Der 14. Februar ist nicht nur der Tag der Liebenden, sondern auch der Aktionstag „One Billion Rising“: Eine Milliarde Menschen soll sich morgen erheben, um gegen die Gewalt an Frauen zu protestieren. Katharina Lotter spricht mit Sybille Fezer von der Hilfsorganisation Medica Mondiale e.V. über Vergewaltigung als Kriegswaffe und Hilfe für Frauen im kurdischen Teil des Nordirak.

Frau Fezer, im vergangenen Jahr wurde im Zusammenhang mit den Kämpfen in Syrien und dem Irak hierzulande immer wieder diese Forderung formuliert: „Holt die Leute dort raus und bringt sie hierher in den Westen. Vor allem Frauen und Kinder. Hier haben wir Sicherheit, hier haben wir die Ressourcen, um zu helfen.“ Was ist von dieser Forderung zu halten?
Weder ist das realisierbar noch unbedingt der richtige Weg. Ganz grundsätzlich sagen wir: Jede Frau muss selbst entscheiden können, was für ihre Heilung am wichtigsten ist. Man kann sie nicht einfach irgendwo rausholen und wegbringen. Uns geht es um Selbstbestimmung, aber auch darum, dass das soziale Umfeld Verantwortung übernimmt. Deshalb stehen wir solchen Ansätzen kritisch gegenüber.

Warum?
In allen Ländern, in denen wir tätig sind, haben wir die Erfahrung gemacht, dass das soziale Umfeld das Leid der Frauen und die an ihnen begangenen Kriegsverbrechen anerkennen muss. Wenn die Frauen isoliert hierhergeholt werden, fehlt ihnen dieser heilende psychosoziale Aspekt. Sie sind in einem fremden Land und einer völlig anderen Kultur, sprechen die Sprache nicht. Ihr Aufenthaltsstatus ist nicht dauerhaft geklärt. Sie können hier zunächst nicht arbeiten und machen sich aber jeden Tag Sorgen um ihre Familienmitglieder, die weit entfernt sind und sie im Alltag nicht mehr unterstützen können. All das wirkt einer Stabilisierung sogar entgegen. Außerdem sollten die Verbrechen dort, wo sie stattgefunden haben, als solche anerkannt und möglichst auch bearbeitet werden. Zudem besteht die Gefahr, dass man einzelne Gruppen besonders privilegiert: Warum die Jesidinnen, und aber nicht die sunnitischen Araberinnen im Nordirak, die teilweise durch den IS und durch schiitische Milizen vergewaltigt wurden? Warum nicht die Frauen aus der Demokratischen Republik Kongo, die seit Jahrzehnten Vergewaltigungen erleben? Das halte ich für eine kaum lösbare Frage: Wo zieht man da die Grenze, und warum gerade dort? Ich glaube, dass Ansätze, die vor Ort stärken und vor Ort gesellschaftlich wirken – und das kann nur über die Menschen vor Ort funktionieren – langfristig gesehen wirksamer sind.

Wie hat sich medica mondiale denn im Nordirak organisiert?
Wir haben dort ein kleines Büro: Eine kurdische Kollegin koordiniert und organisiert unsere Arbeit vor Ort, dazu gibt es eine Buchhalterin und einen Fahrer. Ansonsten arbeiten wir, wie in vielen anderen Ländern auch, mit lokalen Frauenorganisationen zusammen. Im Nordirak unterstützen wir außerdem die Ausbildung staatlicher Gesundheitsfachkräfte, die mit vergewaltigten Frauen arbeiten. Im kurdischen Teil des Nordirak gibt es schon seit einigen Jahrzehnten eine sehr aktive Frauenbewegung, die sich für bessere Schutzgesetze engagiert. Es existieren dort also bereits staatliche Strukturen für Frauen, wie wir sie in vielen anderen Einsätzen bisher noch nicht vorgefunden haben.

Ist das ein Ausnahmefall?
Ja, das ist eine besondere Situation. Im kurdischen Nordirak gibt es den politischen Willen, etwas für Frauen zu tun. Das ist nicht immer so. Die Polizei dort hat eigene Anlaufstellen für Frauen eingerichtet, die Gewalt erlebt haben. In Dohuk stehen das Survivor Center, eine Außenstelle des lokalen Krankenhauses, sowie ein Frauenschutzhaus. Wir unterstützen diese Einrichtungen durch Aus- und Weiterbildungsangebote sowie das Frauenhaus auch bei der Ausstattung. Das Survivor Center war unser erster Zugang zu Überlebenden sexualisierter Gewalt im Nordirak. Es wurde von Psychologinnen und Ärztinnen der kurdischen Autonomiebehörde vor Ort gegründet, vor allem für Frauen, die dem sogenannten IS entkommen sind. Über die Berliner Organisation Haukari, die in Sulaymaniyah arbeitet, unterstützen wir auch Frauen und Mädchen direkt in den Flüchtlingslagern an der irakisch-iranischen Grenze. Das sind Lager, die international kaum wahrgenommen werden.

