Was wird mehr überschätzt als Jan Böhmermann und Twitter? Richtig: Ein Buch von Jan Böhmermann über Twitter.

Es war einmal ein deutscher Satiriker, der das asozialste aller Medien (Twitter, selbstredend) für sich entdeckte. Mit einem einzelnen Wort („Hunger“) zwitscherte er am 16. Januar 2009 drauflos – ein Account war geboren, der inzwischen mehr als zwei Millionen Follower sein Eigen nennt. Was daran besonders ist? Tatsächlich nichts. Aber besagter Satiriker, Jan Böhmermann, hat nun ein Buch veröffentlicht – Sie erraten es, über seine Twittertätigkeit höchstselbst. Es heißt: „gefolgt von niemandem, dem du folgst. twitter-tagebuch 2009-2020“. Was will er uns damit sagen?

Das erfährt man im Vorwort, sollte man das huldvolle Interview in der „Süddeutschen Zeitung„, das Böhmermann vor dem Erscheinen des Buchs gab, nicht gelesen haben. „Man muss sagen, dass Sie wahnsinnig verantwortungsvoll mit dieser Macht umgehen. Sie kommen aus dem Bereich Unterhaltung, niemand bezahlt Sie dafür, gegen Demokratiefeindlichkeit anzuschreiben oder für Meinungsfreiheit. Sie tun das freiwillig. Sie könnten richtig fahrlässige Dinge posten“, liest man da und fragt sich, wie oft die Interviewerin während des Gesprächs aufpassen musste, nicht völlig auf ihrer eigenen Schleimspur zu entgleisen. 

Böhmermann erklärt in diesem Interview, Twitter sei für ihn die erste Quelle und eine riesige Rechercheplattform. Im Vorwort seines Buches meint er außerdem, dass es zwar nur fünf Prozent der Deutschen seien, die Twitter regelmäßig nutzten, aber, böhmermann’scher Verdacht: „Nach elfjähriger intensiver Beschäftigung mit Twitter muss ich befürchten, dass es sich hierbei um die auch in der Wirklichkeit für den Diskurs entscheidenden fünf Prozent handeln könnte.

280 Zeichen pro Moraleinheit

Wirklich? Jeder, der schon einmal mehr als eine Minute seiner Zeit in der zwar oft äußerst nützlichen, aber auch äußerst anstrengenden Parallelwelt von Twitter verbracht hat, muss sagen: Nein, nicht wirklich. Dass sich Böhmermann durch seine Fähigkeiten als Twitter-Tourette-Akrobat zum König dieses Mediums – in Deutschland, wohlgemerkt – emporhangeln konnte, sagt vielleicht mehr über die sich dort tummelnde Medien-, Polit- und NGO-Szene als über die Qualität seines Auftritts. Für die, die ihn nicht kennen: Böhmermann ist schließlich nicht nur Spaßvogel. Er weiß auch stets, was gut und richtig ist, in Sachen Moral kann ihm niemand etwas vormachen. Pädagogisch wertvolle Unterhaltung, made in Germany. Schuld sind immer die Rechten, oder die Kapitalisten, oder im schlimmsten Fall: beide.

Ob Sie sich wirklich dieses tatsächlich sehr hübsch gemachte Buch (gebunden, stilecht mit dunkelblauem Lesezeichenbändchen) zu Gemüte führen sollten? Eine gute Frage. Dass Twitter schon im Echtzeitmodus schwer zu ertragen ist, könnte man angesichts der auf 450 Seiten abgedruckten böhmermann‘sche Tweets jedenfalls glatt vergessen. Zugegeben, diese Pervertierung ist fast schon wieder lustig. Und auch erfreulich: Schließlich findet jedes Huhn einmal ein Korn.

Journalistenschule Böhmermann

Noch ein Beispiel aus den vielen, vielen Seiten: „Aufpassen! Journalisten, auch die guten, sind immer selbsternannt“, twitterte Böhmermann am 29. November 2017. Danke für die Warnung, die noch wertvoller ist, da sie von jemandem kommt, der ein ganz klares Verständnis davon hat, wie Medien zu funktionieren haben: Vor wenigen Tagen wagte es die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ tatsächlich, ein Interview mit Böhmermann nicht wie geplant zu veröffentlichen. Böhmermann war wütend. 

So wütend, dass er sich in einem Brief an den Herausgeber wandte. Und um möglichst vielen seiner Follower die Möglichkeit zu geben, sich mit ihm zu empören, veröffentlichte Böhmermann dieses Schreiben auch auf Twitter. „Sowas habe ich wirklich noch nie erlebt.“ Tja. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, ist Twitter doch nicht die ganze Welt und das Universum Böhmermann nicht ihr wichtigster Bestandteil. Es hätte auch einen sehr schönen anderen Titel für das Buch gegeben, ebenfalls direkt aus Böhmermanns Twitter-Schwurbelsammlung: 

„Dumm klickt gut.“ (4. Juni 2019, 9:44)

Jan Böhmermann

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