Die wenigsten wollen ihn, und trotzdem kommt er: der sogenannte Freedom Day. Warum er ein Fehler ist und eine Selbsttäuschung, und was er mit Homers Odyssee zu tun hat, das lesen Sie hier.

Ach, könnten wir doch wenigstens einmal auf den Mythos hören, sein Wissen und seine Erfahrungen zur Kenntnis nehmen und seine Lehren bejahen. Wie viel Leid und Schuld blieben uns erspart. Dabei ist es so einfach. Nehmen wir Homers Buch zur Hand. Im zehnten Gesang der berühmten Irrfahrt kommt Odysseus mit seinen Gefährten auf die Insel des Windgottes Aiolos, mit dem er sich anfreundet und der ihm beim Abschied den Westwind mitgibt, damit die Abenteurer die Heimat endlich zügig erreichen können. Damit auch nichts schief geht, steckt Aiolos freundlicherweise alle anderen Winde in einen Schlauch, bindet diesen mit einem silbernen Seil feste zu und ermahnt Odysseus, den Schlauch gut verschlossen zu halten. Zehn Tage geht das gut, Ithaka kommt schon in Sicht, da hält es die Mannschaft nicht mehr aus, lässt sich von Neugier übermannen und öffnet den Schlauch. Es kommt, wie es kommen muss: Die bis dahin gefangenen Winde treiben das Boot ab, das Ziel entflieht den sehnsüchtigen Blicken, weitere Jahre gefahrvoller und opferreicher Fahrt warten auf die Seeleute. 

FREIHEIT ALS SELBSTTÄUSCHUNG

Die vergangenen Jahre sind mir manches Mal wie eine Odyssee vorgekommen, aber nie so sehr wie dieser Tage der Pandemie, an denen wir alle Vorsicht fahren lassen sollen, obwohl die Infektionszahlen steigen, Menschen schwer und auf Dauer erkranken oder sterben. Wir brechen den Weg ab, der darin besteht, weiterhin in Innenräumen Masken zu tragen und viel mehr Menschen zu impfen und damit vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Die Booster-Rate liegt bei geringen 58 Prozent der Bevölkerung. Doch weil der Eindruck vermittelt wurde, der Verlauf der Pandemie sei ohnehin nicht zu beeinflussen und der Zumutungen sei es nun genug, wird diese Rate auch in Zukunft kaum aus millionenfach individueller Einsicht oder Eigenverantwortung steigen. Die Ausrufung eines „Freedom Day“ am 20. März wird daher die gleiche Wirkung entfalten wie die unvernünftige Öffnung des äolischen Windschlauchs – sie wird uns zurückwerfen. Denn die Pandemie ist nicht vorbei. Sie macht noch nicht einmal eine Pause.

Gleichzeitig rufen wir eine „Befreiung“ aus. Es fehlt nur, dass am Sonntag Feuerwerkskörper in den Himmel steigen und die Kirchturmglocken läuten. Aber das werden sie nicht tun, denn der 20. März wird zwar als „Freedom Day“ verkauft, aber er ist in Wirklichkeit eine Selbsttäuschung, eine aufgeblasene ideologische Trotzhaltung und ist in etwa so sinnvoll, als würde man in einem Sturzregen den Schirm zuklappen und behaupten, es schiene die Sonne.

Schon die Verwendung des Wortes „Freedom“ („Freiheit“) in diesem Zusammenhang ist eine Anmaßung. Man kann nicht so tun, als wäre dieser Tag auch nur annähernd so etwas wie der 9. November 1989 oder der 21. Februar 2014. Zur Erinnerung: Beim November-Datum handelt es sich um den Tag der Maueröffnung, der das Ende des kommunistischen Honecker-Regimes einleitete. Das Februar-Datum bedeutet den Sieg des sogenannten „Euromaidan“, mit dem in der Ukraine die Freiheitsbewegung triumphierte (die Putin gerade auslöschen will). Aber in unserem Land der verrutschten Begriffe und Gefühle wundert einen gar nichts mehr. Und so stellt sich zurecht die Frage: Wer erkämpft denn jetzt am 20. März welche Freiheit, die es vorher nicht gab? 

GESELLSCHAFTLICHE LANGZEITFOLGEN

Die auch in Deutschland von Talkshow- und Feuilletonintellektuellen geforderte Null-Covid-Strategie hätte wirkliche Freiheitseinschränkungen bedeutet – blicken wir nur nach China, wo ganze Städte abgeriegelt werden. Oder schauen wir – noch viel drastischer – in einige Tierställe, wo beim ersten Aufkommen verschiedener Viren gekeult, vergiftet, vergast wird. Das sind wirklich „eingriffsintensive Maßnahmen“. Eine Maskenpflicht ist es nicht (Österreich führt sie übrigens nach ein paar Wochen gerade wieder ein).