Ist Gewalt gegen Frauen im Nordirak vor allem ein aktuelles Problem wegen des IS?
Nein. Das Survivor Center ist zwar vor allem für Frauen da, die Gewalt durch die Terrormiliz IS erfahren haben. In die Polizeidienststellen hingegen kommen vermehrt Frauen, die im familiären Umfeld Gewalt erleben. Trotz fortschrittlicher Gesetze und den Errungenschaften der Frauenbewegung im kurdischen Nordirak ist das noch immer eine sehr patriarchale Gesellschaft, in der sich die Vorstellung fortsetzt, Frauen seien minderwertig und hätten weniger Rechte. Wir dürfen nicht vergessen: Die gesamte Region ist seit Jahrzehnten einer hohen Gewalt ausgesetzt: Saddam Hussein ist mit Giftgas gegen die Kurden vorgegangen, es gab den irakisch-iranischen Krieg und Parteienkriege in der Region. Frauen, die sich an Beratungszentren wenden, haben sehr oft mehrfache, wiederkehrende Traumatisierungen erlebt: lebenslange Diskriminierungen, Vergewaltigungen, Massaker, Vertreibung, Flucht, Bomben. Sie haben ihre Männer verloren, ihre Kinder verloren, ihre Häuser verloren, wurden sexuell versklavt. Was ihnen vom sogenannten IS angetan wurde, wird hierzulande medial am stärksten verbreitet, aber dahinter steht eine Menge an weiteren Gewalterfahrungen. In den Flüchtlingslagern setzt sich das fort. Die Perspektivlosigkeit der Menschen dort führt zu einer erhöhten Gewalt gegen Frauen und Kinder und zu Frühverheiratungen junger Mädchen, damit sich die Familien finanziell nicht mehr um sie kümmern müssen.

Warum spielen in Kriegszeiten Vergewaltigungen und andere Gewalt gegen Frauen eine so große Rolle?
Dazu gibt es eine Vielzahl an Theorien. Letztendlich aber geht es immer um Macht. In der Familie wird durch Gewalt deutlich gemacht, wer das Sagen hat. Im Fall von Kriegsvergewaltigungen ist die Ausübung von Macht über den weiblichen Körper vor allem eine Botschaft an den Gegner: Ihr könnt Eure Frauen nicht beschützen. Frauen werden oft als minderwertig angesehen, auch in friedlichen Zeiten. Die Ehre der Familie ist an die Frau geknüpft und die Frau ist der persönliche Besitz des Mannes. Dieser Sexismus bereitet den Boden für derartige Gewalt und lässt sie immer weiter eskalieren: Besitz und Ehre wurden verletzt, also nimmt man Rache, und diese Rache richtet sich wiederum genauso gegen die Frauen des Gegners. Und so potenziert sich das in Kriegszeiten. Die Frauen werden zum Objekt, über das dem Gegner eine Botschaft geschickt wird.

Also sind Kriegsvergewaltigungen kein Zufall und mehr als nur ein übler Nebenschauplatz?
Nein, das passiert auf keinen Fall nur zufällig und nebenbei. Sexualisierte Gewalt wird systematisch eingesetzt und ist Teil der Kriegshandlungen. Es geht um die Zerstörung des weiblichen Körpers und der Reproduktionsfähigkeit des Gegners. Oder: Die Frauen des Gegners werden geschwängert, damit sie die Kinder ihrer Gegner austragen. In beiden Fällen soll die „gegnerische Gesellschaft“ langfristig zersetzt werden. Solche Ereignisse wirken auch über die Zeit des Krieges hinaus fort, wenn traumatisierte Frauen ihre Kinder und Enkelkinder großziehen und als „Beschmutzte“ diskriminiert werden.

Was brauchen Frauen, um das Erlebte verarbeiten zu können?
Für die Frauen ist vor allem wichtig, dass ihre Sicherheit wiederhergestellt wird, und dass sie dabei unterstützt werden, ihre Selbstwirksamkeit und ihren Selbstwert wieder zu steigern. Hinter ihnen liegen oftmals viele Monate in Gefangenschaft. Wir arbeiten deshalb weniger klinisch-therapeutisch, sondern vielmehr psychosozial, also mit der Psyche und mit dem sozialen Umfeld. Die Förderung von Solidarität und sozialer Verbindung ist sehr, sehr wichtig für die Stabilität der Frauen. Wir wissen das auch aus unserer Langzeitstudie aus Bosnien und Herzegowina: Frauen brauchen ein Umfeld, in dem sie nicht diskriminiert, sondern akzeptiert und anerkannt werden und in dem sie darüber sprechen können, was ihnen widerfahren ist. Die Studie zeigt, dass Frauen, bei denen das der Fall ist, viel weniger chronische Symptome entwickeln. Deshalb achten unsere Kolleginnen vor Ort gemeinsam mit den von uns ausgebildeten Ärztinnen, Psychologinnen und dem Krankenhauspersonaldarauf, dass das soziale Umfeld in den Heilungsprozess miteinbezogen wird.

