„Ich atmete Hoffnung“
Michael Emge stand auf Schindlers Liste. Eine Begegnung mit dem letzten Überlebenden aus Deutschland, der Oskar Schindler sein Leben verdankte.
Dies ist ein gekürztes Kapitel aus dem neuen Buch des Journalisten und Autors Tim Pröse. Er hat 18 Zeitzeugen und Gegner des NS-Regimes getroffen und porträtiert: Widerstandskämpfer, Lebensretter, Holocaust-Überlebende. Daraus sind seine „Jahrhundertzeugen“ entstanden – einer von ihnen verdankt sein Leben Oskar Schindler.
Der Held lebte in Appartement 63 im sechsten Stock. Von 1965 bis zu seinem Tod 1974 war er hier gemeldet. „Am Hauptbahnhof 4“ in Frankfurt. Vor Dönerläden setzen sich Süchtige ihren Schuss, Frauen verkaufen ihre Körper, Trambahnen kreischen, Reisende strömen in den Bahnhof. Kaum einer ahnt, wer hier einst gegenüber den Gleisen gewohnt hat.
Denn auf die Idee, den austauschbaren Namen des Platzes „Am Hauptbahnhof“ durch seinen berühmten zu ersetzen, ist die Stadt Frankfurt bislang nicht gekommen. An den Mann, den die ganze Welt heute bewundert, der sein Leben riskierte für das Leben von 1200 Juden, erinnert nur ein von Abgasen geschwärztes Messingrelief an der Hauswand.
Das Porträt zeigt Oskar Schindler kurz vor seinem Tod. Die Nase, die aus dem Relief hervorragt, ist ganz blank, weil einige Betrachter sie häufig berühren. Manchmal öffnet sich die Haustür von Haus Nummer 4, und Menschen mit unglücklichen Gesichtern oder Plastiktüten voll leerer Flaschen treten heraus. Aus dem Treppenhaus weht ein stickiger Geruch. Und Verlorenheit.
Immer wenn mir in Frankfurt beim Umsteigen etwas Zeit bleibt, gehe ich von den Gleisen kurz zu seinem Haus hinüber, stehe vor dieser Fassade und schaue empor. Auf einem der zig Klingelschilder steht tatsächlich der Name Schindler. Einmal klingele ich dort und steige hinauf. Doch der Bewohner weiß mit seinem Namensvetter nichts anzufangen. Er zuckt bloß seine Schultern und schlägt die Tür wieder zu.
Ein Mann, der Schindler sein Leben verdankt, kann mir 2013 bei einem Treffen in Köln noch von seinem ganz persönlichen Wunder erzählen. Er hat ein Pseudonym und eine Geheimadresse. Man kann ihn nicht direkt erreichen, sondern muss bei Freunden von ihm um ein Interview bitten.
Er kommt mit der U-Bahn. Der kleine, zarte 84-Jährige geht langsam, aber aufrecht. Nichts hat ihn brechen können. Und doch achtet er immer darauf, dass niemand zu nah hinter ihm herläuft. Er wartet vor der Rolltreppe der U-Bahn-Station, bis die Menschen um ihn herum verschwinden, bis er niemanden mehr in seinem Rücken spürt. „Sie kamen meist von hinten, sie schlugen von hinten zu“, sagt Michael Emge über seine Peiniger. „Dieses Gefühl ist mir geblieben.“
Er ist der letzte Überlebende in Deutschland, dessen Name auf Schindlers Liste stand. Vor 20 Jahren drehte Steven Spielberg seinen bedeutendsten Film, ein Denkmal für den Holocaust – und für einen bis dato unbekannten Helden, der 1974 verarmt und vergessen von seinen Landsleuten starb. Oskar Schindler, der Mann, der die SS bestach, ihr die Juden mit all seinen Millionen abkaufte und sie in seiner Emaillewarenfabrik in Krakau als kriegswichtige Arbeiter beschäftigte.
„Er war ein guter Mensch“, sagt Emge. Dann schweigt er für Sekunden. „Privat aber war er auch ein Schuft. Alkohol, Frauen, Geld. Diese drei Dinge waren ihm wichtig.“ Schindler war ein Geschäftsmann, der Hennessy-Cognac, englische Zigaretten und alle hübschen Frauen liebte, die ihm begegneten. Er sei auch deswegen gut zu „seinen“ Juden gewesen, weil er reich mit ihnen geworden sei, sagt Emge: „Er war durchaus zunächst auf seinen Vorteil bedacht.“
Zweimal hat der Rentner den berühmten Film gesehen, mit kritischem Blick: „Als kommerzieller Film ist er brillant. Ein Hollywood-Meisterwerk. Als Dokumentation ist er aber eher nicht zu gebrauchen.“ Der Film unterschlage unter anderem, welch wichtige Rolle Schindlers Frau Emilie gespielt habe. „Sie versorgte uns mit Essen. Ihr Mann war der Prinz, der sich nicht um solche Kleinigkeiten kümmerte. Sie aber schmuggelte auch die Brillanten nach Berlin, um die ›Schindler-Jüdinnen‹, die nach Auschwitz deportiert wurden, zurückzuholen.“ Im Film ist es Schindler selbst, der die Edelsteine dem Kommandanten von Auschwitz bringt.
