines renommierten Forschungsinstituts. „So genau hat das noch niemand nachgerechnet“, lobt der Bayerische Rundfunk und die Anti-Atom-NGO „Ausgestrahlt“ behauptet mit thermodynamisch bizarrer Diktion: „Eine aktuelle Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die absolute Bankrott-Erklärung für alle Atomkraftwerke. Die Meiler dienen weder dem Klimaschutz, noch laufen sie, um Energie herzustellen.“ Begleitet wird die Studie von einem Interview des Co-Autors Hirschhausen, das die Marschrichtung vorgibt.

„Die Atomkraft ist eindeutig keine saubere Energie, sondern die schmutzigste aller verfügbaren Energiequellen. Sie emittiert lebensgefährliche radioaktive Strahlen, sie führt zu erheblichen gesundheitlichen Problemen“.

Die dort gepflegte Sprache von der „schmutzigen“ und „gefährlichen“ Atomkraft könnte auch in einer Greenpeace- oder „ausgestrahlt“-Broschüre stehen – nur dass deren Publikationen nicht durch Steuern finanziert werden.

Dabei sind diese Aussagen pauschalisierend, ungenau und teilweise auch sachlich falsch. So steht an der Spitze der „schmutzigen“ und opferreichen Energieträger eindeutig die Braun- und Steinkohle, und „radioaktive Strahlung“ aus den Emissionen von Kernkraftwerken ist keinesfalls „tödlich“ – sie machen nur einen Bruchteil des natürlichen Strahlungshintergrundes aus.

Zerlegt und nicht wieder zusammengebaut

Ich forsche seit etlichen Jahren auf dem Gebiet der Technikgeschichte mit Schwerpunkt Reaktorsicherheit. Ich habe einige Erfahrung mit Fallstudien über Kernkraftwerke und weiß daher, wie hoch der Arbeitsaufwand ist, auch nur eine einzige Anlage in ihrer Bau- und Produktionsgeschichte und mit all ihren technischen Problemen und Sicherheitsdiskussionen wissenschaftlich zu erfassen. Und nun sollte es dem DIW gelungen sein, alle 674 je gebauten Kernkraftwerke auf Kosten, Risiken und gar ihre militärische Verwendung hin zu untersuchen? Das interessierte mich.

Ich tat mich mit dem Physiker und Energie-Unternehmensberater Björn Peters zusammen, der langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Kraftwerksfinanzierung hat. Wir machten uns an die Arbeit, die Studie zu prüfen. Wir testeten die DIW-Berechnungen für das „Teuer“-Argument auf Methodik und Plausibilität. Wir untersuchten überdies, auf welchem Wege die Autoren ihr Argument der „gefährlichen“ Atomkraft belegten, und wie sie den Beweis führten, die militärische Nutzung habe als Motiv hinter jedem der 674 Atomkraftwerke gestanden. Außerdem prüften wir, ob all diese Beweisführungen durch den internationalen Forschungsstand über Reaktorsicherheit, Strahlenbiologie und Kerntechnik-Geschichte abgesichert sind.

Um auch das gleich vorauszuschicken: Sie sind es nicht. Wir haben die Studie auseinandergenommen – und nicht wieder zusammengebaut. Denn wir konnten nachweisen, dass das DIW in vielen seiner Aussagen gegen die Standards des korrekten wissenschaftlichen Arbeitens verstoßen hat. Nachlesen kann man unsere lange Rezension in der kerntechnischen Fachpublikation atw-International Journal for Nuclear Power.https://www.kernd.de/kernd-wAssets/docs/fachzeitschrift-atw/artikel/atw_2019-10_wendland_peters.pdf (im Folgenden atw 2019). In Auszügen stelle ich unsere Kritikpunkte in den nächsten Abschnitten dar. Sie sind gleichzeitig ein Einblick in die Arbeitsweise einer Wissenschaft der guten Absichten, die ihre Forschungsdaten trimmt, bis sie passen.

