Wie konnte jemand wie Donald Trump an die Spitze der USA geraten – und beinahe einen Staatsstreich anzetteln? Eine ideologische Spurensuche, die vor unserer eigenen Tür endet. Von Bruno Heidlberger

„Nichts wird uns stoppen. Sie können es versuchen und versuchen und versuchen, aber der Sturm ist hier und steigt auf D.C. herab in weniger als 24 Stunden. Dunkelheit zu Licht!“ Das schrieb die Veteranin der US-Luftwaffe Ashley Babitt auf Twitter. Einen Tag später war sie tot, erschossen bei dem von ihr angekündigten Sturm. Ashley war Impfgegnerin und Maskenverweigerin. Joe Biden hielt sie für einen „pädophilen Vergewaltiger“. Auf Twitter forderte sie die Hinrichtung politischer Gegner.

Als der Sturm losbrach, sah die Welt irritiert und gebannt zu. Kaum jemand hielt es für möglich, was er da sah – dass Donald Trump ernst macht. Aber nicht allein Trump und seine Berater hatten bereits vor dem Wahltermin zum „Widerstand“ gegen den prognostizierten „Wahlbetrug“ getrommelt, auch Rechtsextremisten waren vorn dabei. Verschwörungstheorien aus den sozialen Netzwerken spielten beim Sturm auf das Kapitol eine entscheidende Rolle. Fox News, One America News Network, Newsmax und vor allem Twitter machten es möglich, die „tödlichen Ereignisse vom 6. Januar anzufachen,“ wie 350 Mitarbeiter von Twitter erklärten. Trump twitterte am 19. Dezember über „den großen Protest am 6. Januar“, „wild“ werde es da zugehen. „Stürmt das Kapitol“ kam in den 30 Tagen vor dem 6. Januar laut New York Times in 100.000 Postings im Netz vor. Zur Sicherung seiner und der Macht einer schwindenden weißen Mehrheit ist Trump und seinen Anhängern jedes Mittel recht, auch ein Blutbad. Und sie fühlen sich im Recht. „Wir respektieren die Gesetze, wir sind gute Menschen. [….] Wir wollen unser Land zurück. Wir protestieren für die Freiheit” brüllte ein selbsternannter Patriot ins Mikrofon.

Die Feinde der offenen Gesellschaft darf man nicht tolerieren

Dass es so weit kommen konnte, damit hatten die wenigsten gerechnet, obwohl Trump immer wieder eindeutig erklärt hatte, dass er sich „seinen Wahlsieg“ nicht nehmen lasse. Seine Reden und Signale waren eindeutig an die rechtsextremen Verfechter von „weißer Überlegenheit“ gerichtet: „Proud boys stand back and stand by“. Wollte Trump das Chaos – um den Notstand auszurufen, um an der Macht bleiben zu können? Wollte Trump das Parlament „völlig handlungsunfähig“ machen und „zugleich ein unkontrolliertes Blutbad“ anrichten, wie der Historiker Wolfram Siemann vermutet? Hierzu passt Trumps mehrfache Ankündigung, man werde sich am 6. Januar noch wundern. In den vergangenen Wochen hatte Trump Schlüsselpositionen bei Militär und CIA neu besetzt. Zeugenaussagen und Videos machen deutlich: Milizionäre wollten nicht nur die Parlamentarier unter Druck setzen. Sie suchten nach Nancy Pelosi, der obersten Demokratin im Kongress, und nach republikanischen „Verrätern“, wie Vizepräsident Mike Pence. Einige der Putschisten waren zu allem bereit – zu töten und auch zu sterben. In den sozialen Netzwerken gab es zuvor Absprachen über Ausrüstung, Waffen und Organisation. Man verfügte über Funkgeräte, Anti-Bären-Spray, Eisenstangen und Rohrbomben. Da entlud sich nicht spontan eine blinde Wut.

