Wer sich in der Debatte um Russlands Überfall auf die Ukraine auf den Pazifismus beruft, weiß nicht wovon er spricht, analysiert unser Autor und rettet nebenher noch die Ehre des als Appeasers gescholtenen Neville Chamberlain.

Kaum etwas geht mir so sehr auf den Zeiger wie die Behauptung, bei den Leuten, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen, handle es sich um Pazifisten. Das mag daran liegen, dass nur ein paar Autostunden von mir entfernt echte Pazifisten wohnen: die Amish in Pennsylvania. Die Amish sind vor langer Zeit aus dem Oldenburgischen nach Amerika ausgewandert; sie sprechen bis heute ihr altmodisches Platt, das man als Deutscher relativ gut verstehen kann. Die Amish sind fundamentalistische Protestanten; sie lehnen die gesamte Moderne ab. Sie fahren mit Pferdekutschen herum, betreiben Landwirtschaft wie vor 300 Jahren, tragen das, was man damals so im Oldenburgischen trug  (die Männer sehen mit ihren langen Bärten und schwarzen Gehröcken ein bisschen wie ultrafromme Juden aus) — und sie lehnen Gewalt unter allen Umständen ab. 

Wenn also ein böser Mensch auf einen Amish mit dem Messer losgeht, wird der sich nicht wehren; er wird seinen Tod als Gottes unerforschlichen Ratschluss akzeptieren. Wenn dich einer auf die eine Wange schlägt, biete ihm auch die andere Wange dar.

Abgesehen von winzigen Gruppen dieser Art gibt es keine Pazifisten. Keine. Alle anderen — die meisten Protestanten, die Katholiken sowieso, auch Juden und Muslime — gehen davon aus, dass es ein Notwehrrecht gibt und dass dieses Notwehrrecht nicht nur für Individuen, sondern auch für Kollektive gilt. Ein gläubiger Christ, nämlich Kirchenvater Augustinus, hat ein ganzes Werk über die Lehre vom gerechten Krieg geschrieben. Es ist sehr tiefsinnig.

„Soldaten sind Mörder“

In dem Augenblick, in dem man akzeptiert, dass es ein Notwehrrecht gibt, ist man kein Pazifist mehr — es geht dann nur noch darum, unter welchen Umständen Gewalt angewendet werden darf.

Dass viele linke Deutsche (und Briten, Franzosen und Amerikaner) nach dem Ersten Weltkrieg dem Irrtum unterlagen, sie seien Pazifisten, lag vor allem daran, dass es sich beim Ersten Weltkrieg um ein sinnloses Gemetzel gehandelt hatte. (Angesichts der Nazis entdeckten manche, dass es doch so etwas wie einen gerechten Krieg gibt.)  Sätze, die aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges stammen, auf die heutige Situation zu beziehen, ist nicht pazifistisch; es ist nur furchtbar verlogen. “Soldaten sind Mörder”? Das konnte Kurt Tucholsky in den Zwanzigerjahren so sehen (auch deshalb, weil er sich unmittelbar nach dem Krieg an hochgiftiger antipolnischer Propaganda beteiligt hatte). Aber es ist natürlich trotzdem Quatsch.

Moderne Soldaten werden in liberalen Demokratien explizit ausgebildet, um keine Mörder zu werden. Sie sollen Zivilisten beschützen — auch die Zivilisten der Gegenseite — nicht sie niedermähen. (Bevor mir jemand mit Gegenbeispielen kommt: Mir ist bekannt, was Leutnant Calley und seine Truppe am 16. März 1968 in My Lai angerichtet haben. Ich weiß aber auch, wer das Massaker gestoppt hat: Offizier Hugh Thompson Jr., der dafür 30 Jahre später den höchsten Orden bekam, den die amerikanische Armee für Heldentaten zu vergeben hat, bei denen es nicht zu Feindberührungen kam.)

Wer Waffenlieferungen an die Ukraine falsch findet, sollte gegenüber sich und anderen ehrlich sein. Er oder sie sollte sagen: Ich will nicht, dass die Ukraine gewinnt, weil ich auf der Seite von Putin und Russland stehe. Oder: Ich will keine weiteren Waffen liefern, weil ich Angst habe, dass Russland dann einen Atomkrieg führt. Oder: Ich fürchte, dass, wenn die russische Armee eine vernichtende Niederlage erleidet, Russland zerbröselt — mit unabsehbaren geopolitischen Folgen. 

Über all das kann man ja zur Not reden. Nur moralische Argumente sind es halt nicht.

Wer hat ein Recht auf Schutz?