Daten trimmen, Teil 1: Teuerrechnen

Beginnen wir mit der Datenbasis. Die Autoren stützen sich mit ihrer Behauptung, alle je gebauten KKW untersucht zu haben, auf das Material einer hauseigenen „Data Documentation“, an der zwei der jetzigen Autoren mitgearbeitet haben. Flankiert wird dieser Argumentationskern von Referenzen auf Fach- und andere Literatur. Hier fällt ein hoher Anteil atomkritischer Quellen auf, darunter auch nichtwissenschaftliche Publikationen aus der Anti-Atom-Szene, etwa  der jährliche „World Nuclear Industry Status Reports“ des Atomkritikers Mycle Schneider oder der Newsletter der Anti-Atom-NGOs WISE / NIRS (DIW 2019, Fn. 3, 12, 21, 22, 30) . Auch explizit atomkritische Autoren wie Lutz Mez oder die Greenpeace- und Ex-Greenpeace-Aktivisten Jan Haverkamp und Andy Stirling werden herangezogen (DIW 2019, S. 518, 519). Seriöse Publikationen werden auch zitiert – aber falsch. Die DIW-Aussage „Weitere Studien haben in jüngerer Zeit die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Atomenergie bestätigt“ wird mit zwei Literaturbelegen versehen, die diesen Schluss überhaupt nicht zulassen (im Einzelnen dazu atw 2019, Fußnote 14).

Die genutzte Datensammlung ist eigentlich eine recht konventionelle Aufstellung von Kraftwerks-Basisdaten – Standorte, Reaktortypen, Blockleistung, Laufzeiten, die mit Informationen über die Entwicklung der einzelnen Atomwirtschaften angereichert wurde. Es werden keine einzelnen Anlagen einer tieferen Analyse unterzogen. Wir finden in der Publikation nur für sehr wenige Anlagen Informationen über Baukosten (vgl. atw 2019, Fn 15), und keine Angaben über konkret geflossene staatliche Fördersummen, Kapitalkosten oder Jahresvolllaststunden – Daten, die man eigentlich bräuchte, um dem Anspruch einer wie behauptet umfassenden historischen „empirischen Analyse“ zu genügen. Lediglich für heute geplante oder im Bau befindliche Anlagen nennt das DIW detailliertere Angaben zu „aktuellen Kostenschätzungen“ und gibt dazu auch weiterführende Literatur an (DIW 2019, Abb., S. 514).

Die eigentliche Berechnung, die das DIW selbst durchführt, beruht daher gar nicht auf historischen Primärdaten aus der zitierten Datensammlung, sondern aus selbst – und teilweise willkürlich – angesetzten Parametern. Mit ihnen wird der Nettobarwert von KKW-Investitionen berechnet. Das wiederum erfolgt durch Eingabe von Variablen in ein sogenanntes Monte-Carlo-Analyseprogramm (vgl. atw 2019, Fn. 11). Alle Kombinationen dieser Variablen ergeben laut DIW negative Nettobarwerte zwischen den Extremwerten 1,5 bis 8,9 Milliarden Euro Verlust. Es ist diese anspruchsvoll klingende Kombination von historischer Empirie, Berechnung von Neuinvestitionen und stochastischer Methode, die bei fachlich nicht vorgebildeten Lesern den Eindruck erzeugt, hier werde erstmals die globale Kernenergiewirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart mit wissenschaftlicher Methodik auf Herz und Nieren geprüft.

Erstaunliche Parameter

Entscheidend für das Ergebnis einer solchen Simulation sind vor allem die Eingabedaten, mit denen man sie füttert. Welche das waren, geben die DIW-Autoren in ihrem Papier nur teilweise an. Die fehlenden Parameter konnten wir in unserer Review anhand anerkannter Modelle der Investitionsrechnung rekonstruieren („reverse engineering“). Das Ergebnis:_Die Autoren haben nicht nur in unzulässiger Weise historische und heutige Werte vermischt, was das Rechenergebnis verfälschte, sondern ihre Parameter bewusst ungünstig angesetzt. Nur so konnten sie das »Ergebnis« erzielen, dass Kernkraftwerke in keinem Falle rentabel seien.

