Die einstmals stolze Sozialdemokratische Partei Deutschlands sucht neue Vorsitzende. Aber weiß sie wirklich, worauf sie sich da eingelassen hat?

Vielleich war früher wirklich alles besser. Da hatte die SPD noch hochkarätige Unterstützung von Schriftstellern wie Günter Grass. Der schrieb Willy Brandt sogar Reden und fand in einer kostenlosen Feinanalyse einmal heraus, dass der damalige Kanzlerkandidat Brandt ein sehr gutes R sprach. Er müsse daher sehr viele Sätze mit R bekommen. Ob das Brandt und der SPD 1969 zum Sieg verholfen hat und den sogenannten „Machtwechsel“ von der CDU zur SPD ermöglichte, ist nicht bekannt. Aber der Brandt-Sound hatte schon was Einnehmendes, und man konnte bis zur Ära Schröder verfolgen, dass Brandts Rhetorik, Gestik und Modulation in seiner Partei unverdrossene Nachahmer fand. Aber das R bekam keiner mehr so hin.

Die SPD schlägt sich heute mit ganz anderen Problemen herum: mit ihrem Niedergang, ihrer Bedeutungslosigkeit. Der „Genosse Trend“, der die SPD früher in höchste Höhen und an die Macht befördert hatte, hat die Geduld und den Glauben an die Partei verloren und drückt sie immer tiefer in den Staub der Arena, die Öffentlichkeit heißt. Ratlosigkeit macht sich breit – und Verzweiflung.

Sich gegen einen Trend zu stellen, der sich aus soziokulturellen, demographischen und politischen Veränderungen speist, ist schon schwer genug. Daraus aber auch noch die falschen oder gar keine Schlüsse zu ziehen, das ist verheerend.

DIE SPALTUNG

Das erste Problem der Sozialdemokratie in Deutschland ist ihre Spaltung in eine SPD und einen LINKE. Da kann man viele historische und persönliche Unverträglichkeiten herbeizitieren – allein, wenn man wieder Schlagkraft, Gewicht, Zukunftschancen haben will, kommt man an eine Vereinigung nicht vorbei. Gewiss, das gäbe ein großes öffentliches Geschrei, aber ernsthafte Gespräche würde die Sozialdemokratie zwingen zu klären und zu erklären, was sie eigentlich noch will und vermag für dieses Land. Die „Aufstehen“-Sammlungsbewegung von Bernd Stegemann et al. wäre eine Möglichkeit zu Annäherungen gewesen. Chance vertan. Solch einen Prozess in Gang zu setzen braucht nämlich starke, angstfreie, unverzagte, strategisch denkende Persönlichkeiten mit Gestaltungswillen und Nervenstärke, wie bei Friedensgesprächen zwischen Feinden und Gegnern auch. Die aber fehlen der SPD.

DAUERHAFTE KATERSTIMMUNG

Das zweite Problem ist die fruchtlose Selbstbezüglichkeit der SPD, ja, Selbstdemontage. Die Partei ist geradezu krankhaft fixiert auf die Einführung von Hartz IV (bzw. die Agenda 2010), sieht sie quasi als Ursünde und Ursache des Niedergangs der SPD. Sie hat selbst dafür gesorgt, dass diese These seit fünfzehn Jahren Mitgliedern wie Sympathisanten einen Dauerkater verschafft, obwohl es sehr gute Gründe gab für diese arbeitsmarktpolitische Reform von Rot-Grün, schließlich galt Deutschland damals als „kranker Mann Europas“. Die SPD unter Schröder hat das geändert und das Land auf einen Aufstiegspfad geführt. Doch die SPD unter… – ja wem eigentlich? – will davon nichts wissen.

DIE NACHAHMER

Das dritte Problem lautet Nachahmung. Es gibt eine ernsthaft zu bedenkende, bislang nicht wirklich widerlegte Regel, dass in der Politik Nachahmung eher dem Original nützt. Das kann natürlich nicht bedeuten, wirklich gute, neue Errungenschaften und Ideen links liegen zu lassen, nur weil man nicht selber drauf gekommen ist. Aber man sollte vor Übernahme doch erst genau schauen, also analysieren, ob diese Errungenschaft zu Programm, Partei, Zielen und Wählern passt und ob sie wirklich das hält, was sie anscheinend verspricht. Die Rede ist hier von der Doppelspitze. Ich kann mir gut vorstellen, wie man in der SPD-Parteizentrale mit mühsam unterdrücktem Neid auf die grüne Doppelspitze Baerbock/Habeck schaut – und darüber vergisst, dass auch die Grünen in all den Jahrzehnten nicht wirklich funktionierende, ja, meist sogar regelrecht dysfunktionale Doppelspitzen hervorgebracht haben. Und der aktuelle PR-Erfolg hängt nur zum Teil damit zusammen, dass die Grünen diesmal die Klugheit besaßen, die Flügelkämpfe hintanzustellen und zwei Menschen mit sehr ähnlichen Ansichten das Vertrauen zu schenken. In erster Linie kommt hier wahrscheinlich eine welthistorisch einmalige Konstellation zusammen: Die „Chemie“ zwischen den beiden Personen scheint zu stimmen; der Grad der jeweiligen Eitelkeit ist unter einem selbstzerstörerischen Niveau; man hat eine Strategie, eine Arbeitsteilung und eine Vereinbarung, an der sich die Beteiligten unter dem Diktat der Vernunft und Selbstdisziplin halten; Zeitgeist und Medien sind weitgehend auf ihrer Seite und erleichtern so das Arbeiten; der Erfolg ist so nah, dass jeder politische Haarriss umgehend durch den Gedanken daran verschweißt wird; man besitzt die Fähigkeit und die bei der Kanzlerin abgeguckte Raffinesse, manchmal einfach zu schweigen und nicht zu allem seinen Senf dazugeben. Ein kurzer Blick auf die nun für den Parteivorsitz kandidierenden Personen müsste angesichts der genannten Erfolgsbedingungen des grünen Duos sofort jedem klarmachen, dass dieses Experiment für die SPD böse enden könnte.

