Die Hauptstadt verschleudert absichtsvoll ihr Potenzial und weigert sich, erwachsen zu werden. Doch noch besteht Hoffnung.

Es gibt wenig Orte in Berlin, an denen sich die Gleichzeitigkeit von Boom und Elend besser erleben lässt als rund um die Station Schönleinstraße. Wer hier – egal zu welcher Tageszeit – aus der berüchtigtsten aller U-Bahnlinien der deutschen Hauptstadt steigt, kann schon mal einem Fixer beim Hantieren mit der Nadel zusehen. Verlässt man den Bahnhof Richtung Süden und geht ein paar Schritte nach rechts, könnte der Kontrast kaum größer sein. Die Dieffenbachstraße gilt mittlerweile als eine der schönsten Straßen Berlins. Auf beiden Seiten schmiegen sich herausgeputzte Gründerzeitfassaden aneinander, davor stehen Platanen dicht an dicht. Glücklich ist, wer hier unterkommen durfte. Denn dazu bedarf es mittlerweile einer sehr guten Bezahlung, größerer Rücklagen oder einer Erbschaft. Mit zwölf Euro pro Quadratmeter ist man dabei. Gut, das klingt für Pariser oder Bewohner Londons nach einem Spottpreis. Die Perspektive des Berliners ist jedoch eine andere: Seit 2009 haben sich die Mieten an der Dieffenbachstraße nahezu verdoppelt. Und damit liegt die Kreuzberger Meile voll im Stadttrend.

In keiner anderen deutschen Metropole – geschweige denn auf dem Land – sind die Immobilienpreise so drastisch nach oben gegangen wie in Berlin. Der Grund ist simpel: Jährlich wächst die Stadt um rund 40.000 Menschen, fast alle Zuzügler kommen aus dem Ausland. Berlin steht weltweit im Ruf, besonders authentisch zu sein, besonders rau – zynisch gesagt: Hier gibt es wenigstens noch Drogensüchtige in besten Lagen.

Den Ansturm beantwortet die Stadt passiv. Gebaut wird so gut wie gar nicht, auch wenn sich der Senat ganz kontrafaktisch fürs Gegenteil feiert. Schlimmer noch: Zweimal in Folge sank jüngst sogar die Anzahl genehmigter Wohnungen. Falls doch mal ein Investor größere Pläne hegt, kann er den Protest dagegen fest einkalkulieren. Wo immer jemand mit Bauutensilien gesehen wird, gründet sich dagegen eine Bürgerinititaive. Berlin will auf Biegen und Brechen so bleiben wie es ist. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die explodierenden Mieten hauptsächlich die betreffen, die noch nicht da sind, aber zuziehen möchten. Wer hingegen seit drölfzig Jahren in Kreuzberg 36 oder im etwas edleren „Bad Kreuzberg“ rund um die Bergmannstraße oder in den zig anderen extrem stark nachgefragten Altbaukiezen wohnt, zahlt ein paar hundert Euro für Gemächer mit knarzenden Holzdielen, Stuck und Flügeltüren und will bitte nicht mit Veränderungen in seiner Nachbarschaft behelligt werden. Die meisten eingeborenen Berliner und diejenigen, die vor langer Zeit bereits assimiliert wurden, erleben so den Boom der Stadt als eine Art Heimsuchung. Das Elend um sie herum betrachten sie dagegen als sozialromantische Kulisse, die bitte nicht durch irgendwelche Unternehmensansiedlungen oder gar – schlimmer geht es nicht – Neubauten verschandelt werden soll.

Berliner Mentalität

Diese Haltung ist nicht etwa subversiv, sondern wird in Verwaltungshandeln übersetzt. Vor wenigen Monaten feierte sich der Baustadtrat Kreuzbergs, Florian Schmidt, erfolgreich die Ansiedlung eines Google-Campus verhindert zu haben. Der Grüne konnte sich dabei sicher sein, Vollstrecker des reaktionären Volkswillens seiner Kreuzberger zu sein. Eine Bürgerinitiative hatte ausdauernd davor gewarnt, dass der kalifornische Weltkonzern durch seine pure Anwesenheit den Kiez in nullkommanix in eine turbokapitalistische Vorhölle verwandeln würde.

Es gibt also einen Run auf die Stadt, und zugleich ein betongleiches Beharrungsvermögen der Bestandsberliner. Doch wie das mit Affekten und Gefühlen so ist: Durchdacht sind sie nicht. Denn die Stadt braucht die Zuzügler und ihre Ideen. Sie könnten Berlin das ökonomische Rückgrat bescheren, das es nach dem Krieg verlor und nicht wieder entwickeln konnte. Kein einziger Dax-Konzern hat seinen Hauptsitz in der Hauptstadt, Siemens floh nach dem Weltkrieg nach München. Im Gegensatz zu den anderen Kapitalen Europas ist die deutsche Hauptstadt eine Kostgängerin des Restlandes. Berlin bekommt Jahr für Jahr als größtes Nehmerland Milliarden aus dem Länderfinanzausgleich. Die größten Unternehmen der Stadt sind die in Staatsbesitz befindliche Deutsche Bahn, die staatliche Charité und der landeseigene Krankenhauskonzern Vivantes sowie die Berliner Verkehrsbetriebe, die natürlich auch der Stadt gehören.