Das zeigt sich vor allem an zentralen Parametern der Investitionsrechnung wie Produktionsmengen, Verkaufserlös oder Lebensdauer der Anlage. Hinzu treten Hilfsparameter wie Bauzeit von Anlagen, Preissteigerungsraten und die Verwendung von Fremdkapital für die Finanzierung. Wir rechnen in unserer Gegen-Analyse vor, dass man auch heute mit einem Kernkraftwerk Geld verdienen kann – wenn man in der Rechnung statt der willkürlichen DIW-Annahmen realistische, industrieübliche Werte zugrunde legt. Als Ausgangspunkt nahmen wir den vom DIW berechneten „günstigsten Fall“, in dem die Autoren auf rund 1,5 Milliarden Euro Nettobarwert-Verlust kommen. Wir kamen in unserer Gegenrechnung unter Zugrundelegung von günstigen, aber in der industriellen Realität auch tatsächlich vorkommenden Parametern auf einen Nettobarwert von deutlich über 3 Milliarden Euro (vgl. Tabelle). Das DIW hingegen hat in seiner Rechnung nicht die günstigsten, sondern die ungünstigsten – und zum Teil völlig aus der Luft gegriffene – Annahmen zugrundegelegt.

Ein Beispiel: Von den 8.760 Stunden eines Jahres läuft ein Kernkraftwerk typischerweise mit rund 6.000 bis 7.000 Volllaststunden. Das war in der Vergangenheit meist so, ist derzeit so und wird in den meisten Kernenergie-Ländern auch in Zukunft so sein. Das DIW geht jedoch, wie unsere Rekonstruktion ergibt, von nur 3.600 Stunden aus. Dieser Wert ergibt sich aber nur im gegenwärtigen Energiewende-Deutschland als Durchschnittswert aller (!) Kraftwerke – wobei es ironischerweise gerade die Erneuerbaren mit ihren wenigen Volllaststunden sind, die den heutigen deutschen Durchschnitt drücken. Die DIW-Autoren haben diesen Wert unzulässigerweise auf die KKW und zudem auch noch auf die historischen KKW und die KKW aller Länder übertragen.

Auch die Lebensdauer von Kernkraftwerken setzten die DIW-Autoren mit 40 Jahren bewusst niedrig an. Tatsächlich werden heute errichtete KKW aber für Laufzeiten von 60 Jahren und mehr ausgelegt, und auch ältere Anlagen können nach einer Modernisierung Laufzeiten von weit über 40 Jahren erreichen; für den „günstigen“ Fall kann man also auch diese günstigeren Laufzeiten ansetzen.

Erlöse aus dem Stromverkauf wurden ebenfalls viel zu niedrig angesetzt. Das DIW nimmt hier für Deutschland eine historische Spanne von 20 – 80 Euro je Megawattstunde an. In der Vergangenheit konnten die Betreiber auch bei diesen Erlösen Gewinn machen, da die Kraftwerke der 1980er-Jahre zu sehr günstigen Kosten errichtet wurden. Moderne Kraftwerke –auch die für die Energiewende dringend benötigten Backup-Gaskraftwerke – benötigten jedoch mindestens 60 Euro pro Megawattstunde, um wirtschaftlich zu arbeiten. Alle seriösen Schätzungen gehen ab Mitte der 2020er Jahre von Großhandelspreisen von 80 – 120 Euro pro Megawattstunde aus. Auch neu gebaute Kernkraftwerke könnten unter diesen Umständen Gewinne erwirtschaften.

Daten trimmen, Teil 2: Die erfundene militärische Option

Die zweite These des DIW, der wahre Grund für den Einsatz der zivilen Kernkraftwerke Kernenergie sei nicht die Stromerzeugung gewesen, sondern ihr militärisches Potenzial, ist wissenschaftlich ebenfalls unhaltbar. Hier macht sich stark bemerkbar, dass die DIW-Autoren weder gute kerntechnische Grundkenntnisse haben, die man zur Untersuchung dieser Fragestellung benötigt, noch den reichen internationalen Forschungsstand zur Geschichte nationaler ziviler wie militärischer Kernenergiewirtschaften kennen. Dafür finden sich aber in der „Data Documentation“ des DIW, die seinen Aussagen zugrunde liegt, grobe Fehler wie die Behauptung, in grafitmoderierten Reaktoren werde aus Grafit durch Neutronenbeschuss Plutonium (vgl. atw 2019, Fn 38) und weitere Ungenauigkeiten.