Außerdem lag niemand in Ketten, wenn auch demonstrierende Kurzdenker einen anderen Eindruck vermitteln wollen. Es geht vielmehr darum, ein gefährliches Virus an die Kette zu legen. Denn schwere Krankheiten schränken nicht nur die Freiheit Einzelner ein, ein normales Leben zu führen, also ohne nachteilige Folgen Menschen zu treffen und in Restaurants oder eine Bar zu gehen, sondern in einer Pandemie beraubt ein Virus Massen von Menschen, wenn nicht gar fast alle dieser Freiheit. Viele verlieren sogar ihr Leben. Und was vor allem noch als Spätfolgen durch Long- oder Post-Covid auf diese Gesellschaft, die Wirtschaft, das Gesundheitssystem und die einzelnen chronisch Kranken zukommt, das können und wollen sich die allermeisten nicht vorstellen (das sollten sie aber tun, ich weiß, wovon ich spreche). Die Folgen bleiben nicht individuell, die ganze Gesellschaft muss sie mittragen: durch die Kosten bei jahre- oder jahrzehntelanger Pflege, durch den Verlust an Kreativität, Vitalität und Arbeitskraft, ohne die kein Gemeinwesen prosperieren und existieren kann. 

Nichts schränkt Selbstbestimmung und Freiheit mehr ein als eine schwere Krankheit.

In der Bekämpfung einer Pandemie geht es mithin nicht nur um Gesundheit, sondern auch um Freiheit – die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft. Es ist tatsächlich wie in einem Krieg – die partielle Gleichstellung ist hier erlaubt – denn in der Pandemie braucht man ebenso viel Gemeinsinn, um die Herausforderungen bestehen zu können. Eine Pandemie ist immer eine Konfrontation mit schmerzhaft Notwendigem. Krankheiten gleichen daher Kriegen: Alle zur Verfügung stehenden Mittel müssen mobilisiert werden, um eine Niederlage zu verhindern. Und keiner kann eine Pandemie oder einen Krieg als Einzelner bestehen. Die Menschen – ich glaube, ich habe es ungefähr so bei dem großen Liberalen Isaiah Berlin gelesen – sind in hohem Grade voneinander abhängig, und kein Handeln ist so privat, dass es sich auf das Leben der anderen in keiner Weise auswirken würde. Absolut frei geht nicht, wir geben immer einen Teil unserer Freiheit auf, um die umfassende Freiheit bewahren zu können. Oder wie John Locke sagte: Ohne Gesetz gibt es keine Freiheit.

KEIN SIMSALABIM

Und doch wird von den meist liberalen Befürwortern des „Freedom Day“ die Essenz der Freiheit auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung reduziert. Aber die Eigenverantwortung, so gut ich sie auch finde, scheitert gerne an Leichtsinn, Überheblichkeit und Fehleinschätzung – und in der besonderen Situation einer Pandemie ist das verheerend, wie wir schon an der Impfquote erkennen können. Man kann natürlich auf seine Selbstbestimmung und seine Eigenverantwortung bestehen und bei einem Orkan durch den Park laufen. Aber es wäre dumm, unvernünftig und sonderbar. Und mir nützt es als eigenverantwortlich vorsichtig Handelndem nichts, wenn ich im Fitnessclub von einem selbstbestimmt ungeimpften, eigenverantwortlich unvorsichtig Handelnden angehustet werde. Die negative Freiheit, etwas nicht erleiden zu müssen, zum Beispiel eine Impfung, steht der positiven Freiheit, etwas beliebig und ohne Zwang tun zu können, letztlich im Weg, wenn das Handeln wegen einer pandemischen Situation ein unkalkulierbares Risiko geworden ist.  

Und dann auch diese Sätze: „Wir haben es verdient! Zwei Jahre haben wir durchgehalten. Jetzt reicht es.“ Sind das nicht Biggest-Loser-Sprüche? Nämlich in der Art: Wir haben jetzt so lange Diät gehalten, jetzt möchte ich endlich wieder eine Schweinshaxe vertilgen. 

Das Wort „Freiheit“ ist in der Pandemie kein Simsalabim – und danach ist alles anders und wieder gut.

Wenn der Vorrang der „Selbstbestimmung“ verlangt wird, dann bedeutet es immer auch, dass der Staat seine Schutzpflicht dispensiert. Beim § 218 war er sich des Dilemmas noch bewusst, und so formulierte man einen Kompromiss. Aber diese seriöse, wirklichkeitsnahe Fähigkeit bzw. dieser Wille, einen Wertekonflikt zu erkennen und entsprechend zu handeln, nimmt eher ab denn zu. Achten Sie in den nächsten Jahren darauf! Es wird von Liberalen und sogenannten „Progessiven“ in uneingestandener Eintracht vorangetrieben. 

Es gibt nur einen Weg aus einer Pandemie – er liegt nicht in Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung, in Eigenverantwortung oder einem repressiven Null-Virus-Regime. Der Ausweg liegt in Impfungen und in neuen Medikamenten, also in naturwissenschaftlichem Fortschritt. Ihn müssen wir fördern, ihm sollten wir vertrauen. Der voreilige „Freedom Day“ ist ein Irrtum.