STRATEGISCHE MÄNGEL

Das vierte Problem ist der Mangel an strategischem Denken: Weil man glaubt, die Agenda 2010 sei am Niedergang der SPD schuld, versuchte man in den letzten Jahren mit vielen sozialstaatlichen Interventionen die verlorengegangenen Wähler wieder zurückzuholen. Die hatten sich aber in alle politischen Windrichtungen verstreut und andere Sorgen und Präferenzen, die der erweiterte Parteienmarkt bediente. Es ging dem Land letztlich doch in den letzten Jahren zu gut, als dass eine forcierte Sozialstaatspolitik Stimmen für die SPD in wachsendem Umfang generieren könnte. Vor allem war die SPD eigentlich auch immer dann erfolgreich, sprich: kanzlerfähig, wenn sie neben Sozialstaat auch Kompetenz in Sachen Wirtschaft zeigte, also nicht nur auf die Ausgaben-, sondern auch auf die Einnahmenseite schaute. Die Notwendigkeit, diese politische Kompetenz nicht nur zu zeigen, sondern tatsächlich auch zu haben, wird angesichts der kommenden Herausforderungen noch wachsen. Die beginnende ökologische Transformation der Wirtschaft, die Digitalisierung, die Energieversorgung, die Landwirtschaft, unser gesamtes ressourcenintensives Leben muss in eine politische Strategie eingebettet werden, die Wohlstand nicht gefährdet, Natur schützt und die Ärmsten nicht vergisst. Keine leichte Sache. Aber das Problem für die SPD ist, dass man ihr das überhaupt nicht zutraut, nicht zutrauen kann. Stattdessen pflegt man in weiten Teilen der Partei eine nostalgische Sehnsucht nach einer Gesinnungspolitik noch vor der Zeit des Godesberger Programms. Überhaupt ist der Glaube in der SPD an Programmkommissionen ungebrochen. Aber am Ende werden die ganzen schönen Programmparagraphen in den Wahlomaten bis auf Kernaussagen verwurstet, die auch keiner liest. Denn letztlich muss die Programmatik in den Kandidaten selbst erfahrbar sein. Womit wir beim letzten Punkt einer Liste wären, die auch noch länger sein könnte.

PERSONALFRAGEN

Das fünfte Problem – es ist das Personal. Es ist das Hauptproblem. Schauen wir uns die letzten Spitzenkräfte an: Gabriel, Schulz, Nahles – alles flackernde Kerzen, die zu schnell abgebrannt sind, oder von denen man nicht weiß, was sie eigentlich wollten oder warum sie nochmal zurückgetreten sind, aber dass es jedenfalls hasenfüßig wirkte. Wer solche Vorsitzende hat, muss sich nicht über den Niedergang wundern. Und wer solche Vorsitzende wählt, der eben auch nicht. Aktuell hat das dazu geführt, dass zunächst niemand kandidieren wollte. Es ist einfach niemand mehr da, der genügend Hemdsärmeligkeit besitzt. Doch nun fühlen sich viele berufen, ohne wirklich befähigt zu sein. Die SPD träumt davon, ein solch spannendes Auswahlverfahren hinzubekommen wie bei den Vorwahlen der Demokraten in den USA, wo es ja über zwanzig Kandidaten gibt. Aber hier verwechselt man die amerikanische mit der deutschen Öffentlichkeit und das vorrangige High-Noon-Ziel bei den Demokraten: den amtierenden Präsidenten aus dem Weißen Haus zu vertreiben. Hier in Deutschland müssen Regionalkonferenzen im September mit dem Hauptthema „Klimawandel“ konkurrieren. Außerdem war die amtierende SPD-Führung nicht einmal in der Lage oder willens, wenigstens einen Hauch von Stellenausschreibung zu verfassen. Am Ende bekommt die SPD nur Nachrichten wie der FC Bayern in diesem Sommer. Was nicht mal das Schlimmste wäre. Sie könnte vielmehr ein Duo bekommen, mit dem sich zwar eine Mehrheit der Parteimitglieder anfreunden könnte, das aber für die Wählerschaft keine positive Projektionsfläche böte. Denn wenn auch der Vorsitz keine Entscheidung über einen „Kanzlerkandidaten“ bedeutet (das Wort kann man bei der SPD eigentlich nur noch in An- und Abführungszeichen setzen), so braucht es doch auch an der Spitze einer Partei Menschen mit Strahlkraft nach außen und nicht nur Sozialarbeiter nach innen.

Da eine Stellenausschreibung, wie gesagt, fehlt, sollten sich die Parteimitglieder vielleicht derjenigen Max Webers erinnern. Er verlangte folgende Qualitäten bei einem Politiker: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß, Glaube. Für politische Führungskräfte sollten sie besonders verpflichtend sein. Gleichzeitig warnte Weber vor „steril aufgeregten politischen Dilettanten“ und ganz besonders eben vor der Eitelkeit, der „Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz“. Dagegen ist das Fehlen eines starken Rs in der Aussprache wirklich nur ein Kinkerlitzchen.