Auch deswegen will Emge seine Wirklichkeit erzählen. „Der liebe Schindler trug das blutrote Parteiabzeichen der NSDAP, das dürfen Sie nicht vergessen“, sagt Emge. Mit dem Blutorden, den nur die treuesten Nazis bekamen, konnte Schindler die Mächtigen beeindrucken. Er machte nie einen Hehl daraus.
Doch der Lebemann im Maßanzug samt Seidenhemd hatte sich verändert. Nachdem er Zeuge der Naziverbrechen geworden war, kaufte er die Juden nicht länger, um sie als Arbeitssklaven auszubeuten, sondern um sie zu retten. Alte, Kranke, Kinder. Darunter Michael Emge, damals zwölf Jahre alt. Zeitlebens erfuhr Emge nicht, wer dafür warb, ihn auf die Liste zu setzen. Er vermutet, dass es der SS-Kommandant des Ghettos Bochnia, Franz Müller, war, der dafür seinen guten Draht zu Schindler ausspielte.
In Bochnia musste Emge mit seinem jüdischen Vater und seiner katholischen Mutter seit 1939 leben, nachdem man sie aus ihrer Heimat nahe Krakau vertrieben hatte. Von dort wurde er später als „Halbjude“ ins KZ Plaszow deportiert.
Er hört sie immer noch, die Kinderlieder, die die SS-Männer über Lautsprecher im ganzen Lager erschallen ließen. „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“. „Die Mütter liefen hinter den Lastwagen her, schrien: ›Unsere Kinder! Unsere Kinder!‹ Da kurvten die Fahrer der Wagen hin und her und überfuhren ein paar der Mütter.“ Emges Stimme bricht.
„Wie ein König“ sei der Lagerkommandant Amon Göth auf seinem Pferd durch das KZ geritten, seine Doggen, Rolf und Ralf, hinterher. Ein Wort von Göth reichte, und sie stürzten sich auf die Gefangenen. Einmal befahl man Emge, in den Zwinger zu gehen, um die Hunde zu versorgen. Es wäre sein Todesurteil gewesen, wäre ihm nicht die Idee gekommen, den Schäferhund des Ghetto-Kommandanten Müller, um den er sich kümmern durfte, mit hineinzunehmen. Todesmutig betrat er den Zwinger. Die Doggen überragten den Jungen, beschnupperten ihn und den Schäferhund aber nur. Und Emge streichelte sie. Er vergaß nie, wie weich sich die Schnauzen der Bestien anfühlten.
Die Wunden von damals sind Emge geblieben. Seine dunklen Augen liegen in einem schmalen Gesicht, seine Stimme ist heiser und brüchig. Er krempelt jetzt sein Hosenbein hoch bis über das Knie, um mir eine auffällige Narbe zu zeigen. An jener Stelle hatte ihm ein KZ-Arzt im Lager monatelang eine halb offene Dose mit Läusen ans Bein gefesselt. Die Tiere fraßen sich ins Fleisch. Doch das ist alles, was er von seinem eigenen Leid erzählt, stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit lieber auf das der anderen.
„Es gab Strafsanktionen für Kartoffeldiebe. Sie wurden am Galgen aufgehängt, nur ihre Zehenspitzen berührten den Boden. Man band ihnen die Hände auf dem Rücken zusammen und steckte ihnen eine Kartoffel in den Mund“, erinnert er sich. „Sechs, sieben Stunden dauerte die Folter, und wir alle mussten Spalier stehen.“ Dann erzählt Emge von dem Arbeiter, den Kommandant Göth erschießen lassen wollte. Wie im Spielberg-Film ging auch der echte Mann auf die Knie, ein SS-Mann zielte auf seinen Kopf, drückte ab, aber es löste sich kein Schuss. Der Arbeiter überlebte.
Als einziger von 65 Familienangehörigen überlebte auch Emge. Woher nahm er die Kraft? „Ich stand allein. Wie eine Säule.“ Vielleicht war es die Hoffnung, die ihn aufrecht hielt, die Aussicht, seine Mutter wiederzusehen, die auch auf der Liste stehen sollte. Die getrennt von ihm im Schindler-Werk in Krakau arbeitete, während er der Lagerwerkstatt im KZ Plaszow zugeteilt war. 1944 sollten alle „Schindler-Juden“ in die neue Fabrik des Industriellen nach Brünnlitz verlegt werden. Dafür hatte Schindler seine Liste anfertigen lassen. Doch Emges Mutter stieg in den Zug, der die Frauen nicht ins rettende Brünnlitz, sondern fälschlicherweise nach Auschwitz brachte.