Dass dem Fixer aus dem Kreuzberger U-Bahnhof nicht direkt geholfen wäre, wenn man wie wild bauen und ansiedeln würde, ist klar. Aber die katastrophale Bildungslandschaft der Stadt, die ihren Aufgaben kaum noch nachkommende Verwaltung – das betrifft auch die Baugenehmigungen – sind eine Folge der wirtschaftlichen Grundschwäche Berlins, die wiederum viel mit der Mentalität seiner Einwohner zu tun hat. Und natürlich könnte der Staat sich um die ganz unten besser kümmern, wenn er nicht selbst ein Hungerleider wäre.

Den meisten Insassen der einstigen Frontstadt ist ein Mann wie Michael Hüther vermutlich suspekt. Der Ökonomieprofessor und Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, das gerne und in stigmatisierender Absicht als „arbeitgebernah“ (kommt gleich nach „Investor“) etikettiert wird, attestiert Berlin „den langen Atem einer Insellage“. Die „Konservierungsstruktur“ sei beachtlich – nicht nur im alten Westbezirk Kreuzberg. Auch im ehemaligen Ostteil der Stadt funktionieren die Reflexe bestens. Während große Teile von Prenzlauer Berg eine Welt für sich sind und vor eineinhalb Jahrzehnten aus stadtplanerischer Unachtsamkeit unwiderruflich an eine postmoderne grüne Wohlstandsblase verloren wurden, verfolgt man auch in Friedrichshain das Konzept des Milieuschutz‘ – praktischerweise gehört der Sprengel auch zum Machtbereich des bereits erwähnten Kommunalpolitikers Schmidt.

Freilichtmuseum

Allerdings wird die Stadt irgendwann erwachsen werden müssen. Und so schlecht, das meint jedenfalls Ökonom Hüther, seien die Voraussetzungen dafür auch gar nicht: „Dass es so gut wie keine Industrie gibt, macht Berlin von konjunkturellen Zyklen unabhängiger.“ Dass in einem Stadtstaat, der zugleich Bundeshauptstadt ist, ein starker Verwaltungssektor zu finden ist, überrascht kaum. Auch Gastronomie, Hotellerie und Kultur seien in Berlin stark, erklärt Hüther. Besonders hervorstechend und wesentlicher Teil des aktuellen Booms sei jedoch der Start-up-Bereich. Und genau hier müssten Probleme gelöst werden.

Und das sind ausnahmsweise mal welche, die weit über Berlin hinausragen und das ganze Land betreffen. Gründer bekommen in Deutschland nur ganz am Anfang Geld. Bei späteren Finanzierungsrunden sieht es im Land von Benz und Daimler jedoch düster aus. So können auch in Berlin zwar gute Ideen geboren, jedoch nicht so weit getrieben werden, dass man das große Geld mit ihnen machen könnte und eine Riesenfirma erwächst. Zalando, so sieht es Ökonom Hüther, habe sich quasi als Ausnahme von der Regel in der Stadt zum dicken Player entwickelt.

Zwar kann der Staat nur wenig tun, um deutsche Risikokapitalgeber zu stimulieren. Doch das Signal, dass von der wichtigsten deutschen Start-up-Metropole ausgeht, weist auch noch in die entgegengesetzte Richtung und bestärkt die extrem risikoscheue und damit auch innovationsfeindliche Haltung hiesiger möglicher Ideenfinanziers. Statt das Potenzial der vielen Zuwanderer und ihrer Ideen zu befördern und für sich fruchtbar zu machen, igelt man sich in Berlin ein und erträgt diese Leute nur so lange, wie sie überschaubaren Erfolg haben. Ändert sich das, womit auch die Gefahr besteht, dass sie die Stadt verändern, bildet man Bürgerinitiativen gegen sie. Michael Hüther spricht von einem „rückwärtsgewandten kulturellen Substrat“, das Berlin quasi nicht über sein aktuelles Selbst hinauswachsen lässt. So viel Potenzial wie in dieser Stadt dürfte fast nirgends absichtsvoll verschleudert werden. Und darauf ist man auch noch stolz.

Eines Tages wird der Boom deshalb enden müssen. Wenn mehrere Generationen erfolgreicher Gründer Berlin als Stadt mit gewollten Grenzen erlebt haben, werden sie der Welt diese Botschaft übermitteln. Und dann können die Bewohner Kreuzbergs wieder ganz ungestört in ihrem Freilichtmuseum unter sich sein – mit etwas Elend als Deko, das ist doch ganz authentisch.

Zuerst erschienen im Oktober in „The German Times“