Wie ein Irrtum den Medienbetrieb umwandelt – und warum das problematisch ist.

Meinung ist frei, aber Fakten sind heilig. Diese klassische Feststellung über die Aufgabe der Presse wurde geprägt vom englischen Publizisten C.P. Scott, von 1907 bis zu seinem Tod 1932 Besitzer des „Guardian“. Bis heute steht das Zitat als Motto über der Meinungsseite der englischen Zeitung. Zu recht. Denn sie ist immer noch die beste und treffendste Zusammenfassung dessen, was Prioritäten journalistischen Arbeitens sein sollten. Und es ist höchste Zeit, sich daran zu erinnern.

Mit dem Satz von freier Meinung und heiligen Fakten ist nicht nur gemeint, dass das Heranschaffen von Fakten für Medien vorrangig sein sollte, sondern es wird vor allem klargestellt, dass Fakten und Meinungen im Journalismus zusammengehören. Wir können die Fakten aus verschiedensten Blickwinkeln betrachten, wir können sie interpretieren und ungehemmt und unzensiert darüber streiten, was wir mit ihnen anfangen sollen. Aber Grundlage des Meinungsstreits ist immer die nach bestem Wissen und Gewissen geschaffene Faktenlage. Meinung ohne Fakten ist bestenfalls Literatur, aber kein Journalismus.

Das reine Beschaffen von Nachrichten ist heute jedoch längst nicht mehr mit dem Aufwand verbunden, den Journalisten zu Zeiten von C.P. Scott treiben mussten. Und ein Geschäftsmodell sind Nachrichten auch nicht mehr. Vielleicht aus diesem Grund reißt im Journalismus zunehmend ein geradezu selbstzerstörerischer Hang zum Faktenverzicht ein. Vermutlich auch hervorgerufen durch ein gut gemeintes, aber folgenschweres Missverständnis.

Die Medien, so eine gängige These, hätten durch das Internet, in dem jeder ohne großen Aufwand alles herausfinden oder verbreiten kann, ihre Gatekeeper-Funktion verloren. Der besserwissende Journalist in seinem Elfenbeinturm könne und dürfe dem mündigen Bürger nicht mehr vorschreiben, was er glauben soll. Wenn man Journalisten als eine Kaste von Lohnschreibern für die Herrschenden oder eine bestimmte ideologische Richtung begreift, dann stimmt dies sogar. Demut vor dem Leser, Hörer oder Zuschauer hat noch niemandem geschadet. Dennoch oder gerade deshalb ist es die wesentliche Verantwortung von Medien, es besser zu wissen – oder zumindest so gut, wie es eben geht. Das gilt erst recht in Zeiten, in denen so viel Information und Desinformation allgemein zugänglich ist wie nie zuvor.

Narrative statt Fakten

Statt in diese schwierige Aufgabe Kosten und Mühen zu stecken, haben sich viele Redaktionen jedoch angewöhnt, mehr oder weniger wahllos Meinungen zu verbreiten. Ein kleines Beispiel von vielen: Die stündlichen Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Hörfunksender WDR 2 beginnen seit geraumer Zeit mit einem O-Ton. Ein Politiker oder eine sonstige Person wird also mit einem Statement in eigener Sache auf den Sender gehoben, bevor der Hörer überhaupt weiß, worum es eigentlich geht. Der kann sich, je nachdem wie gelungen der folgende Nachrichtentext ist, das Ganze dann entweder selbst zusammenreimen oder hat nach den Nachrichten sogar mehr Fragen als vorher. Das mag, zugegeben, nur Puristen ärgern und größtenteils harmlos sein. Dennoch ist es ein Symptom, denn natürlich ist es viel bequemer und einfacher, die ohnehin kurze Sendezeit zu einem komplexen Thema wie Dieselgate, dem Skandal im BAMF oder dem Ausstieg der USA aus dem Iran-Deal mit einer Meinungsäußerung eines Dritten zu füllen, statt in wenigen Sätzen und in eigenen Worten zusammenzufassen, was der Stand der Dinge ist. 

Das allerdings ist genau der Job von Journalisten. Es ist nicht ihre Aufgabe, wahllos Meinungen heranzuschaffen. Das unterscheidet ernstgemeinten Journalismus von Talkshows, für die Redaktionen beim Versuch, eine unterhaltsame Sendung auf die Beine zu stellen, gerne ahnungslose Krawallmacher einladen. Idealtypisch erfährt in einer Talkshow immerhin jede noch so unhaltbare These unmittelbar Widerspruch. Viele Redaktionen glauben jedoch, dieses Prinzip lasse sich auf jede andere Form von Berichterstattung und Meinungsaustausch übertragen. An die Stelle des Fakts tritt schleichend das Narrativ. Journalisten sind entsprechend nur noch dazu da, Leute erzählen zu lassen, wie sie etwas erlebt haben, wie sie etwas empfinden – oder, was sie irgendwo von irgendjemandem gehört haben. Und ehe man sich‘s versieht, ist alles beliebig. 