Richtig ist, dass gängige Reaktorkonzepte ursprünglich aus militärischen Zusammenhängen stammten. Doch bei der Entwicklung ziviler Leistungsreaktoren spielten ökonomische Motive eine viel größere Rolle als militärische. Das war in den Atomwaffenstaaten so, und das gilt erst recht für diejenigen Staaten, die eine zivile Kernenergiewirtschaft aufbauten, ohne jemals Atomwaffen zu besitzen. In unserer Review habe ich das am sowjetischen Beispiel, das ich aus eigener Forschung gut kenne, erläutert. Die Sowjetunion dürfte als militärisch motivierte Atomwirtschaft par excellence gelten. Doch selbst der „Tschernobyl-Reaktor“ RBMK, dem von westlichen Experten häufig fälschlich unterstellt wurde, er sei nebenbei als Bombenplutonium-Küche genutzt worden, wurde auf eine ökonomische Stromproduktion, nicht auf die Plutoniumproduktion hin optimiert (atw 2019, Fn. 48). Ökonomische Stromproduktion macht aufgrund der hohen Brennstoff-Abbrände Reaktorplutonium unbrauchbar für militärische Zwecke: Es ist dann mit dem Plutonium-Isotop Pu-240 verunreinigt, das zur Verpuffung oder Frühzündung des spaltbaren Materials führen würde (atw 2019, Fn. 50).

Selektive Wahrnehmungen

Ähnlich unsauber argumentiert das DIW mit seiner dritten These, der »Gefährlichkeit« der Kernenergie. Hier bemüht sich das DIW am allerwenigsten, seriöse Forschungsdiskussionen abzubilden – es verschreibt sich völlig dem Aktivismus. Veröffentlichungen von Anti-AKW-NGOs werden wie Fachliteratur behandelt, seriöse wissenschaftliche Publikationen hingegen selektiv und manipulativ zitiert. Das erzeugt oberflächliche, häufig falsche, aber zuverlässig negative Aussagen über die Kernenergie. Als Beweis für relativ hohe CO2-Emissionen der Kernenergie in ihrer gesamten Wertschöpfungskette wird (DIW 2019, S. 519) eine einzige Publikation zitiert, die einen sehr hohen Wert angibt. Die Autoren ignorieren sämtliche Literatur, die diese Aussagen widerlegt, auch die des IPCC (vgl. atw 2019, Fn. 58). Als Beleg für die angeblich gesundheitsschädliche Wirkung von KKW-Emissionen zitiert das DIW eine Kinderkrebsstudie, die eine Kausalbeziehung nach Aussage ihrer Autoren eben gerade nicht belegt, weil die Dosis der Zivilbevölkerung aus KKW-Emissionen nur einen Bruchteil der Effektivdosis aus natürlichen Strahlenquellen beträgt; die Ergebnisse beruhten vermutlich auf statistischem Zufall. Im Falle der drei großen kerntechnischen Unfälle Three Mile Island-2 (Harrisburg), Tschernobyl-4 und Fukushima-Daiichi-1-4, denen das DIW allesamt „katastrophale“ Folgen bescheinigt (DIW 2019, S. 518, 519), sind die Auswirkungen in zwei von drei Fällen nicht katastrophal; in TMI kam niemand zu Schaden, in Fukushima gibt es lediglich einen Fall einer tödlich verlaufenen Lungenkrebserkrankung, die behördlich als Folge der aufgenommenen Dosis anerkannt wurde (atw 2019, Fn. 62). Für Tschernobyl liegen die Opferzahlen nach den Befunden seriöser Forschung weit niedriger, als von den Anti-Atom-Narrativen behauptet (atw 2019, Fn. 63). Auch die Forschungsdiskussion zum Paradigmenwechsel bei der Bewertung der Auswirkungen von Niedrigstrahlung (atw 2019, Fn. 64) wird unterschlagen. Schließlich fehlt eine Einordnung der Kernenergie, etwa durch vergleichende Aussagen über die Gesundheitsrisiken und Opfer der unterschiedlichen Stromerzeugungstechnologien (atw 2019, Fn. 65).