„Ich habe mir immer den Moment ausgemalt, an dem ich meine Mutter wiedersehe.“ Erst 1945 erfuhr er, dass sie in Auschwitz verraten worden war. Eine Mitgefangene hatte sich für sie ausgegeben und war gerettet worden, so wie fast alle anderen „Schindler-Frauen“, die Auschwitz wieder verlassen durften, weil Schindler sich für sie verwendet hatte. Emges Mutter aber blieb und kam um. Von da an lebte Emge mit dem Gefühl, für das es das deutsche Wort „mutterseelenallein“ gibt. Es hat ihn nie mehr losgelassen.
Bis „Schindlers Liste“ in die Kinos kam, sprach Emge kaum von sich. Selbst seiner Frau konnte er erst nach zehn Jahren Ehe vom Unsagbaren berichten. Den meisten anderen Menschen vertraut er nicht. Als er vor 20 Jahren begann, unter seinem richtigen Namen als Augenzeuge aufzutreten, erreichten ihn so viele Drohbriefe und -anrufe, dass er sich auf Anraten der Polizei das Pseudonym „Michael Emge“ zulegte.
Nach dem Krieg hatte Emge zunächst in Polen Musik studiert und dort in einem Orchester gespielt, bis er 1958 nach Israel übersiedelte. 1966, zum Prozess gegen den SS-Ghetto-Kommandanten Franz Müller, reiste Emge von dort nach Deutschland. Er entlastete den SS-Mann. Und blieb in Deutschland, wo er als Barmixer und zuletzt als Verkäufer in einer Karstadt-Filiale arbeitete. Seine Rente: 345 Euro.
Die Liebe zur Musik ist ihm geblieben. Sie hüllt ihn ein, wenn ihn das Grauen der Vergangenheit übermannt. Dann legt er in seiner kleinen Wohnung die alten Kassetten in den Recorder und taucht in die Melodien von Tschaikowsky und Brahms ein. Doch in der Stille kehren die Erinnerungen zurück: Wenn er von seinem Gestern erzählen soll, schreckt dieser Mann schon Nächte vorher aus dem Schlaf. Als Erstes geistert ihm immer seine Häftlingsnummer durch den Kopf: 73693.
Seine Stimme klingt erschöpft, wenn er vom Rauch erzählt, den er atmete, als die SS die Baracken im Ghetto Bochnia niederbrannte und Menschenleichen in die Flammen warf. Er erinnert sich, wie sich der süßliche Gestank festsetzte in seinem Hals und dass Asche vom Himmel regnete. Kurz vor Kriegsende kam endlich der Tag der Befreiung. Und des Abschieds. Schindler trat ein letztes Mal vor die Arbeiter seiner Fabrik in Brünnlitz.
Emge vergaß nie, wie jemand anfing, jüdische Lieder zu singen, und alle einstimmten. „Die Klänge umwoben mich, zogen in mich ein. Einen Moment atmete ich Hoffnung.“ Diese Szene, im Film verewigt, erlebte Emge als ein typhuskranker, auf 27 Kilo abgemagerter 15-Jähriger. Er stand neben dem Arbeiter, der seine Goldzähne gab, um aus ihnen ein Abschiedsgeschenk für Schindler zu schmieden. „Er hat geschrien. Mit einer Zange haben sie ihm die Zähne herausgerissen.“ Das Gold schmolzen sie ein und gossen daraus einen Ring.
Oskar Schindler ging nach dem Krieg nach Regensburg, München und Argentinien. Sein alter Erfolg kam nie mehr zurück. „Er konnte nicht mit Geld umgehen, er hatte alles verzockt“, sagt Emge. Schindler kehrte heim, mietete sein schäbiges Zimmer am Frankfurter Hauptbahnhof und hoffte auf Hilfe. „Doch für viele Politiker war er ein Vaterlandsverräter. Das hat ihn tief gekränkt.“ Viele „seiner“ Juden versorgten ihn mit Geld. Den Ring aus dem eingeschmolzenen Zahngold verspielte er beim Pokern, berichtet Emge. Er ist nie wieder aufgetaucht.
Auch Emge ist nicht viel geblieben aus der Schindler-Zeit, nur ein vergilbtes Stück Papier. Es ist der Entlassungsschein aus Schindlers Krakauer Fabrik. Er zieht ihn behutsam aus seiner Jackentasche und fährt mit seinem Zeigefinger über die großen Bögen der Unterschrift. Sie stammt von Itzhak Stern, Schindlers Buchhalter, den in Spielbergs Film Ben Kingsley spielt.
Nach unserem Gespräch begleite ich Michael Emge zur U-Bahn. An der Rolltreppe wartet er wieder, bis alle an ihm vorbeigezogen sind. Der Zug fährt ein, Bremsen lärmen, und so scheint es, als habe er meine letzte Frage überhört: Ob er je wieder glücklich wurde? Kurz bevor er einsteigt, antwortet er: „Ich war zufrieden in meinem Leben… Aber glücklich? Nein, glücklich wurde ich nie mehr.“
Michael Emge starb im August 2014 mit 84 Jahren. Mit dem Tod bekam er seinen wirklichen Namen zurück, der auf Schindlers Liste stand: Jerzy Gross.
Tim Pröse: Jahrhundertzeugen Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen.
Heyne Verlag; 320 Seiten; 19,99 Euro.