Die antisemitischen Problemfälle im niedersächsischen Bildungssystem haben sich dieses Jahr gehäuft. Was ist los im Nordwesten?

Eigentlich waren im Sachsen-Ranking hierzulande längst alle Messen gelesen. Der Freistaat, durch Pegida und Einheitsfeiergepöbel im öffentlichen Ansehen schon lange abgesackt, belegte im inoffiziellen Popularitäts-Sachsenspiegel Platz drei von drei. Mit einigem Vorsprung auf zwei lag Sachsen-Anhalt, dem trotz vieler eigener Verfehlungen (Stichwort Poggenburg) selbst der Postillon bereits scherzhaft geraten hatte, sich aus Imagegründen nur noch „Anhalt“ zu nennen. Souveräner Tabellenführer im Zivilisationsranking war traditionell Niedersachsen, das das Tableau wirtschaftlich und politisch normalerweise dominiert.

Normalerweise, denn zumindest im Bildungswesen scheint sich der Sachsen-Fluch so langsam die Elbe hinuntergearbeitet zu haben. Wer die Nachrichten des Jahres 2016 verfolgt hat, der verbindet mit niedersächsischen Ortsnamen wie Hildesheim, Göttingen und Oldenburg nicht mehr nur norddeutsche Fachwerkromantik, sondern auch einen weiteren deutschen Klassiker: den antisemitisch grundierten Akademikerfilz. Und darüberhinaus scheint auch noch umfassende Selbstdemontage die Methode der Wahl zu sein, um damit umzugehen.

Man betrachte zunächst eine der altehrwürdigsten Bildungseinrichtungen des Landes, die Universität Göttingen. Dort entschied die Unileitung entgegen der Empfehlung des Fakultätsrates und, man möchte hinzufügen, wider alle Vernunft, die befristete Professur des Sozialwissenschaftlers und Antisemitismusforschers Samuel Salzborn nicht zu verlängern. Obwohl Salzborn ein profilierter Experte auf seinem Gebiet ist und zu den bekanntesten Göttinger Wissenschaftlern zählt, blieb die Universität trotz aller Proteste bei ihrem nie wirklich nachvollziehbar erklärten Entschluss. Hinweise darauf, was die Hochschulleitung geritten haben mochte, kamen dann Ende Oktober in Form der Ankündigung, dass das Göttinger Seminar für Arabistik und Islamwissenschaften die berüchtigte und sehr zurecht als unwissenschaftlicher Unfug kritisierte „Nakba-Ausstellung“ zeigen und sie auch standesgemäß mit einem Vortrag des leidenschaftlichen „Israelkritikers“ Udo Steinbach eröffnen werde. Erst nach massivem Widerstand des lokalen AStA und mehrerer externer Institutionen rang die Universität sich zu einer Verschiebung der Antizionismus-Festspiele und zur Bestellung eines Gutachtens durch.

Kabale und Hiebe in Hildesheim

Nicht minder peinlich für den niedersächsischen Universitätsbetrieb präsentierte sich die Hochschule für Angewandte Wissenschaften und Kunst in Hildesheim (HAWK), an der unverantwortliches Handeln nach innen sich mit krasser Inkompetenz in der Kommunikation nach außen paarte. Nachdem bekannt geworden war, dass an der HAWK eine akademisch eher unbeleckte Dozentin jahrelang mit Duldung der Universitätsleitung Seminare über folternde und organraubende Israelis gegeben hatte, wollten missgünstige Beckmesser von außen darin Unwissenschaftlichkeit und Antisemitismus entdeckt haben. Derartige Kritik, wie sie u.a. von der Amadeu-Antonio-Stiftung formuliert wurde, kanzelte die zuständige Dekanin zunächst noch als „persönliche Empfindlichkeit“ ab oder rückte die Anwürfe im internen Gespräch auch schon mal als „Anschwärzung“ in die Nähe finsterer Machenschaften. Zum Skandal gesellte sich die Posse, als die Dekanin erst auf Druck der Hochschulleitung zurücktrat und schließlich auch der HAWK-Präsidentin selbst, die ein Antisemitismus-Problem an ihrer Einrichtung partout nicht hatte ausmachen können, das Vertrauen des Hochschulsenats durch Verweigerung einer zweiten Amtszeit entzogen wurde. Um die Blamage zu komplettieren, durfte schließlich noch ein vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) erstelltes Gutachten höchstamtlich bestätigen, was ohnehin für jedermann offensichtlich gewesen war, nämlich dass das in Rede stehende Seminar teilweise „mit antisemitischen Klischees und Unterstellungen“ gearbeitet hatte und daher „einseitig“ und „unwissenschaftlich“ war.