Nicht besser sieht es bei den Aussagen des DIW zur Reaktorsicherheit aus. So präsentieren die Autoren sogenannte Precursor-Ereignisse in Kernkraftwerken als Beinahe-Unfälle. Das ist vor allem mangelnder Kenntnis der Definition und Rolle solcher Ereignisse in der Reaktorsicherheitsforschung und –praxis geschuldet (DIW 2019, S. 519). In Wirklichkeit sind Precursor-Analysen – die das DIW als einen Hinweis auf vertuschte Beinahe-Unfälle interpretiert – eine Sonderform probabilistischer Sicherheitsanalysen, bei denen ein tatsächlich geschehenes Ereignis den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet. Die Bewertung eines Ereignisses als Vorläuferereignis eines schweren Kernschadensunfalls ist an viele Voraussetzungen gebunden und dient der Auffindung von Systemschwachstellen; sie ist nicht gleichbedeutend mit einem Beinahe-Unfall (atw 2019, Fn. 67). Ähnlich unbedarft ist das DIW auch bei anderen kerntechnischen Sachverhalten. Es identifiziert „fehlende Sicherheitsbehälter“ einiger Anlagen sowjetischer Bauart in den ostmitteleuropäischen EU-Ländern als gefährlichen Mangel, weiß aber nicht, dass in diesen Anlagen Primärkreislauf-Druckräume, Nasskondensationssysteme und Sprühsysteme jene Funktionen zur Aktivitätsrückhaltung übernehmen, die bei uns ein Volldruckcontainment erfüllt(atw 2019, Fn. 68). Die Laufzeitverlängerungen dieser Anlagen werden, anders als vom DIW angenommen, nicht einfach verfügt, sondern sind von umfangreichen Modernisierungsprogrammen begleitet. Dazu gehört auch das in Osteuropa praktizierte Wiederholungsglühen der Reaktordruckbehälter, das die Versprödung reduziert (vgl. Scientific American und atw 2019, Fn 69).

Polittechnologien

Schließlich fällt auch das DIW-Argument von der außergewöhnlichen Stellung der Kernenergie als staatsgesteuert und –finanziert, wenn man die Energiepolitik unterschiedlicher historischer Phasen oder unterschiedlicher Länder einer systemischen Analyse unterzieht. Häufig waren politische Gründe – z.B. nationales Prestige, das Streben nach zukünftiger Technologieführerschaft – in der Anschubphase neuer Technologien das Hauptmotiv. Ob sie sich betriebswirtschaftlich rechneten, stand nicht zur Diskussion.  Das war nicht nur in der Polittechnik Kernenergie so, sondern auch bei der Raumfahrt. Was das DIW ignoriert: gerade die von ihm propagierten Erneuerbaren Energien sind ein perfektes Beispiel für die Dominanz außerökonomischer Treiber bei der Technologie-Diffusion.

Die Einführung der Erneuerbaren war primär politisch, aber nicht ökonomisch begründet. Im Gegenteil – sie erzeugt durch den brachialen Umbau unserer Energiewirtschaft derzeit mehr strukturelle Probleme und Kosten als ökonomische Erfolgserlebnisse. Die Umgebungsenergie-Technologien Windkraft und Photovoltaik, so der Bundesrechnungshof 2016 und 2019, hätten sich ohne massive staatliche Unterstützung in Form von Einspeiseprivilegien und EEG-Umlage in Deutschland nie am Markt durchsetzen können.

