Warum das große Ess-Zett keine Bedrohung ist, sondern eine Chance.

Jetzt aber! Deutschland zeigt Zivilcourage. Wir sind ein geduldiges Volk – aber dass ausgerechnet der für sowas zuständige Rechtschreibrat sich erdreistet, plötzlich ein großes Ess-Zett einzufordern, das geht zu weit! Dabei weiß doch jedes Kind, dass das ß typographisch, kalligraphisch und kulturhistorisch ein Irrtum ist. Seit Jahrhunderten schleppen wir diese Missgeburt durch, weil sie sich immer irgendwo versteckt, wenn wir mal wieder die Rechtschreibung säubern, und statt das ß im Jahr 2017 endlich zu liquidieren, solange es nur kleingeschrieben vorkommt, darf es nun auch noch zum Großbuchstaben wachsen! So wütet jedenfalls Daniel Killy, und führt abseits der Vernichtungsfantasie durchaus kenntnisreich allerlei Argumente auf, warum ausgerechnet das Rucksack-S untragbar ist.

Allerdings geht die Argumentation an zentralen Punkten so am Thema vorbei wie die Rede eines Homöopathen auf einem Ärztekongress. Denn es liegt nicht an hehren kalligraphischen und kulturhistorischen Zielen, dass man dem Ess-Zett bisher die Großschreibung weitgehend verweigert hat. Dass es aus sprachlogischen Erwägungen unmöglich sei, ein großes „ß“ zu verwenden, ist ein modernes Ammenmärchen wie die Vogelspinne in der Yuccapalme und die Rattenkralle im Burger von McDonald’s.

Argument: Sieht doof aus.

Die Position wird vielmehr so gut wie ausschließlich mit rein geschmäcklerischen Ausflüchten begründet. „Braucht kein Mensch“ und „Sieht doof aus“ lauten die verbreiteten Argumente – gerne vorgebracht von denselben Leuten, die einen Bindestrich nicht vom Gedankenstrich unterscheiden können, Wörter in Anführungszeichen setzen, wenn sie Ironie ausdrücken wollen oder völlig schmerzfrei das unauffällige Apostroph durch ein großspuriges französisches Accent agui ersetzen und damit regelrechte Lückentexte schaffen, ohne dass ihnen das irgendwie spanisch vorkommt. Aber das Recht, in Versalien aus Herrn Meißner einfach Herrn Meissner zu machen, lassen sie sich nicht nehmen – wo kämen wir denn da hin?

Ja, das ß ist eine schrullige kleine Besonderheit, ein Überbleibsel, eine Erinnerung mit Rucksack. Selbst wenn sie keinerlei Nutzen hätte, wäre sie schon deshalb erhaltenswert, weil sie sich dem von Computern und ihren lieblosen Anwendern verursachten typographischen Artensterben widersetzt. Wer weiß denn noch, dass deutsche Anführungszeichen unten und oben gesetzt werden, wo doch selbst in den Laufbändern und Grafiken des Ersten Deutschen Fernsehens die englische Variante genutzt wird? Und warum sollte man das überhaupt wissen? Braucht doch kein Mensch.

Außerdem: Ess-Zett in Groß sieht doof aus. Also wird die Logik der Rechtschreibung eingerissen. Denn die Maße werden in Versalien zur MASSE. Und dabei bleibt es nicht. Der kleine Riss weitet sich aus und führt dazu, dass längst auch in normalen Fließtexten Fussballspieler in blau-weissen Trikots einen Freistoss erwarten. Abgesehen davon, dass diese Ignoranz nun wirklich in den Augen weh tut – sie führt dazu, dass zwei Wörter, die sich in Sinn und Aussprache unterscheiden, exakt gleich geschrieben werden. Wie Maße und Masse, Busse und Buße.

Kein Grund zum Hungerstreik

An dieser Stelle kommen immer die Schlaumeier und weisen darauf hin, der Sinn erschließe sich ja wohl aus dem Zusammenhang und überhaupt, im geschriebenen Hebräisch fehlten sogar die Vokale und die Israelis seien ja nun trotzdem des Lesens und Schreibens mächtig. Die deutsche Rechtschreibung wird aber nun einmal insbesondere seit der viel diskutierten Reform – mit der allzu unlogische Anwendungsformen des ß zurecht abgeschafft wurden – so gestaltet, dass nur sehr wenige Wörter so einen gedanklichen Aufwand verursachen wie Hochzeit und Hochzeit. Das ist auch richtig so, schließlich zeigt ein Blick in eine beliebige Kommentarsammlung bei Facebook, dass sehr viele unserer Mitbürger schon jetzt eine unüberwindbare Hürde vor sich haben, wenn sie die Bedeutung von Wörtern erschließen sollen, ob mit oder ohne Zusammenhang. Man sollte die Verwirrung nicht noch steigern, indem man Hilfestellung wie unterschiedliche Schreibweisen weglässt.

Davon abgesehen können sich alle wieder beruhigen. Wer’s vor Wut nicht mitbekommen hat: Der Rechtschreibrat hat das große ß lediglich nochmal ausdrücklich zugelassen, aber er hat es nicht vorgeschrieben. Es muss also niemand in den Hungerstreik treten deswegen, und alle, die die Schönheit der Worte von Dürrenmatt und Frisch nur ohne ß zu erkennen vermögen, können sich frei von Verfolgung durch die Geheime Sprachpolizei, ohne Richter und ohne Henker gegenseitig sämtliche Klassiker im Schweizer Original vorlesen.

Das Ess-Zett eignet sich nicht zum Dogma, in keiner Hinsicht. Im besten Fall kann es klären, dass man Fuß anders spricht als Fluss. Im schlimmsten Fall verlangt es, dass man sich Ausnahmen von der Regel merken muss, denn der Strauß am Haus fraß Gras. Und dass es hässlich sei, ist erst recht kein Argument. Es gibt kein schönes großes  ß auf der Tatstatur, stimmt, aber das ist kein Naturgesetz, sondern liegt daran, dass viele Schriftgestalter für einen einzigen Buchstaben, den eh kaum einer nutzt, nicht so einen Aufwand treiben wollten. Ein hübsches Großbuchstaben-ß zu entwickeln, wäre ab sofort eine Herausforderung für kreative Schriftgestalter. Auftrag: ein individuelles Detail in der konformen Masse von Buchstaben.

Glaubt mir, liebe Wutbürger. Vom Ess-Zett geht keinerlei Bedrohung aus. Also lasst es in Frieden.