Die Gewalttäter spielten, wie der Amerika-Experte Andrian Keye betont, mit dem „kollektiven Unterbewusstsein“ und wissen um die Macht der Bilder und ihrer dauerhaften Wirkung und ihres Schockwerts. Ihren Ursprung hätten ihre Bilder in der „amerikanischen Ölmalerei, die schon Jahrhunderte vor Trump ein idealisiertes Zerrbild des Landes feierte“. Die Aufständischen exekutierten den Willen Trumps. Sie wollten den demokratischen Prozess mit Gewalt umkehren. Das war absehbar. Anhänger von Trump hatten bereits Ende April geübt. Sie stürmten das Parlament von Michigan, bedrohten, bewaffnet mit Sturmgewehren, Abgeordnete und forderten sie auf, die stay-at-home-Verordnung zurückzunehmen. Zuvor hetzte Trump seine Leute auf, sich ihre Freiheit zurückzuholen: „Liberate Michigan, Liberate Minnesota, Liberate Virginia.“

Der Sturm auf das Kapitol markiert eine Zäsur. Nicht nur für Amerika, auch für die Glaubwürdigkeit der liberale Demokratie in der Welt. Ein Putsch fand nicht statt – aber ein Aufstand gegen die Wahrheit, gegen die offene Gesellschaft, gegen kulturelle und ethnische Vielfalt, demokratische Gleichheit und Kosmopolitismus. Die amerikanischen Institutionen mit ihrer demokratischen Tradition haben erheblichen Schaden genommen. Was bleibt, sind die demütigenden Bilder von Gewalt, die Verunsicherung und die Angst. Trump weiß, dass seine Anhänger weiter an ihn glauben. Sie sind Teil einer globalen, gut vernetzten konservativen Revolution, die nicht so schnell verschwinden wird. Der Sturm ist Ausdruck eines globalen Konflikts zwischen liberaler Demokratie und nationalem Antiliberalismus. Im Internet feiern die Aufständischen und ihre Unterstützer in Deutschland, trotz aller Kritik, die Tat als „legitimen demokratischen Akt, der moralisch zum Widerstand berechtigt,“ wie der Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, Marin Sellner. Sie fühlen sich als Patrioten, die die Freiheit vor einer angeblich korrupten kriminellen Elite schützen müssten, sie glauben an ihre rechte Revolution – auch ohne Trump. Als eine Alternative zum angeblich „chaotischen, planlosen Happening“, zum „nihilistischen Sturm“, empfiehlt Sellner „die Belagerung.“ Auch der Faschismus bezog als Bewegung der Revolte gegen die liberale Demokratie seine Dynamik aus zerstörerischen Kräften. Er hatte seinen Ausgang 1922 mit nur 20 000 „Schwarzhemden“ mit dem Marsch auf Rom. In Italien ging das Konzept 1922 auf, in Deutschland 1933.

Trump, ein Kunst- und Medienprodukt

Trump, wie der Sturm auf das Kapitol, sind auch ein Produkt von social Media und der Zerstörung des öffentlichen Raums. Trump selbst ist ein Kunst- und Medienprodukt einer digitalen Revolution, die ihn in einer Fernseh-Reality-Show zu einer einflussreichen TV-Persönlichkeit und als Twitter-Autokraten mächtig gemacht hat. Verschwörungstheorien wurden vor allem von QAnon-Trump-Unterstützern während Trumps Wahlkampfes verbreitet, wie etwa jene, Joe Biden sei pädophil. Auch Trumps Sohn teilte auf Instagram diesen Vorwurf. Republikanische Anhänger von QAnon kandidierten, um Amerika angeblich vor dem Sozialismus zu retten.

Nach einer aktuellen Umfrage glaubt jeder dritte Republikaner-Wähler, die QAnon-Erzählung sei wahr. Vor den Wahlen meldete sich ‚Q‘ mit der Botschaft No 4627, dass die Demokraten den Satan verehrten: ‚Eine Partei löscht Gott aus‘. Auch Trump teilte einen Tweet, in dem George Soros beschuldigt wird, hinter der ‚Black Live Matter‘-Bewegung zu stehen. In einem Interview verkündete Trump, Joe Biden werde von ‚dunklen Mächten gesteuert‘. In der aus dem englischsprachigen Internetforum 4chan im Oktober 2017 entstandene QAnon-Bewegung gibt es keine Begrenzung durch Fakten und wissenschaftliche Falsifikation. Der Phantasie ist, wie in der Welt der Märchen, keine Grenzen gesetzt, es wird Anspruch auf eine eigene Realität erhoben. Jake Angeli, der Büffelmann, in seiner Heimatstadt Phoenix, Arizona, als „QAnon-Schamane“ bekannt, hat, wie Andrian Keye notiert, nicht nur ein Buch über den „Deep State“ geschrieben, sondern bietet auch Kurse wie „spirituelle Reinigung“ oder „Eintritt in die göttliche Matrix“ an. Angeli beschreibe, „wie es irgendwann Klick gemacht und er plötzlich den Lauf der Welt verstanden habe“.

