Der Hamas-Terror vom 7. Oktober war eine neue Dimension der Gewalt, der jüdisch-palästinensische Konflikt schwelt allerdings schon seit Jahrzehnten. Viele jüdische Intellektuelle haben sich Gedanken gemacht, wie man ihn beenden kann. Einer sogar sein ganzes Leben lang. Sein Vermächtnis ist immer noch aktuell.

Es wird manche immer noch überraschen, aber in Israel findet man einfach alles: Linke wie Rechte, Tauben und Falken, Queers und Heteros, Säkulare und Religiöse, Selbsthassende und Fremdhassende, Antikapitalisten und Neoliberale, Demokratieverteidiger und Demokratieverächter, Postkolonialisten und Neokolonialisten, Lebenslustige und Ängstliche, Zukunftsgewandte und Traumatisierte, Schwarze und Weiße – es ist tatsächlich (fast) alles da, was man in den Demokratien des Westens mit ihren pluralistischen Gesellschaften auch vorfindet. Nur eines ist etwas anders in Israel: Es gibt dort seit Jahrzehnten ein kulturelles Goldenes Zeitalter, das Literatur, Film, Musik, Theater, bildende Künste, Philosophie, Wissenschaft, Technologie, Hightech und auch die Küche umfasst. Das kann sicher jeder bestätigen, der mal in Israel war oder sich mit dem Land auseinandergesetzt hat. Es war aber ein israelischer Schriftsteller, der, ganz bewusst, von einem „Goldenen Zeitalter der Kreativität“ sprach. Dieser Schriftsteller war Amos Oz, Autor des Weltbestsellers Eine Geschichte von Liebe und Finsternis.

Oz, im Jahre 1939 in Jerusalem geboren, war zeitlebens Friedensaktivist, er war Soldat, hat an zwei Kriegen teilgenommen (1967 und 1973) und in einem Kibbuz gelebt. Er vereinigte die scheinbaren Widersprüche seines Landes in seiner Person, hat das Land geliebt und kaum ertragen und war vielleicht gerade daher ein glaubwürdiger Zeuge der Geschichte Israels – und ist es immer noch. All das sollte man wissen, wenn man sein wirklich lohnendes Buch Liebe Fanatiker zur Hand nimmt, denn es ist quasi sein politisches Vermächtnis. Kurz vor seinem Tod 2018 erschienen, beschreibt es die Irrtümer und Illusionen, die Irrwege und den Irrsinn, in und mit dem Israel existieren muss. Aber das Buch ist nicht nur an seine Landsleute gerichtet, es ist genauso an ein internationales Publikum adressiert – vor allem an die, die anderer Meinung sind als der Autor.

NEID AUF ISRAEL

Diese Andersdenkenden lassen sich leicht verorten, sie stehen weit links und rechts, stellen das „Goldene Zeitalter“ in Frage, weil es zu „links“ ist oder zu „ungerecht“, weil kolonialistisch. Vor allem produziert es Neid. Während sich der Westen politisch und kulturell auf dem absteigenden Ast befindet und der Nahe Osten sich nicht aus den Fängen feudaler Despoten und religiöser Fanatiker zu befreien vermag, prosperiert das kleine, vitale, resiliente Israel durch seine Kreativität. Es könnte eine ungebrochene Erfolgsgeschichte sein, wenn, ja wenn es nicht in die Zange genommen würde: einerseits von einer rechten bis ultrarechten Regierung und militanten „Siedlern in den Hügeln“ und andererseits von einer internationalen sowie palästinensischen „postzionistischen und antizionistischen Front“.

Um die Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten anschaulich zu beschreiben, benutzt Amos Oz das Bild von Dr. Jekyll und Mr. Hyde nach der berühmten Erzählung von Robert L. Stevenson. Der Arzt Dr. Jekyll ist eine angesehene, aufgeklärte, integre Persönlichkeit, während Mr. Hyde ein gewalttätiges, egozentrisches, empathieloses Scheusal ist. Allerdings sind sie ein und dieselbe Person.

Man kann an diesem Bild einiges aussetzen, aber es erklärt die Tragödie ganz gut. Die Palästinenser führen, so Oz, quasi zwei Kriege (heiß wie kalt) gegen Israel: einen berechtigten gegen die Besatzung im Westjordanland und einen fanatischen für die Auslöschung Israels und die Errichtung eines islamistischen Staates zwischen den Ufern des Jordan und den Stränden des Mittelmeeres. Aber fast das Gleiche ließe sich, so Oz weiter, auch über Israel sagen: „Auch Israel kämpft zwei Kriege gleichzeitig: einen mehr als berechtigten Krieg für das Recht des jüdischen Volkes, ein freies Volk im eigenen Land zu sein, und einen zweiten Krieg der Unterdrückung, des Unrechts und des Raubs, dessen Ziel es ist, unserer Wohnung noch zwei, drei Zimmer hinzuzufügen…“

Das Problem und der Hauptgrund für die internationale Verwechslung, Verwirrung und Vereinfachung sei, dass sehr viele Palästinenser die beiden Kriege zusammen als einen führen, ihn mit Absicht vermischen – und ihre Unterstützer überall auf der Welt wollen das nicht sehen. Oder anders gesagt: Der palästinensische Widerstand im Westjordanland ist berechtigt, der Kampf der terroristischen Hamas (und ihrer Verbündeten) ist es nicht. Diese Unterscheidung müsste eigentlich für alle möglich sein.

Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass Fangruppen in der Fußballbundesliga zu solch einer Differenzierung in der Lage sind – wie man an ihren Transparenten und Choreographien erkennen kann –, die sogenannten „Progressiven“ auf den Straßen allerdings nicht. Sie projizieren in den Staat Israel und seine Bewohner alles, was sie offen oder insgeheim verachten: Kapitalismus, Freiheit, Pluralismus, Erfolg, Wohlstand. Sie liebäugeln wieder mal mit autoritären Regimen und Terrorgruppen, als würden sie Gewalt, Hass und Unterwerfung schick finden. So begingen sie schon Verrat an der Opposition und den Frauen im Iran, an den Kurden und anderen Oppositionellen in der Türkei, in Syrien und im Irak. Nur wenn es gegen Israel geht, dann werden die Leidenschaften augenblicklich in aller Buntheit und Radikalität geweckt.

DREI OPTIONEN, ABER NUR EINE TAUGT (IM MOMENT)

Der Krieg im Gazastreifen hat möglicherweise gerade erst begonnen. Die Verluste sind hoch. Es ist genau das, was die Hamas im Sinne ihres religiösen und dschihadistischen Fanatismus wollte. Vielleicht wird aber die israelische Armee letztlich zur Befreiungsbewegung des Gazastreifens. Man darf sicher sein, dass ihnen auch das zum Vorwurf gemacht würde. Wenn auch die militärische Stärke in seiner kurzen Geschichte Israel vor Zerstörung und Vernichtung bewahrt hat, so hat das Land doch keinen Krieg dahingehend gewonnen, dass es als Ergebnis einen dauerhaften Frieden gab.

Seit dem Ende des Oslo-Friedensprozesses (inklusive Wye-Abkommen) vor über zwanzig Jahren werden drei Optionen mehr oder weniger diskutiert, wie man zu einem dauerhaften Frieden kommen könnte. Die erste ist die eines jüdischen Einheitsstaates, was ungefähr das ist, was sich die aktuelle, mittlerweile auch in Israel verhasste Regierung Netanjahu auf längere Sicht vorstellt. Allerdings würde das bedeuten, rund 1,9 Millionen arabische Israelis zu Staatenlosen zu degradieren – eine Vorstellung, die Recht, Anstand und Menschenwürde widerspräche und letztlich auch keine Mehrheit in einem demokratischen Israel bekäme. Die zweite Option wäre das, was der Philosoph Omri Boehm als die Utopie einer „Republik Haifa“ vertritt: eine föderale, binationale Demokratie, die auf dem Begriff einer „universellen Menschenwürde“ gründet. Weil dieser Vorschlag auch nicht ganz neu ist, hat Amos Oz schon Jahre vor Erscheinen von Boehms Buch diese Idee als „traurigen Witz“ bezeichnet und zurecht klargestellt, dass es zwar möglich sei, dass Juden und Araber zusammenleben, aber der tiefsitzende Hass und das ebenso tiefsitzende gegenseitige Misstrauen sowie die Möglichkeit, irgendwann als jüdische Minderheit unter arabischer Herrschaft zu leben, würden es verbieten, einen solchen binationalen Staat zu bilden, denn „fast alle arabischen Regime im Nahen Osten unterdrücken und erniedrigen Minderheiten“. Was die Fakten bestätigen: Im Jahr 1948 lebten noch rund eine Million Juden in den arabischen Ländern vom Jemen bis nach Marokko – heute kann man sie an ein paar Händen abzählen. Alle anderen sind entweder getötet oder vertrieben und enteignet worden. Auch das ist eine jüdische Katastrophe. (Die bis heute nicht von der UNO verurteilt wurde.)

Letztlich bleibt im Moment weiterhin nur die dritte Option: die Zweistaatenlösung. Dieser stehen vor allem die Hamas und der Iran im Weg; aber auch die militanten jüdischen Siedler im Westjordanland. Es braucht wahrscheinlich mehr als eine militärisch starke und politisch entschlossene israelische Regierung, um diesen Pfad zu bestreiten – es braucht auch starke Partner. Wie lang das noch die USA sind – wir wissen es nicht. Von der EU erwartet realistischerweise niemand etwas. Könnten es letztlich Saudi-Arabien, Ägypten und Katar sein, drei arabische Despotien? Doch nun muss zunächst die Hamas weg. Das Zeitfenster ist eng. Aber es muss sein. Denn es gilt, was Amos Oz schrieb: Wenn jemand sagt, dieses Land vom Jordan bis zum Mittelmeer, gehört mir und nur mir allein – dann riecht es nach Blut.