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“, dieser berühmte Satz des amerikanischen Senators Hiram Johnson, wird besonders von Journalisten gern zitiert. Und zwar als Metapher dafür, dass man gerade in unübersichtlichen, von Propaganda vernebelten Situationen als Journalist gefälligst erstmal niemandem glaubt, sondern skeptisch und unbestechlich bleibt – auch sich selbst gegenüber. Dies ist deutlich leichter gesagt als getan, erst recht, wenn der Redaktionsschluss naht. Vielleicht deshalb scheint sich in vielen Redaktionen eine Interpretation des großen Satzes durchgesetzt zu haben, die im völligen Gegensatz zu seiner ursprünglichen Bedeutung steht. Nämlich die Auffassung, dass es gerade in Kriegszeiten völlig wurscht ist, was man berichtet, weil ja eh alle Seiten lügen. 

Ein Beispiel von Dutzenden für diese Neuinterpretation ist der Umgang führender Medien mit dem vorgeblichen Nahost-Experten Günter Meyer. Dieser hatte im ARD-Mittagsmagazin und im HR-Inforadio im April ohne jeden Beleg die These vertreten dürfen, der Giftgasangriff im syrischen Ost-Ghuta sei von Assad-Gegnern inszeniert gewesen. Als Kritik daran aufkam, dass Meyer in nachrichtlich geprägten Sendung nicht nur befragt wurde, sondern darüber hinaus unwidersprochen seine Theorien verbreiten durfte, antwortete der fürs Mittagsmagazin zuständige RBB: Angesichts der Vielzahl von Interessen im Syrien-Konflikt sei es „richtig und notwendig, auf diese unterschiedlichen Sichtweisen hinzuweisen und sie auch darzustellen. Ob dies in diesem oder jenem Fall durch besonders kritisches Hinterfragen zu begleiten ist, liegt bereits wieder im Auge des Betrachters“. Ähnlich der Hessische Rundfunk. Eine Sprecherin erklärte, dass es Aufgabe des Senders sei, „die unterschiedlichen Meinungen abzubilden“. 

Der fundamentale Irrtum

Das jedoch ist ein fundamentaler Irrtum. Um ungefiltert irgendwelche Meinungen darzustellen, gibt es Youtube. Da kann jeder über die Mondlandung, Fitnessgeheimnisse oder die Gefahren der Masernimpfung verbreiten, was er will. Die Aufgabe von Journalisten jedoch ist es, zu filtern. Sie sind der erste Betrachter und deshalb ist es ihr Auge, das entscheidet, wer besonders kritisch zu hinterfragen ist. Und zwar nicht nach persönlichem Gutdünken und politischer Präferenz, sondern nach den klassischen Kriterien der Nachrichtenwelt inklusive eingehender Überprüfung des faktischen Gehalts jeder Aussage, die über den Sender geht. Genau deshalb ist Journalismus ein Beruf. Wenn jemand sein Radio oder den Fernseher einschaltet, eine Zeitung aufschlägt oder durch ein journalistisches Angebot im Internet scrollt, geht er davon aus, dass das, was ihm geboten wird, von Profis nach professionellen Kriterien zusammengestellt wurde. Auf dieser Grundlage leisten freie Medien ihren Dienst an der pluralistischen Gesellschaft und wirken laut Grundgesetz sogar an der Willensbildung des Volkes mit. 

Wenn Medien sich jedoch als Institutionen begreifen, die jedem Spinner und jedem Aktivisten ein Mikro hinhalten, damit die gesamte Breite aller Narrative abgebildet wird und jeder Bürger auf dieser Grundlage nach persönlichem Geschmack selbst entscheiden kann, was er für richtig hält, dann missverstehen sie ihren Auftrag. Und sie tragen zu einer Verwirrung bei, die man schlimmstenfalls dazu nutzen kann, die pluralistische Demokratie zu zerstören. Denn wenn alles und nichts stimmt, wenn Expertise keinen Wert und der Diskurs keine von Empirie gezogenen Grenzen mehr hat, wenn jeder „Skandal“ und „Haltet den Dieb!“ schreit, wo keiner ist, übernehmen am Ende diejenigen die Macht, die die kleinsten Skrupel, die größte Klappe und die einfachste Antwort haben. Dies ist keine hysterische Theorie, sondern eine nüchterne Beobachtung. 

Zu denen, die Verwirrung in diesem Sinne schon heute bewusst nutzen und sogar auslösen, gehört der russische Geheimdienst. Die Taktik des Kreml besteht längst nicht mehr darin, die Meinungen in anderen Staaten durch gezielte Propaganda zu beeinflussen. Stattdessen wird über eigene Medien wie „RT Deutsch“ sowie mit Hilfe einer Armada von Trollen so ziemlich alles verbreitet, geliked und geteilt, was an widersprüchlichen Thesen zu haben ist. Flug MH17 wurde über der Ukraine abgeschossen – aber von wem und warum, wer weiß das schon? Manche sagen so, manche so, und die Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer des Krieges …

Medien, denen Fakten nicht heilig sind, durchschauen diesen Trick nicht. Und sie werden früher als sie glauben nicht mehr frei sein.