Der Sozialdarwinist Trump macht infantile Machtträume wahr

„Der amerikanische Spieleentwickler Adrian Hon verglich QAnon mit sogenannten Alternate-Reality-Games“, notiert die Zeit-Journalistin Sophie Garbe, „bei denen reale Ereignisse mit einem Strategiespiel verschmolzen werden.“ Theorien lassen sich weiterspinnen und reale Ereignisse einspinnen. Die Gemeinde ist der Resonanzboden, nicht die Wissenschaft. So erzeuge QAnon einen „spieleähnlichen Sog“, eine „Sucht“. Das Gefühl, dass man mehr wisse als andere, mache abhängig. In ihrer geschlossenen Gedankenwelt haben diese Menschen Erweckungserlebnisse, die an Sekten erinnern. Man könnte QAnon als Teil eines kollektiven Willens zur eigenen gefühlten Wahrheit, zum eigenen Wahn und zur Leugnung des Realitätsprinzips ansehen und Donald Trump als ihren Star. In einem Land, das durch radikalen Individualismus, extreme Religiosität und durch Hollywood mit ihren Superhelden geprägt ist, ist Trump der ideale Entertainer, der nicht mehr auf Fakten, sondern auf Fantasy setzt.

Jemand, dem gottähnlich, jenseits moralischer Skrupel erlaubt ist, Affekte und Ressentiments auszuleben und infantile Machtträume scheinbar wahr macht. Dieses irrationale Gemisch macht die politische Schlagkraft und die Gefährlichkeit dieser Bewegung aus. Die magisch denkenden Wähler wählen einen magisch denkenden postmodernen Entertainer, der Wohlstand für alle verspricht, aber Sündenböcke, Sozialdarwinismus und noch mehr soziale Ungleichheit liefert, „er predigt Nationalismus statt Kosmopolitismus, er ist das Volk und nicht sein gesichtsloser Repräsentant, er ist nicht gewählt, sondern erwählt,“ bemerkt Torsten Körner in seinem Essay Das Zeitalter der Clowns. „Schon Adolf Hitler und Mussolini“ seien „von Zeitgenossen als Clowns beschrieben worden“, die zu Beginn von niemandem Erst genommen wurden.

Im Jahr 2007, als Trump für viele noch als Witzfigur galt, hielt er seinen jüngsten Sohn Barron in die Kamera. „Mein Sohn Barron ist stark, clever, zäh, bösartig, gewalttätig und smart – das sind ideale Voraussetzungen, um ein Unternehmer zu werden.“ Trump versteht die atomisierte Gesellschaft als Ort der natürlichen Auslese. Er schimpfte unentwegt auf die haters and losers; big shots, wie ihm, könne das Virus nichts anhaben. In Tennessee forderte eine Demonstrantin: „Sacrifice the weak!“ „US-CEOs haben lange von Trump profitiert, doch schwenken nun kurz vor dem Ende der Präsidentschaft radikal um. Deutlich zu spät, finden Kritiker“, notiert das Handelsblatt. Am Anfang von Trumps Amtszeit seien „CEOs gern bereit“ gewesen, „sich in diversen Gremien mit Trump zu treffen“. Zu gut seien „die Chance, nach Jahren von Regulierungsoffensiven und höheren Steuern die Wirtschaftspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen“, heißt es weiter. Trumps rassistische Äußerungen im Wahlkampf, seine sexuellen Übergriffe und Lügen – alles schien vergessen. „Das passiert, wenn wir unsere moralischen Prinzipien unseren vermeintlichen Geschäftsinteressen unterordnen“, sagte etwa der Chef der Ford Foundation, Darren Walker, der „New York Times“.