Die Energiewende vereint ein ganzes Bündel außerökonomischer Motive auf sich. Sie wurde ganz wesentlich moralisch begründet, worauf bereits die Umkehr-Metaphorik des Wende- Begriffs verweist. Das manifestiert sich nicht nur an der Engführung der Atom-Ausstiegs-Begründung von 2011 auf eine „ethische“ Frage, die folglich zum Gegenstand einer „Ethik-Kommission“ gemacht wurde. Das zeigt sich auch an der Begründungslogik der Energiewende selber in den Berichten der „Ethikkommission“ zum Atomausstieg und der „Kohlekommission“ zum Kohleausstieg. Diese Begründungslogik beruht vor allem auf dem internationalen Vorbildcharakter Deutschlands für den ökologischen Umbau von Industriegesellschaften auf der ganzen Welt. Dies wiederum ist ein aus unserer jüngeren Geschichte abgeleiteter „weicher“ Faktor deutscher nationaler Grandeur.

Darüber hinaus soll die Energiewende auch nach innen eine Art national-ökologischen Kitt für eine zunehmend auseinanderdriftende Gesellschaft produzieren, was sich in der Bezeichnung der Energiewende als „Gemeinschaftswerk“ niederschlägt. Vermutlich spielte gerade in dieser Gemeinschaftswerks-Motivierung auch der Wunsch eine Rolle, die langjährige gesellschaftliche Kontroverse um die Kernenergie zu befrieden, indem man die angebliche Konfliktursache aus dem Spiel nahm. Das mag eine ehrenwerte Begründung sein – eine wirtschaftliche ist es nicht.

Erst in zweiter Linie wurde das Jahrhundert- und Gemeinschaftswerks- Argument in ein ökonomisch anschlussfähiges Standortargument umgemünzt, das mit der Erwartung künftiger Profite und Arbeitsplätze durch deutsche Marktführerschaft im Umgebungsenergie-Sektor hantierte. Doch die deutsche Industrie war in diesem Projekt nie die treibende Kraft – das haben die Erneuerbaren also mit der Frühphase der Kernenergie-Einführung in Deutschland gemeinsam. Rein betriebswirtschaftlich ist die politisch beschlossene und staatlich geförderte Implementierung der Erneuerbaren auf deutschem Boden bis heute nicht begründbar. Selbst die erhoffte Marktführerschaft wurde den Deutschen auf dem Gebiet von Solar- und Windkraft von asiatischen Anbietern sehr schnell wieder abgenommen (atw 2019, Fn. 81).

Energiewirtschaftlich kontextblind

Doch auch aus einem explizit energiewirtschaftlichen Grunde kann man den Ansatz des DIW als kontextblind zurückweisen. Die Autoren nehmen stets die Einzelanlage als Ausgangspunkt und fällen ihr Urteil über die „zu teure“ Kernenergie, unterschlagen jedoch, dass nukleare Stromerzeuger nicht isoliert in einem idealtypischen System arbeiten, sondern zusammengespannt mit anderen Erzeugern und unter den Bedingungen gesetzlicher Regulierungen und öffentlicher Diskurse.

Die Kernenergie stellt im real existierenden Energiemix und Verbundnetz nicht nur CO2-freie, sondern auch gesicherte und steuerbare Leistung bereit, d.h. wertvolle Systemleistungen. Entsprechend wird die Bereitstellung von Regelenergie durch den Lastfolgebetrieb von KKW sehr gut entgolten (atw 2019, Fn 84). Die Erneuerbaren-Betreiber wiederum verdanken ihren hohen Anteil am deutschen Energiemix – und damit auch ihre derzeitigen Gewinne – nicht nur dem bereits erwähnten staatlich etablierten System aus Einspeiseprivilegien und Strompreissubventionierung. Sie verdanken ihn auch der Tatsache, dass planbare Erzeuger, unter anderem Kernkraftwerke, jenes stabile Verbundnetz erst herstellen, in das wetterabhängige Stromproduzenten jederzeit einspeisen können. Allerdings werden die Umgebungsenergie-Betreiber an den Kosten teurer Systemleistungen nicht beteiligt – und auch nicht an den Risiken der fossilen und nuklearen Erzeuger (atw 2019, Fn. 85).

