Die Fundamente der Autokratie sind erschüttert, doch die Zukunft ist offen

Mitten im Winter erlebt Russland einen politischen Frühling. Von Wladiwostok im Osten über das eisige Jakutsk in Sibirien (- 50 Grad Celsius) über die zahlreichen russischen Provinzstädte bis nach Moskau und St. Petersburg reichten die Proteste gegen Putins Regime. Hunderttausende waren bei Frost auf den Beinen. Damit steht bereits jetzt fest: der Gewinner der ersten Runde des russischen Machtkampfes heißt Alexei Nawalnyj. Der russische Oppositionsführer hat nach seiner Rückkehr hoch gepokert und gewonnen: er emotionalisierte seine Anhänger mit einem Video über Putins Palast am Schwarzen Meer und rief sie mitten im Winter zu Protesten auf. Damit blieb er seinem Thema Korruption treu und erfand sich doch neu, indem er die Auseinandersetzung mit Putin vom Internet auf die Straßen Russlands verlagerte. 

Samstagmorgen war unklar, wer Nawalnyjs Aufruf folgen würde. Das Regime sanktioniert die Teilnahme an Demonstrationen hart und willkürlich. Doch schon früh am Tage wurde deutlich, welche Macht der „Berliner Patient“, wie er bis vor Kurzem in den Staatsmedien genannt wurde, mittlerweile hat. Im Fernen Osten begannen die Proteste am Pazifik und in anderen Landesteilen folgte die Bevölkerung ebenfalls dem Aufruf der Opposition. Eine unbekannte Zahl von Bürgerinnen und Bürgern protestierten auf den Straßen und Plätzen, Tausende wurden verhaftet. Nawalnyjs Machtdemonstration war geglückt; weder in Russland noch im Ausland kann man ihn ignorieren. 

Doch es zeigte sich auch, dass es in Russland um mehr geht als nur den Konflikt zwischen zwei Politikern. Im Livestream der Oppositionssender, die Protestierende interviewten, wurde deutlich, dass Nawalnyj längst zu einem Symbol für eine weit verbreitete Unzufriedenheit avanciert ist. Die mehrheitlich jungen Leute gingen wegen Nawalnyjs Aufruf, aber durchaus selbstbewusst für ihre eigenen Anliegen auf die Straße. Sie wehren sich gegen Stagnation und Repression, für die Putins Regierung mittlerweile steht.  Sie fordern ein europäisches Russland. Die Berichte über Putins Palast haben nur das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht. 

Die Proteste vom Samstag haben gezeigt, dass die lähmende Kombination aus Angst und Apathie, die das Regime trägt, durchbrochen werden kann. Für Nawalnyj und sein Team geht es nun darum, die Dynamik des Protestes aufrecht zu erhalten und zu steuern. Dass die Legitimität Putins schweren Schaden genommen hat, dass von der Euphorie der Krim-Eroberung wenig geblieben ist, ist schon jetzt deutlich. Die Frage ist, wie es weitergeht. Schon jetzt ist klar, dass der politische Kampf mit Verve nach Russland zurückgekehrt ist. Die Jahre des Dornröschenschlafs unter der Berieselung der Staatsmedien sind vorbei.

Eurasischer Krisenbogen 

Das Beispiel Belarus zeigt, dass sich eine Auseinandersetzung zwischen Regime und Bevölkerung über Monate hinziehen kann. Wird Moskau zum nächsten Minsk? Ziel der Opposition wird es sein, eine breite Bewegung derjenigen zu schaffen, die keine Angst mehr vor Repressionen haben. Nawalnyj selbst wird auf absehbare Zeit nur ein Symbol sein, er bleibt in Haft, doch sein Frau Julia, und seine Mitstreiterinnen Ljubow Sobol und Kira Jarmysch könnten in den Vordergrund treten. Wie in Belarus so spielen auch in Russland Frauen in der Opposition eine zunehmend wichtige Rolle. Sie sind die eigentlichen Heldinnen im eurasischen Krisenbogen, der von Brest bis nach Wladiwostok reicht.

Die Zukunft des Machtkampfes ist offen. Dem Regime stehen die unermesslichen Ressourcen des russischen Staates zur Verfügung. Wie in der Ukraine und in Belarus gilt: solange die Befehlskette der Sicherheitskräfte steht, Polizei und Armee loyal bleiben, sind die Möglichkeiten der Opposition begrenzt. Der Leviathan ist übermächtig. Doch auch die russischen Eliten wissen: Regieren gegen die Mehrheit der Bevölkerung fordert einen hohen Preis. So werden die kommenden Wochen zeigen, wer loyal zum Kreml bleibt und ob die Herrschaft bröckelt. Mittelfristig geht es um die Monate bis zur Dumawahl im Herbst – bis dahin werden wir wissen, welche Seite die Oberhand behält. 

Der Konflikt in Russland wird auch international Wellen schlagen. Die neue amerikanische Regierung ist dabei besser aufgestellt als die Europäer: mit Antony Blinken hat Präsident Biden einen ausgewiesenen Osteuropakenner zum Außenminister berufen, der sich in die Tradition der Menschenrechtspolitik stellt. In Europa hingegen träumt Macron von détente mit Moskau und die Regierung Merkel – die Bundeskanzlerin vorneweg – hat sich in der Verteidigung der russischen Pipeline NordStream2 verrannt. Tatsächlich sollten die transatlantischen Partner zusammenarbeiten und sich fragen, wie der Westen adäquat auf die steigenden Repressionen in Russland reagieren kann. Neue, gezielte Sanktionen stehen auf der Agenda. Doch in Deutschland scheinen nur wenige zu begreifen, was auf dem Spiel steht. Die Befürworter einer aktiven Russlandpolitik finden sich in der Presse, der Wissenschaft, den Think Tanks – aber kaum in der Politik.