„Ich mag den Typen, der spricht meine Sprache“

Der Egomane Donald Trump, der sich nach Berichten seiner Nichte Mary, „wie ein dreijähriges Kind unter Liebesentzug verhält“, ist ein Repräsentant des autoritären narzisstischen Charakters, der es den von ihm verachteten liberalen und intellektuellen Eliten endlich mal zeigen will. Selbst tief gekränkt und sich immer wieder zum Opfer stilisierend macht er sich zum Stellvertreter von Millionen Abgehängter. Er bestätigt und schürt ihre Ressentiments. Die Kindheit von Trump sei „ein Alptraum gewesen mit Traumata, zerstörerischen Beziehungen und einer tragischen Kombination von Vernachlässigung und Missbrauch.‘“ Als sein Vater im Sterben lag, sei er ins Kino gegangen. Trumps Ego ist „eine äußerst fragile Barriere zwischen ihm und der realen Welt“ – das sei „schon immer so gewesen,“ schreibt Mary Trump in Too Much and Never Enough: How My Family Created the World’s Most Dangerous Man. Ethische Prinzipien und moralische Werte seien ihm fremd, er sei der „gefährlichste Mann der Welt.“ Auch seine Schwester, Maryanne Trump Barry, klagte über die „gottverdammten Tweets und Lügen“ ihres Bruders. „Donald ist grausam“, sagt die 83-Jährige.

Trumps Persönlichkeit entspricht den von dem amerikanischen Psychoanalytiker Heinz Kohut beschriebenen Merkmalen eines pathologischen Narzissten mit einem schwachen Selbst, das nur über die Vortäuschung der eigenen Grandiosität stabilisiert wird  und immer Bestätigung benötigt. In seiner Analyse der Rundfunkreden von Martin Luther Thomas, einem faschistischen Prediger der dreißiger Jahre, schreibt Adorno, der faschistische Führer gebe ein „Modell“ für das Verhalten, das seine Anhänger nachahmen sollen: „Sie sollen sich nicht zivilisiert benehmen, sie sollen schreien, gestikulieren, ihren Gefühlen freien Lauf lassen.“ Das löst Spannungen zwischen dem, was man sagen darf und dem was man sagen will. Er spricht die Sprache der sozial und kulturell Ausgeschlossenen und Frustrierten. So wie es ein junger Mann im Swing State Pennsylvania kondensiert: „Ich mag den Typen, der spricht meine Sprache.“  Letztes Ziel des „Gefühls-Befreiungs“-Tricks ist „die Begünstigung und Unterstützung von Ausschreitung und Gewalttätigkeit“.

Für Rechtsextremisten, QAnon, Querdenker und Evangelikale gilt Trump als Anführer eine Kulturrevolution gegen die liberalen Errungenschaften von 1968, ihr Erlöser. Am angeblichen „Deep State“, der eine Diktatur errichten wolle, sei die globale Bankenelite, die Juden, beteiligt. Die Theorie ist zutiefst antisemitisch und zielt im Kern auf den emanzipativen Liberalismus. Es ist aber nicht so, „als besäße die Rechte ein Monopol auf das Gefühl, von Mächten beherrscht zu werden, auf die Bürger keinen Einfluss“ hätten, bemerkt Thomas Assheuer in Die Zeit. „In der linken Version“ trage „der Dämon den Namen Finanzkapitalismus, und auch sie kommt nicht ohne eine – wenngleich realistisch klingende – Verschwörungsfantasie aus“. Wie Deutschland ist auch Amerika in den vergangenen Jahrzehnten bunter, diverser und kulturell liberaler geworden. Während der eine Teil moderne und weltoffene Ansichten vertritt, verteidigt der andere religiösen Fundamentalismus und Nationalismus aus Überzeugung. Den Republikanern gehen die Wähler aus. Im Jahre 2050 könnten die Weißen erstmals eine Minderheit sein und ihre kulturelle Hegemonie verlieren. Trumps Anhänger erlebten den Wahlkampf umso mehr als eine Art Endkampf um die weiße Vorherrschaft.