Man hätte meinen können, nach derlei Episoden würde sich auch bei der niedersächsischen Landesregierung allmählich die Einsicht durchsetzen, dass die Einschaltung externer Institutionen zur Klärung von Antisemitismus-Verdachtsfällen ungeachtet des beleidigten Murrens der Betroffenen durchaus eine gute Idee sei. Das dritte und vielleicht schönste Beispiel aus der Reihe „Niedersachsen schafft sich ab“ taugt allerdings eher zum Beweis, dass im Gegenteil auch ein schlechter Ruf verpflichtet. Tatort diesmal: Oldenburg.

Trübe Suppe im Flötenteich

Dort hatte der Englischlehrer und langjährige BDS-Aktivist Christoph Glanz, teilweise auch unter seinem semitischer klingenden Nom de Plume Christopher ben Kushka bekannt, im August für die lokale Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) einen Artikel verfasst, in dem er die israelische Staatsgründung als illegitim kritisierte und um Unterstützung für die BDS-Bewegung warb, die einen Totalboykott Israels, den Abzug aller Investitionen und internationale Strafmaßnahmen gegen das Land fordert („Boycott, Divest, Sanction“). Demntsprechend malte Glanz das zionistische Unrechtsregime in den schillerndsten Farben aus, schrieb von „Isolierhaft, brutalen Verhören und Schlägen“ gegen Kinder, „jüdischen Siedlungen“ am Ufer des Mittelmeeres (!), und, natürlich, von einer Forderung nach „Rückkehrrecht der Flüchtlinge“. Zugleich verwehrte er sich prophylaktisch gegen jede Kritik von „sogenannten ‚Israelfreunden'“. Solche Gestalten hätten bereits dafür Sorge getragen, dass in Oldenburg niemand mehr mit dem BDS-Schmuddelkind spielen oder ihm den eigenen Sandkasten zur Verfügung stellen wollte – für Glanz natürlich ein Skandal, hatten doch selbst „israelische Staatsbürger“ und „Rolf Verleger, ehemalige[s] Mitglied des Zentralrats der Juden“ sich für lokale BDS-Auftritte stark gemacht.

Obwohl Glanz im August schon längst kein Unbekannter mehr in der Boykottszene war, zeigte die lokale GEW sich mit dem massiven Backlash gegen ihr Mitglied doch weitgehend überfordert. Neben kritischen Reaktionen der Bundes-GEW, der lokalen DIG, des Oldenburger Bürgermeisters und von verschiedenen Bundestagsmitgliedern hatte der Fall durch Glanz‘ Brotberuf als Lehrer an der Integrierten Gesamtschule „Flötenteich“ in Oldenburg und somit als Beamter im niedersächsischen Staatsdienst aber vor allem noch eine rechtliche Dimension.
Dem Kultusministerium bot sich nun die herausragende Gelegenheit, in der Causa ein Machtwort zu sprechen und ein wenig dringend notwendige Imagepflege für das niedersächsische Bildungswesen zu betreiben. Man hätte sich dafür nicht einmal die Hände schmutzig machen müssen, denn Amadeu-Antonio-Stiftung, ZfA und eine Menge anderer sachkundiger Akteure hätten gewiss auch hier bereit gestanden, um per Gutachten festzustellen, dass es Herrn Glanz eben nicht, wie von ihm behauptet, um einen „gerechten Frieden“ geht, sondern um eine dessen antisemitische Version ohne Israel.

Von Palästina nach Lüneburg

Aber wer braucht schon einen guten Ruf, dachte man sich wohl in Hannover, verzichtete auf externe Expertise und ließ Glanz‘ Einlassungen in der GEW-Zeitschrift lieber in guter Filztradition von der landeseigenen Schulbehörde untersuchen – und auch das nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern ausschließlich als Ergebnis einer parlamentarischen Anfrage der CDU-Landtagsabgeordneten Karin Bertholdes-Sandrock.

Die Lüneburger Landesschulbehörde kam in ihrer gemeinsam mit dem Kultusministerium erstellten Antwort vergangene Woche nun zum für Glanz erfreulichen Ergebnis, dass die Vorwürfe gegen ihn sich „bislang als nicht substantiiert erwiesen“ hätten. Unter anderem seien im Artikel gar keine “Aussagen zum Judentum” enthalten gewesen; eine leicht verklausulierte Neuauflage des beliebten Arguments “ohne Hakennase kein Antisemitismus”. Weiterhin habe es weder von der Schulleitung und -verwaltung noch von Schülern oder Eltern Beschwerden gegen Glanz gegeben (was, am Rande bemerkt, auf ein ganz eigenes Problem hindeutet). Mit Ausnahme von „sensibilisierenden Personalgesprächen“, in denen „auf die beamtenrechtlichen Pflichten zur Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung“ hingewiesen wurde, hatte die Sache für Glanz somit keinerlei negative Folgen. Ganz im Gegenteil, der Text hob sogar sogar ausdrücklich hervor, dass Glanz „durch die Kolleginnen und Kollegen der Schule geschätzt“ werde.