Folgt man nun konsequent der Kritik des DIW an der angeblich mangelnden Versicherung von Kernkraftwerken, die eine Verlagerung interner Kosten auf die Gesellschaft darstelle (atw 2019, Fn. 27), und fordert man für alle Stromerzeuger eine volle Internalisierung solcher Kosten, so müssten wetterabhängige Umgebungsenergien, die keine gesicherte Leistung liefern, folglich auch für ihr Backup mithaften, solange es keine Speicherlösungen im Industriemaßstab gibt. Das bedeutet: Auch sie müssten sich an künftigen CO2-Abgaben von Gaskraftwerken, an hypothetischen Entschädigungssummen für die Opfer von Luftverschmutzung oder eben am Versicherungspool für Kernkraftwerke beteiligt werden – oder eine Netzsystemabgabe leisten, aus der die Erzeuger gesicherter Leistung Kompensationen erhalten. Umgekehrt könnten KKW von einer CO2-Bepreisung genauso profitieren wie die Umgebungsenergien Windkraft, Wasserkraft und Photovoltaik, was wiederum ihre Marktposition verbessern könnte. In einer OECD-Studie wurden verschiedene Szenarien einer CO2-armen Energiewirtschaft mit unterschiedlichen Anteilen von Kernenergie und intermittierend einspeisenden Umgebungsenergien betrachtet; sie kommt zu dem Schluss, dass die Systemkosten solcher gemischten Systeme steigen, je mehr wetterabhängige Erzeuger einspeisen, und fallen, je höher der Kernenergieanteil ist. Aufgabe einer guten Energie- und Klimastrategie sei es, die bislang externalisierten und ungerecht verteilten Systemkosten strukturell in das System einer funktionierenden Energiewirtschaft zu integrieren (atw 2019, Fn. 85).

Überzeugung und Kalkül

Wir fassen zusammen: Die DIW-Autoren trimmen Berechnungen auf ein erwünschtes Ergebnis hin, nehmen Fachpublikationen selektiv wahr, zitieren schlampig, ignorieren Forschungsstände und zeigen Kompetenzmängel bei der Bewertung kerntechnischer Sachverhalte. Sie verstoßen damit gegen Grundprinzipien guter wissenschaftlicher Arbeit. Doch warum erlaubt sich ein Forschungsinstitut solche Abweichungen von wissenschaftlichen Standards? Im Falle des DIW liegt es wohl an einer Mischung aus politischer Überzeugung und Kalkül. Das Institut hat sich seit geraumer Zeit einseitig auf die Affirmation erneuerbarer Energien konzentriert. Aus seiner Rolle als Energiewende-Erklärer und -Erforscher bezieht es Gutachterpositionen, Drittmittel, Zugang zu Regierenden und mediale Aufmerksamkeit. Solche Ergebnisse werden im Gratifikationssystem der Wissenschaften, bei den periodischen Institutsevaluierungen, positiv verbucht. Zudem wähnt man sich auf der moralisch besseren Seite, auf Seiten der ökologisch-sanften Technologien und gegen die verwerfliche Atomkraft. Eine Diskussion über die Kernenergie als wichtiges Instrument einer Klimastrategie bedeutet also eine Statusbedrohung. Deswegen möchte das DIW diese Diskussion mit einer Basta-Ansage abwürgen. Das DIW hat Angst um seine Diskurshoheit – und wer Angst hat, macht Fehler. Aber auch wer sich seiner Sache allzu sicher ist, macht Fehler. Die aktivistische Wissenschaft im Energiewende-Deutschland rechnet nicht mehr mit kritischen Lesern.

Abbildung: Vergleich des „günstigsten“ Falles des Nettobarwerts (NPV) einer KKW-Investition in der DIW-Berechnung (-1,503 Mrd. EUR) mit einer Gegenrechnung auf Grundlage realistischer, in der Kraftwerks-Investitionsrechnung verwendeter Parameter. In Spalte 5 und 6 kann man ablesen, wie aus einem Verlust aufgrund (bis auf die Preissteigerungsrate) bewusst ungünstig angesetzter Parameter ein Nettobarwert-Gewinn wird, sobald man realistische Werte einsetzt. Quelle: Björn Peters, 2019.