Etwas Anderes, was mir auf den Wecker geht, ist das Insistieren darauf, Ukraine habe die militärische Hilfe verdient, weil es eine Demokratie sei und Russland nicht. Nun stimmt es ja, dass die Ukrainer jetzt schon mehrmals einen Präsidenten abgewählt haben; den Russen ist dieses Kunststück in ihrer ganzen Geschichte noch nie gelungen. Es scheint auch so zu sein, dass dieser Krieg die Ukraine im Inneren — und das muss man beinahe ein Wunder nennen — menschlicher gemacht hat: toleranter gegenüber Minderheiten, weniger korrupt, weltoffen; es scheint auch eine spezifische Form des ukrainischen Humors zu existieren, die man nur großartig finden kann.

Aber wenn es anders wäre? Müsste man der Ukraine die Waffen zur Selbstverteidigung dann vorenthalten? 

1991 überfiel der Irak des Saddam Hussein seinen Nachbarstaat Kuwait. Das Land sollte dem Irak angegliedert werden, also als völkerrechtliches Subjekt verschwinden. Viele Kriegsgegner wiesen damals darauf hin, dass es sich bei Kuwait um eine Autokratie handle. Ein Land ohne freie Wahlen, ohne Frauenrechte, ohne Pressefreiheit. Ja und? Haben nur Länder, die sich in der Vergangenheit tadellos benommen haben, ein Recht darauf, vor militärischen Überfällen geschützt zu werden? 

Als Hitler Österreich 1938 an das Deutsche Reich “anschloss”, war Österreich schon seit fünf Jahren keine Demokratie mehr. Es wurde von einem klerikalen Regime regiert, das — so kompliziert ist mitunter die Welt — gleichzeitig antikommunistisch, antisozialdemokratisch und antinazistisch war. Dollfuß, den die Nazis schon vor dem “Anschluss” umbrachten, war ein reaktionärer Diktator; sein Nachfolger Schuschnigg, der dann ins KZ kam, ebenfalls. Bedeutet das denn, dass der “Anschluss” gerechtfertigt war? Dass österreichische Patrioten, die gegen die Nazis kämpften (es gab ein paar; nicht sehr viele), kein Recht auf bewaffneten Widerstand hatten?

Welcher Schwachkopf würde das behaupten?

Noch eine dritte Sache mag ich nicht gern: wenn im Zusammenhang mit der Ukraine auf das Appeasement verwiesen wird. Leute, lasst bitte den alten Neville Chamberlain in Frieden ruhen! Er hat 1938 das rausgeholt, was rauszuholen war, und hinterher Churchill loyal unterstützt. Die Briten waren 1938 nämlich noch überhaupt nicht für einen Krieg gerüstet: Sie hatten einfach nicht genug Kriegsschiffe und Spitfire — deshalb steckte Chamberlain (übrigens gegen den Widerstand der Labour Party) 50 Prozent des Haushalts in die Aufrüstung. 

Das Appeasement war unvermeidbar

Nicht gerüstet waren die Briten 1938 aber vor allem psychologisch. Der Irrsinn des Ersten Weltkriegs war gerade mal 20 Jahre her. Gegen Herrn Hitler ließ sich die britische Öffentlichkeit nur mobilisieren, wenn der deutsche Diktator bewies, dass er ein unkalkulierbarer Aggressor war. Und da stellte Chamberlain ihm eine Falle: Er ließ Hitler unterschreiben, dass er sich mit der Tschechoslowakei zufrieden geben würde. 

Als deutsche Soldaten am 1. September 1939 Polen überfielen, war noch im hintersten walisischen Dorfpub klar, dass man den verdammten Deutschen nicht trauen konnte. 

Mit anderen Worten: Das Appeasement war tragisch, aber nicht vermeidbar. Nichts davon erinnert an unsere Situation: Wir hatten kein gesamteuropäisches Gemetzel hinter uns, als Putin 2014 die Ukraine überfiel und 2022 den Krieg ausweitete. Die NATO war die ganze Zeit besser gerüstet und besser trainiert als die russische Armee. 

Nein, es geht bei der Betrachtung der Vorgeschichte dieses Krieges nicht um Appeasement: Es geht um Korruption, Lobbyismus und — nehmen wir das Wort doch endlich einmal in den Mund — um Verrat.    

Ein Aspekt der Diskussion, auf den ich darum künftig gern verzichten würde, ist die Gefühligkeit. Zufällig ist mir die Ukraine sympathisch. Zufällig ist mir auch Selenskyi sympathisch. Putin fand ich schon immer zum Kotzen. Die genozidalen Verbrechen, die Russlands Soldateska derzeit an ukrainischen Frauen und Männern — vor allem aber Kindern, immer wieder Kindern — verübt, nehmen mir den Atem. Aber auch, wenn es anders wäre, müsste ich für Waffenlieferungen an die Ukraine sein. 

Die Ukraine im Stich zu lassen, würde nämlich bedeuten, dass es kein Recht auf Selbstverteidigung mehr gibt —für nichts und für niemanden.