Zu solchen Schlussfolgerungen konnte natürlich von Anfang an nur kommen, wer den umfassend antisemitischen Charakter einer Bewegung wie BDS mit aller Gewalt auszublenden gewillt war. Entsprechend wies der Behördentext auch relativierend darauf hin, dass die eigene Recherche ein „vielschichtiges Bild zur BDS-Kampagne ergeben habe“. Zu dieser Vielschichtigkeit zählte etwa, dass die BDS-Mitgliederschaft „heterogen“ sei und keinesfalls „pauschal als antisemitisch bezeichnet werden“ könne, auch wenn BDS durchaus „problematische bzw. kontroverse Züge“ trage. Das fand man in Lüneburg aber offenbar verzeihlich bis gerechtfertigt in Anbetracht der Tatsache, dass der ursprüngliche Boykottaufruf 2005 ja „im Namen der palästinensischen Zivilgesellschaft“ ergangen war. Dieser Umstand entschuldigte offenbar auch die implizite und explizite Gleichsetzung Israels mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime, die für die BDSler aus der “palästinensischen Zivilgesellschaft” seit anno dazumal ein absolut konstitutives Merkmal ihrer Bewegung ist.

Insult to Injury

Der Gipfel der Dreistigkeit ist freilich erreicht, als der Text nach einigen watteweichen Expertisen zum Thema ausgerechnet Samuel Salzborn zitiert, dessen Meinung zu BDS kein Geheimnis ist und auch eindeutig wiedergegeben wird. Das von ihm eingebrachte Konzept eines „israelbezogenen Antisemitismus“ ist der niedersächsischen Landesregierung freilich ziemlich suspekt, sodass sie es lieber nur in Anführungszeichen erwähnt. Bei der „palästinensischen Zivilgesellschaft“ hatte man eine solche Einschränkung übrigens nicht für nötig befunden, obwohl deren Existenz auch zumindest diskussionswürdig ist.

Verbindlich sei Salzborns „nicht unumstritten[e]“ Haltung aber so oder so nicht, schließlich werde sie noch „äußerst kontrovers diskutiert.“ Damit gerinnt der Begriff des Antisemitismus, dessen Abgrenzbarkeit von politischer Kritik an Israel u.a. von Monika Schwarz-Friesel klar herausgearbeitet wurde, zu einem einfachen Diskussionsstandpunkt, einer Meinung mithin, die man teilen oder ablehnen kann. Am Ende eines offiziellen staatlichen Gutachtens bleibt somit die Erkenntnis, eine wie auch immer geartete Diskussion um den antisemitischen Charakter von BDS reiche als Begründung bereits aus, um diesen in Frage zu stellen. Am Ende ist schließlich alles nur „umstritten“ oder „kontrovers“.
Damit setzt eine thematisch weitgehend unqualifizierte Landesbehörde sich über Salzborn als ausgewiesenen Experten hinweg und betonte, weil das allein noch nicht reicht, dass ihre Einschätzung von BDS als “vielschichtig” und nicht antisemitisch auch mit der des Bundestags-„Expertenkreises Antisemitismus“, des Auswärtigen Amtes, der Bundeszentrale für Politische Bildung und des Niedersächsischen Verfassungsschutzes übereinstimme. Schlimm genug, möchte man da entgegnen.

Am Ende des Jahres 2016 dürfen wir dergestalt bilanzieren, mit welcher Hingabe und Durchschlagskraft Niedersachsen das öffentliche Ansehen seines Bildungswesens an vielen Fronten zertrümmert hat. In Anbetracht der Umtriebigkeit des einschlägigen Personals sind für 2017 noch weitere Peinlichkeiten zu erwarten. Zu hoffen bleibt, dass diese dann auch verstärkt von der überregionalen Presse in Deutschland aufgegriffen werden statt wie bisher oft nur von der Jerusalem Post und der lokalen Nordwestzeitung. Sollte das passieren, darf sich auch Sachsen seines dritten Platzes nicht mehr zu sicher sein.

Dieser Text erschien zuerst auf ruhrbarone.de.