Teile und herrsche: Südstaatenstrategie

Trump hat die Spaltung des Landes nicht geschaffen, sondern die bereits bestehende rücksichtslos ausgenutzt und vertieft. Er hat die Sorgen und Ängste seiner Mitbürger in eine Waffe gegen die demokratischen Institutionen verwandelt. Die Revolte ist das Ergebnis einer systematischen Politik der Hetze und Spaltung, des Schürens von Neid und Ressentiments. Trump ist kein Ausrutscher. Er ist der vorläufige Höhepunkt einer Geschichte der autoritären Verführung, die in ihren Ausgang in den 60er Jahren nahm. „Das Trump-Lager ist das Ergebnis einer lange laufenden Mobilisierungsstrategie der Republikaner“, konstatiert Demokratieforscher Daniel Ziblatt. Die Partei habe „mit nationalistischen Themen und den Ressentiments des weißen, christlichen Amerikas seit vielen Jahren gespielt, und zwar sehr erfolgreich“.  So folgt sie Carl Schmitt, dem Vorbild der Neuen Rechten und seinem Verständnis von Politik. Lüge, Hetze und Macht, statt Wahrheit, Solidarität und Wohlstand für alle – die autoritäre Versuchung ist nach wie vor groß, überall und zu jeder Zeit. In einem Interview verweist der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla auf ein allgemeines Muster reaktionärer Politik. „Für die amerikanische als auch die europäische extreme Rechte“, erläutert Lilla, „sei die Gegenwart das Produkt eines Bruchs.“ Sie teilten „eine reaktionäre Abneigung gegen sämtliche gesellschaftliche Errungenschaften der Liberalisierung in den Sechziger- und Siebziger Jahren“.

„Die politische Polarisierung, die wir heute beobachten,“ kommentiert der Historiker Volker Depkat, fuße „auf einer tiefgehenden gesellschaftlichen Polarisierung seit den Sechzigerjahren. Der 5. November 1969 markiert eine Zeitenwende, als Richard Nixon zum Präsidenten gewählt wurde. Obwohl in Amerika die globale Kulturrevolution ihren Ausgang nahm, wurde eine Person Präsident, die für „Law und Order statt für Freiheit und Befreiung eintrat und das Land auf einen politischen Kurs brachte, der die Vereinigten Staaten bis heute prägt“, macht Manfred Berg, Professor für Amerikanische Geschichte an der Uni Heidelberg deutlich. Der junge republikanische Stratege Kevin Phillips, so Berg, habe bereits 1969 „eine populistische Revolte der amerikanischen Massen […] [diagnostiziert] gegen die Kaste der Mandarine des liberalen Establishments“. Seiner Partei empfahl Phillips, konsequent auf die „negrophoben Weißen“ des Südens zu setzen. Die „Südstaatenstrategie“ ging in den folgenden Jahrzehnten auf. Berg notiert: „Die Republikaner wurden zum Sprachrohr der religiösen Rechten und all derjenigen, die Gleichheit und Bürgerrechte für Schwarze als Bedrohung betrachteten“.  Phillip Adorf kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Wähler, die Trump ins Weiße Haus getragen haben, bilden keineswegs den „Narrensaum“ (Assheuer) oder „den radikalen Rand der Republikanischen Partei, sondern vielmehr ihr ideologisches Herz“. Die Republikanische Partei muss dabei als „ein Konstrukt von beeindruckender ideologischer (sowie auch demografischer) Homogenität“ verstanden werden.