Ihre Organisation wurde von Monika Hauser schon in den frühen 1990er-Jahren gegründet, um vergewaltigte Frauen in Bosnien zu unterstützen. Mit welchen Langzeitfolgen haben die Überlebenden sexualisierter Gewalt denn heute noch zu kämpfen?
Die Bosnien-Studie beispielsweise zeigte: Über 93 Prozent der befragten Frauen haben nach wie vor gynäkologische Probleme, 76 Prozent schildern Schlafstörungen und 57 Prozent zeigen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Viele brauchen Medikamente, sind depressiv und haben chronische Schmerzen, für die keine physischen Ursachen gefunden werden können. Dort, wo ein stabiles soziales Umfeld geschaffen werden konnte, wo der Ehemann weiß und akzeptiert, was seiner Frau angetan wurde, geht es den Frauen durchweg besser. Besonders wichtig für eine langfristige Stabilisierung ist Sicherheit auf lange Sicht, und das ist im Nachkriegskontext Bosnien und Herzegowina leider auch nicht gegeben – ökonomische Schwierigkeiten verstärken die Probleme. Frauen, die in der Lage sind zu arbeiten, die sich selbstwirksam erleben, können mit ihren Erfahrungen besser umgehen. Deshalb ist uns ein ganzheitlicher Ansatz besonders wichtig. Klinisch-therapeutische Hilfe reicht nicht aus. Betroffene brauchen auch Rechtsberatung und die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, damit sie ihren Platz in Familie und Gesellschaft einnehmen können.

Ist es denn sinnvoll, jene Frauen, die im Krieg Gewalt erfahren haben, später in der Gesellschaft besonders hervorzuheben und ihnen Vereinfachungen anzubieten, also zum Beispiel eine Rente oder einen besonderen Kündigungsschutz, wie ihn hierzulande beispielsweise Schwerbehinderte haben? Oder wäre das im Gegenteil sogar kontraproduktiv?
Das ist eine schwierige Frage. Die Gefahr, dass Frauen durch eine Sonderbehandlung weiterhin stigmatisiert werden, ist natürlich da. Die Frauenrechtsorganisationen in Bosnien und Herzegowina haben sich sehr dafür eingesetzt, dass vergewaltigte Frauen als Kriegsopfer anerkannt werden. Das war bis dahin nicht der Fall. Den Kriegsopferstatus gab es bis dato nur für diejenigen, die sichtbar physisch beeinträchtigt wurden – Kriegsversehrte also, ganz überwiegend Männer. Mit dem Kriegsopferstatus ist auch eine kleine Rente verbunden. An und für sich ist es gut und richtig, dass die bosnischen Aktivistinnen das politisch erkämpft haben. Wenn die Gesellschaft aber weiterhin solche Frauen stigmatisiert und diskriminiert, und ihr Kriegsopferstatus nicht anonym bleibt, dann kann das kontraproduktiv sein. Solange weiterhin ehemalige Täter auf den Ämtern sitzen oder sich die betroffenen Frauen Sprüche anhören müssen wie „für 250 Euro jeden Monat hätte ich damals auch die Beine breit gemacht“, ist dieser Kriegsopferstatus für sie nicht viel wert. Ohne eine parallel laufende Aufklärung der Gesellschaft geht es also nicht, und so einen grundlegenden kulturellen Wandel schafft man nicht einfach so über Nacht. Jede Form der Unterstützung für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt muss absolut anonym und maximal niederschwellig sein. Eine bosnische Frau hat uns geschildert, wie ihr Briefträger einmal quer über den Hof rief „Ah, so ein Brief, Sie gehören also auch zu den vergewaltigten Frauen“. So etwas darf nicht passieren. Wir haben da noch sehr viel Arbeit vor uns.

Medica mondiale e.V. ist eine in Deutschland ansässige Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich weltweit für Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten einsetzt. Gegründet wurde sie im Jahr 1993 von der Gynäkologin Monika Hauser, um vergewaltigte Frauen in Bosnien zu unterstützen. Medica mondiale arbeitet vor allem mit lokalen Partnerorganisationen zusammen.

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Interview: Katharina Lotter ist Diplom-Wirtschaftsjuristin (FH) und findet, dass Ökonomie zu wichtig ist, um sie allein den Spezialisten zu überlassen. Um als Journalistin einem breiteren Publikum Lust auf Wirtschaft zu machen, kündigte sie im Krisenjahr 2008 ihren sicheren Job in einer Unternehmensberatung, absolvierte Praktika bei dem Wirtschaftsmagazin „brand eins“ sowie der „Financial Times Deutschland“ und arbeitete einige Jahre als freie Autorin für u.a. „Die Welt“ und das Magazin „liberal“ der Friedrich-Naumann-Stiftung.