Antisemitismus unter Muslimen sei ein Ergebnis von Islamfeindlichkeit – zu diesem Ergebnis kommt eine druckfrische Studie, die unseren Autor nicht überzeugt.

Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen ist ein Problem, das durch den Zuzug Hunderttausender Menschen aus Staaten, in denen Antisemitismus zum guten Ton gehört, künftig eher zunehmen als abnehmen wird. Dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge daher die Erstellung einer Studie unterstütze, die sich mit den Ursachen des Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen beschäftigte und Vorschläge zu seiner Eindämmung erstellte, war eine gute Idee. Dass der „Liberal-Islamische Bund“ und das „Ibis Institut für interdisziplinäre Beratung Institut und interkulturelle Seminare“ sich dieser Aufgabe annahmen eher nicht, wie die Lektüre der nun vorgelegten Abschlussarbeit „Extreme out – Empowerment statt Antisemitismus“ zeigt.

Zwei Gründe sind nach Meinung der Autoren der Studie, Lamya Kaddor, Patricia Jessen, Rabeya Müller und Stephanie Schoenen entscheidend für den Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen: Die Islamfeindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft und mangelndes Wissen über den Islam. Allein die Datenbasis, auf der die Arbeit zu diesen Erkenntnissen kam, ist so dünn wie die Erkenntnisse selbst: Nur ein paar Dutzend Jugendliche an Schulen in Duisburg und Dinslaken wurden befragt.

„Viele Jugendliche rechtfertigen ihre antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen dadurch, dass sie durch die zunehmende Islamfeindlichkeit selbst abgewertet und diskriminiert werden. (…) Viele Mitglieder der Minderheit der Muslime suchen in einer noch kleineren Minderheit häufig eine Art Sündenbock, um selbst erfahrene Diskriminierung durch Verschwörungstheorien zu erklären und durch das ‚Othering‘ und anschließender Abwertung („Israelpolitik“, „Jüdischer Glaube“, „Weltverschwörung“) eigen- und fremdzugeschriebene Defizite zu verkraften. Die ganze Widersprüchlich- und Hilflosigkeit dieser Haltungen wird erst dann sichtbar, wenn man von einigen Jugendlichen erfährt, dass sie für sich beanspruchen, sich als Muslime in einer ähnlichen Opferposition wie Juden zu befinden. Aus dieser Perspektive fordern sie dann ähnliche Solidarisierungsprozesse ein wie Mitglieder und Organisationen jüdischer Zugehörigkeit („Opferneid“).“

Mit dem Islam habe das natürlich nichts zu tun:

„Diskriminierende Vorstellungen und Praktiken bis hin zu vereinzelten Übergriffen gegenüber Nicht-Muslimen sind zwar im Nahen und Mittleren Osten im Mittelalter bis zur Neuzeit nachzuweisen. Sie alleine erklären aber den heutigen Diskurs mit seinen Diskurssträngen nicht. Auch ein grundsätzlicher antijüdischer Grundton und Interpretation polemischer Verse im Koran oder Textstellen in der Sunna (wie wir sie dann bei Sayyid Qutb finden) gibt es in der sunnitischen Tradition nicht. (…) Aber auch im konservativ-traditionellen theologischen Milieu zeichnet sich eine Tendenz ab, antijüdische Elemente der Quelltexte zu verallgemeinern und diesen Diskursstrang zu bedienen. Religiöse Texte und Glaubensinhalte werden dabei in einen antisemitischen Kontext gestellt, der sich bei einer genaueren theologischen sowie islamwissenschaftlichen Analyse so nicht halten lässt. Dementsprechend kann nicht von einem muslimischen oder islamischen Antisemitismus gesprochen werden(…).“

Dass muslimische Jugendliche sich ausgerechnet Juden aussuchen, um ihre durch angebliche Islamfeindlichkeit verursachten Probleme zu kompensieren,  ohne den tiefsitzenden Antisemitismus in den muslimischen Gesellschaften weltweit als Grund anzuführen, ist eine abenteuerliche Argumentation. Die wenigsten Menschen in Deutschland dürften jemals einem Juden begegnet sein. 100.000 Mitglieder zählen die Gemeinden hierzulande, bei 80 Millionen Einwohnern machen Juden gerade einmal etwas mehr als 0,1 Prozent der Bevölkerung aus. Warum die Juden und nicht, in Anspielung auf eine Passage in Erich Maria Remarques Roman „Der schwarze Obelisk“, die Radfahrer, Eigenheimbesitzer, die Zeugen Jehovas, die Punks, die Obdachlosen oder die ebenfalls 100.000 Anhänger des Hinduismus in Deutschland?

Islam und Antisemitismus

Die Erklärung ist einfach: In Ländern, in denen der Islam eine wichtige Rolle spielt und die sich selbst als islamisch bezeichnen, ist der Antisemitismus tief in den Gesellschaften verankert. Er ist nicht eine üble Eigenart einer kleinen Minderheit radikaler Islamisten, sondern eine von der Mehrheit geteilte Weltsicht.