Ein Angriff auf Freiheit und Gerechtigkeit

Der weiße Rassismus richtete sich vor allem gegen die liberalen Eliten. Eliten-Bashing ist in den USA nichts Neues. Ronald Reagan war einer der Ersten, der „Intellektuelle“ als angebliche Machtkaste in den Fokus der öffentlichen Debatte rückte und zur Verachtung freigab. Gleichzeig nahm er die wirklichen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Militär aus dem Schussfeld. Noch bevor es zum „Klassenkampf“ kam, mutierte der „Klassenkampf“ unter Reagan zu einem Kulturkampf. In seiner 1964 für den erzkonservativen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater gehaltenen Rede A Time for Choosing konstruierte Reagan ein konservatives Weltbild, dem seither republikanische Wähler folgen.  Reagans Kalkül, linksliberale Intelligenz und Arbeiterschaft zu spalten, war aufgegangen. Ein Moment der kulturellen Kluft zwischen den Klassen besteht darin, dass die „white working class“ auf Lehrer, Collegedozenten, Ärzte, Anwälte, höhere Angestellte und auf Manager, die Collegekids seien, schlecht zu sprechen ist – nicht aber auf Reiche. Der wenig kultivierte Trump gilt als einer von ihnen. Er spricht ihre Sprache. Hillary Clinton dagegen verkörpere nach Ausführungen der US-amerikanischen Juristin und Geschlechterforscherin Joan C. Williams, „geradezu die dorky arrogance, die idiotische Anmaßung und Selbstgefälligkeit der ‚Leistungsträger‘-Elite“.

An Reagans Kampfbegriff von der linksliberalen intellektuellen Elite hat Trump nahtlos anknüpfen können, auch weil die Demokraten „über das Engagement für Minderheitenrechte die ökonomischen Sorgen ihrer wichtigsten Klientel vergaß, der Mittelklasse“. Die Bürgerrechtsbewegung habe den Demokraten in den USA jahrzehntelang, und völlig berechtigt, ihre Agenda vorgegeben, betont der Literatur- und Kulturwissenschaftler Jörg Häntzschel. Es waren eher kulturelle als soziale Projekte: Schutz von Minderheiten, Geschlechtergleichstellung, Political Correctness bis zu den Transgender-Toiletten. „Über hundert Jahre“ hätten „Progressive sich vor allem um die Armen“ gekümmert, die „Mittelschicht aber außen vorgelassen“, die sich durch rigorose Sparsamkeit und Selbstdisziplin ein Mittelschichtleben ermöglichten. Joan C. Williams veröffentlichte nach dem Wahlsieg Trumps im Harvard Business Review einen Essay über die Gründe von Angehörigen der weißen „working class“ Trump zu wählen. Ihr Beitrag ist 3,2 Millionen Mal abgerufen worden. Sie meinte, die Politiker der Demokraten hätten es versäumt, die Würde dieser Menschen zu respektieren.

Sind die Liberalen schuld an den Folgen des Neoliberalismus?

Obama und Trump wirken wie Verkörperungen der gespaltenen Nation. Ein Grund für Trumps Sieg ist auch die Politik der Präsidenten, die seit dem Ende der Koalition des New Deal regierten: Reagan, Bush, Clinton, Bush und Obama. Nur zwei davon waren Demokraten. Alle teilten die Euphorie für den Freihandel, ohne sich ernsthaft um die Folgen für die Arbeiterschicht zu kümmern, deren Jobs nach Mexiko, China oder Vietnam verschwanden. Nachdem die New-Deal-Koalition zerfallen war, begannen die Republikaner mit der Revision des sozialstaatlichen Konsenses. Das Credo der US-Konservativen, „dass Steuersenkungen für Reiche, Deregulierung für Unternehmen und Kürzungen der Sozialausgaben im Interesse aller hart arbeitenden Amerikaner lägen, fand in den Mittelschichten immer mehr Resonanz“, so Manfred Berg.

Mit dem Sieg von Richard Nixon bei der Präsidentschaftswahl 1968 stiegen neoliberale Ökonomen auch in die höchsten Ämter in Washington auf. Aber erst Roland Reagan begann unter dem Einfluss von Milton Friedman und Friedrich von Hayek mit der Umverteilung von unten nach oben und der Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates. Ideologische Unterstützung fand er bei den Alt-Right. Auch heute profitieren die Reichen und die Superreichen wieder von Trumps Steuerreform, während die Mittelschichten leer ausgehen und in den Migranten und anderen Minderheiten Sündenböcke finden, die für den Sozialabbau verantwortlich gemacht werden. Ohne die Steuern der wohlhabenden Mittel- und Oberschichten gibt es kein Geld für dringend notwendige Infrastrukturprojekte wie Straßen, Brücken, Wasserleitungen. Gesundheitsversorgung ist für Niedrigverdiener kaum zu finanzieren. Die Ärmsten trifft das am stärksten.

Schon damals praktizierten die Konservativen eine zynische Manipulationsstrategie, mit der nicht nur Trump, sondern auch die AfD erfolgreich „den liberalen Eliten“ allein die Schuld an den Folgen des Neoliberalismus in die Schuhe schieben konnte, während sie die Staatskasse plünderten. Der republikanische Sprecher des US-Repräsentantenhauses. Newt Gingrich, befeuerte Ende der 1990er Jahre „die ideologische Polarisierung und die berüchtigten Kulturkriege über Schulgebet, Abtreibung, Homosexualität, Waffenbesitz und Minderheitenförderung“ und habe so erreicht, meint Berg, dass das weiße Middle America gegen seine ureigenen wirtschaftlichen Interessen gestimmt habe.

Ein Ergebnis der über Jahre geschürten Wut ist die Tea-Party-Bewegung, die die republikanische Partei de facto kaperte. „Patrioten“ wurden auf dem Höhepunkt der Finanzkrise dazu aufgerufen, sich Obama zu verweigern. HausbesitzerInnen mit niedrigem Einkommen, die ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten, wollte Obama die Schulden erlassen – viele Latinos und Schwarze. Die weiße Mittelschicht fürchtete eine große Umverteilung und gab der Regierung Schuld an der geplatzten Kreditblase. In Obamas Gesundheitsreform sahen sie eine Wiederholung des Schuldenerlasses. Trump als Präsident öffnete die Büchse der Pandora. Er machte es möglich, sich offen zum Rassismus zu bekennen, ohne gesellschaftliche Ächtung zu riskieren. Plötzlich standen die Rechtsextremisten nicht mehr im Abseits, sondern galten als „gute Leute“ (Trump). Gleichzeitig beteiligen sich immer mehr Weiße nicht nur an den Black-Lives-Matter-Protesten, viele hinterfragen auch ihren persönlichen Beitrag zum Rassismus. Der Erfolg der Senatswahlen in Georgia – ein Jude und ein Schwarzer zogen für die Demokraten ins Parlament ein – ist ein großer Erfolg für die Demokratie. Amerika ist heute weltoffener und demokratischer, aber auch polarisierter.

Was können wir lernen?

Trump hat geerntet, was nicht nur in den USA seit 1968, aber vor allem seit 1989 in der westlichen Welt gärt. Es ist der rechtskonservative Backlash gegen „den Vorwärtsmarsch der Freiheit und des Liberalismus“. Diese Phänomene sind, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash formuliert, Teil einer „antiliberalen Konterrevolution“, die „nicht von allein wieder abebben“ werde. Ihre radikalen Ausläufer, sei es in Russland, Osteuropa, Türkei, China oder den USA, stellen „sich offen gegen die freiheitliche Gesellschaftsordnung“.

Die antiliberalen Gegenbewegungen sind ein Reflex auf Globalisierung und Modernisierung. Alte Sicherheiten und Strukturen geraten ins Wanken. Verängstige und Antimoderne suchen Schuldige: Flüchtlinge, Merkel, den Islam, das Finanzkapital, das System, die linksliberale, kosmopolitische neue Mittelklasse und ihre politischen Repräsentanten, die auch noch am Aufstieg der Autoritären schuld sein sollen. In Amerika Hillary Clinton und Obama, in Deutschland, die linksgrünversiffte Bundesregierung – inzwischen eine Art verschwörungstheoretisches Großnarrativ. Der Politologe Jan-Werner Müller warnt ausdrücklich davor, populistischen Führern, „die Konflikte stets auf Kulturkämpfe und letztlich auf die Frage der Zugehörigkeit reduzieren wollen, auf den Leim zu gehen.“ Dies gilt für Minderheiten-, wie auch für Sozial- oder Klimapolitik. Die Anhänger Trumps oder der AfD sind auch keine Opfer einer linksliberalen Identitätspolitik oder „selbstgemachter Dämonen“, „ökonomischer Kräfte“, die die Gesellschaft freigesetzt hat und „der nun das von ihr Unkontrollierte als fremde, unheimlich gewordene Macht erscheint“, wie Thomas Assheuer mutmaßt. Sie sind „Täter“ und „Opfer“ zugleich.