Die vertretene Haltung der Studie, der Antisemitismus ließe sich bei islamwissenschaftlicher Betrachtung nicht als Grundhaltung des Islams ausmachen, zeigt, dass Theologen nicht unbedingt die erste Anlaufstelle sein sollten, wenn es um die Interpretation „heiliger Schriften“ und ihrer Wirkungsgeschichte geht. Ihr Glaube, heilige Schriften wie Bibel und Koran hätten einen Kern, der sich herausarbeiten lässt und gegen bösartige Interpretationen verteidigt werden muss, ist schlicht Unsinn.

Gerade die beiden großen missionarischen Religionen Christentum und Islam wäre nie so erfolgreich geworden, wenn es einen solchen Kern gegeben hätte. Der Schlüssel zu ihrer weltweiten Verbreitung ist ihre Beliebigkeit. Sie stellt sicher, dass der Islam wie auch das Christentum, unter allen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen erfolgreich sein können. Man kann aus den Schriften dieser Religionen beliebig Aufrufe zu Mord und Toleranz, Liebe und Hass, Frieden und Krieg ableiten. Sie sind hochflexible Protoideologien, Gedankengebäude aus einer Zeit, in der das Denken noch weitgehend mit transzendenten Vorstellungen verbunden war.

Angriff auf die Aufklärung

Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn beschreibt in seinem Buch „Globaler Antisemitismus“ den Antisemitismus als einen Angriff auf die Aufklärung – unabhängig davon, ob er religiös oder politisch daherkommt. Der Antisemitismus, so belegt Salzborn, ist Teil von Angriffswellen auf aufgeklärte, demokratische und pluralistische Gesellschaftsformen. Kein Zufall also, dass der Antisemitismus Kernbestandteil von Faschismus und Nationalsozialismus war, jener Ideologien, die ab den 20ern des vergangenen Jahrhunderts offene Gesellschaften bedrohten. Und er ist es heute, wo nach Ansicht Salzborns der Angriff auf die Aufklärung neben Rechtsradikalen und Esoterikern vor allem von islamistischen Gruppen geführt wird, die in den Kernländern des Islams große Teile der Bevölkerung hinter sich wissen:

„Der islamische Antisemitismus, der im internationalen Kontext die gegenwärtig einflussreichste Form des Antisemitismus darstellt, integriert dabei ebenso wie die beiden anderen Formen des transnationalen Antisemitismus ein gewaltförmiges und auf die physische Tötung von Jüdinnen und Juden zielendes Potenzial. Nach dem Nationalsozialismus und dem Linksterrorismus ist der islamische Antisemitismus die dritte supranationale Bewegung.“

Folgt man Salzborn, sind aktuelle islamische Auslegungen, die weit entfernt vom Denken liberaler Muslime wie Ahmad Mansour und seinen Mitstreitern sind, die Ursachen für den Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen. Und der ist eine von großen Teilen der Gläubigen gewählte Auslegung der Schriften, die so richtig und falsch ist wie jede andere.

Wenn der Antisemitismus ein Angriff auf der Aufklärung ist, kann die Lösung nicht in einer besseren religiösen Unterweisung liegen, wie es die Studie fordert und damit dem Mythos der Diskriminierung von Muslimen folgt. Nicht wegen ihrer Religion werden Türken und Araber in erster Linie diskriminiert, sondern wegen des Rassismus von großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Jugendliche mit türkischen und arabischen Namen finden schwerer Lehrstellen, Familien mit türkischen und arabischen Namen haben Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, egal ob sie Muslime, Christen oder Atheisten sind. Ein Buch von Richard Dawkins im Regal schützt so wenig vor Diskriminierung wie eine Sammlung guter Weine.

Nicht in einer „besseren“ Auslegung des Korans, sondern in weniger Religiosität liegt die Lösung. Samuel Schirmbeck schreibt in „Gefährliche Toleranz: Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam“, dass ein Trauma der islamische Machtverlust gegenüber dem Okzident ist:

„Dieses Trauma heißt Begegnung mit der Aufklärung. Dass diese Begegnung für den Islam ungünstig verlief, hätte nicht sein müssen. Denn es gab einen Islam, der selbst aufklärerisch war. Es hat einmal einen Islam der Vernunft gegeben, bis die Vernunft dem Islam ausgetrieben wurde, vor 800 Jahren. Von einer Theologiepolizei, die bis heute ihr Unwesen treibt.“

Mehr Aufklärung, mehr Mut seine eigene Individualität auszuleben und der Bruch mit alten Traditionen und religiösen Vorstellungen, die Unterstützung des Wunsches nach Freiheit – das sind die besten Mittel gegen Antisemitismus, die es gibt. Nicht ein besserer islamischer Religionsunterricht, sondern stattdessen mehr Mathematik und Geschichte an den Schulen wären Schritte in die richtige Richtung. Der aus verfassungsrechtlichen Gründen zu zahlende Preis eines Endes auch des christlichen Religionsunterrichts wäre nicht hoch. Er ist ohnehin überfällig.

Dass Autoren des „Liberal-Islamischen Bundes“ und dem Seminaranbieter Ibis zu einem anderen Schluss kommen, hat mehr mit Marketing als mit Problemlösung zu tun. Wer auf dem Religions- und Weiterbildungsmarkt unterwegs ist, kann kaum zu anderen Schlüssen gelangen. Und im Marketing sind beide Organisationen offenbar Experten, sonst hätten sie eine so dürftige Studie nie finanziert bekommen.