Wie die USA ist Deutschland inzwischen ein Einwanderungsland. In den letzten Jahrzehnten hat sich nicht nur die Gesellschaft diversifiziert und kulturell liberalisiert. Menschen, die Rassismus und Ausgrenzung erfahren haben, werden heute gehört. Dort wie hier ist eine Neue Rechte am Werk, die in einem erschreckenden Maße für konservative Kreise anschlussfähig ist – sei es in der Corona-, Klima-, Europa-, Sozial-, Sicherheits- oder Flüchtlingspolitik. Auch hier gibt es Parteien und Politiker, die mentale und soziale Spaltungen nicht überwinden wollen, sondern nutzen, um ihre jeweils eigene Interessenspolitik durchzusetzen.

Nicht spalten lassen und nicht spalten

Gegenwärtig ist die deutsche Demokratie mit ihren Institutionen zwar deutlich stabiler als die in den USA. Gleichwohl sollte der Trumpismus uns eine Warnung sein. Lange wurde rechte Gewalt, auch aus den Reihen von CDU/CSU, verharmlost und unterschätzt. Die Entlassung von Hans-Georg Maaßen und die Ermordung von Walter Lübcke bedeuten eine Zäsur. Können wir aber sicher sein, dass uns die Polizei schützen wird, wenn es ernst wird? Es sind Staatsdiener, die ihrem Staat mistrauen und auf Querdenker-Demos ihre Kollegen auffordern, sich anzuschließen, statt die Maskenpflicht zu überwachen. Wer Drohschreiben mit dem Absender NSU 2.0 mit Daten aus Polizeirechnern verschickt ist nach wie vor unklar. Deshalb gilt: Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten. Der Staat muss sich wehren gegen die Angriffe auf seine Grundwerte, gegen Hetzer und Brandstifter.

„Wir müssten lernen“, so der Soziologe Andreas Reckwitz, „die Spätmoderne als eine widersprüchliche, konflikthafte Gesellschaftsformation zu begreifen, die durch eine Gleichzeitigkeit von sozialem Aufstieg und Abstieg, einer Gleichzeitigkeit von kultureller Aufwertung und Entwertung charakterisiert ist – am Ende durch Prozesse der Polarisierung“. Das beste Mittel gegen rechts ist, das Leben aller Menschen in Stadt und Land weiter zu verbessern und den Minderheiten und Marginalisierten Anerkennung und Teilhabe zu ermöglichen. Nur so stärken wir das nötige Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Institutionen. Wir dürfen nicht auf die Verbreitung von Angst und auf das spalterische Geschrei der Rechten hereinfallen. Aber wir dürfen auch selbst nicht spalten. Über den Diskursraum von Milliarden Menschen dürfen nicht Twitter und Co. bestimmen. Es bedarf staatlicher Regeln. Wir müssen aber auch ehrlich mit uns selbst sein, wie Arnold Schwarzenegger an seine Mitbürger andressiert. „Jeder Einzelne von uns will es nicht wahrhaben, dass wir subtile Stereotypen und Vorurteile hegen. Und doch ist es wichtig, sich diese Probleme einzugestehen.“ Demokratie ist keine Frage von politischen Institutionen allein, sondern beruht auf unserem ständigen Bemühen, den Werten unserer Verfassung gerecht zu werden.

Der Autor

Dr. Bruno Heidlberger, Studienrat für Politik, Philosophie, Geschichte. Lehraufträge an der TU Berlin, derzeit an der MHB Brandenburg. Autor: „Wohin geht unsere offene Gesellschaft? 1968 – Sein Erbe und seine Feinde“, Logos Verlag Berlin 2019. Verfasser von Essays und Rezensionen in philosophischen, psychologischen und politischen Fachzeitschriften.