Depressionen sind unbehandelt eine tödliche Erkrankung. Es gibt Hilfe. Man muss sie nur suchen – und wollen. Bevor es zu spät ist.

Schon wieder eine Beerdigung. Schon wieder ein Freund, der sich das Leben genommen hat. Schon wieder das schräge Miteinander einer Trauerfeier; diese Mischung aus untröstlichem Weinen und dem lachenden Austausch schöner Erinnerungen; eine endlose Sinuskurve der Gefühle. Die regungslose Stille dazwischen und immer, immer wieder die hilflosen Fragen, was man hätte tun können, um diesen Suizid zu verhindern. Bemerken müssen und wann – ja, wann fing es an –, dass jemand sich in diesen tiefschwarzen Tunnel begab, der enger und enger wird, einen irgendwann so fest einquetscht, dass man sich nicht mehr umdrehen kann. 

So wie uns quälen diese Fragen unzählige Angehörige und Freunde. Mindestens 11.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben, dreißig – jeden Tag. Etwa 600 Menschen unternehmen hierzulande eine Suizidversuch – jeden Tag. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher liegen; in vielen Fällen wird ein Suizid als solcher nicht erkannt, bei Autounfällen oder  Medikamentenvergiftungen älterer Menschen zum Beispiel, die absichtslos erscheinen, es aber nicht waren. 

Suizid ist die vierthäufigste Todesursache in Deutschland.

Dass, wer davon spricht sich umzubringen, es eher nicht tut, ist ein Mythos. Dass ein Suizidversuch in der Regel nur ein Hilfeschrei ist, ohne die feste Absicht zu sterben, auch einer. Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, sind die größte Risikogruppe, es wieder und diesmal erfolgreich zu tun. Das hängt ganz banal von den gewählten Methoden ab.

Todesursache ist „in über 90 Prozent“ eine psychiatrische Erkrankung, so Professor Andreas Reif, Direktor der Psychiatrie am Frankfurter Universitätsklinikum. Die Depression ist die Häufigste davon. „Von freiwillig aus dem Leben scheiden“ könne keine Rede sein. 

„Die unbehandelte Depression führt zum Tod“, sagt der Frankfurter Psychotherapeut Johannes Winges. „Es gibt viele Routen zum Suizid“, oft ist es kein Todeswunsch, sondern der „eingeengte Blick: ich halte das so nicht mehr aus“, das Leben mit dem Leiden, so Reif.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) geht davon aus, dass 27,8 Prozent der Bevölkerung jedes Jahr psychisch erkrankt. Doch nur ein Fünftel davon sucht sich professionelle Hilfe. Obwohl sich in der Aufklärung und Prävention in den letzten zehn Jahren viel getan hat, sind Depressionen immer noch mit einem Stigma belastet; die Scheu, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen, ist groß. Der Gedanke, nicht als „Psycho“ dastehen zu wollen, führt in die Isolation, und diese verstärkt sich immer mehr, je schlechter es den Menschen geht, ihnen aber die „Krankheitseinsicht“ fehlt, sich Hilfe zu suchen, sagt Professor Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt.

„Ich werde nicht fröhlich“

Die Statistiken seines Instituts verdeutlichen für den Laien sehr eindrücklich das Leiden. Im strahlenden, warmen Juni letztes Jahr nahmen sich fünfzehn Menschen in Frankfurt das Leben; ein Hoch, gewiss, den Jahresdurchschnitt in Frankfurt beziffern die Rechtsmediziner auf neunzig Personen, plus einer Fehlerquote zwischen zehn und zwanzig Prozent.

Während viele „Normale“ ein wenig Winterblues haben und im Frühling, der endlich Licht und Wärme bringt, bei ihnen die Lebensfreude wieder erwacht, tut sich bei Depressiven eben nichts. „Man merkt, es wird schön, aber es passiert nichts, ich werde nicht fröhlich“, so Verhoff. Eine „mangelnde Fähigkeit«, überhaupt auf äußere Reize zu reagieren – „den Depressiven kann eben nichts erfreuen“. Hilflose Appelle im Umfeld, „jetzt reiß dich mal zusammen, unternimm mal was Schönes“ führen zu nichts. „Das ist, als würden Sie zum einem Rollstuhlfahrer sagen, du musst einfach nur aufstehen“, erklärt Reif. Depressive sind eben nicht einfach „schlecht drauf“, nur in einer Lebenskrise, wie sie jeder erlebt – sondern krank. 

Von außen sei das für viele oft schwer zu verstehen, sagt Winges. „Die Leute sind immer überrascht, wenn sie reiche Menschen sehen, denen es schlecht geht, die eine Depression haben. Du hast doch ne Villa, Frau und Kinder und Millionen – ja, aber ich hab Angst den ganzen Tag.“ Oder, in den Worten von Professor Reif: „Man kann eine Depression haben im glücklichsten Leben – genauso wie einen Herzinfarkt.”

Oft geht die Depression einher mit einer Vielzahl von Begleitsymptomen, häufig einer Angststörung. „Wir behandeln die Depression, als wäre es eine Erkrankung, dabei ist es ein Sammeltopf, ein Syndrom, das verschiedene Ursachen hat.“ Eine Art „Fieber des Gehirns“, so hat es eine Mitarbeiterin Reifs einmal beschrieben. Die Erfahrung des Arztes und seine Sensibilität bei der Wahl der Mittel sei deshalb entscheidend, sagt Verhoff, „das ist im wahrsten Sinne die Heilkunst“. Und manchmal ist die Verschreibung „nach Lehrbuch“ vielleicht nicht die Beste. Der in Frankfurt niedergelassene Psychiater Martin Finger bestätigt das. Doch der Umgang mit den Patienten allgemein müsse sich streng an die Leitlinien halten, nur so könne bestmögliche Hilfe geleistet werden. 

Die Leitlinien geben den Psychotherapeuten auch vor, wann ein Patient ein Fall für den Psychiater ist, sagt Winges. Die Psychotherapie ist ein Heilberuf, Medikamenten dürfen Psychotherapeuten im Gegensatz zu Psychiatern nicht verschreiben.

Wichtig ist es, über die Wirkungsweise der Medikamente aufzuklären. Natürlich haben auch Psychopharmaka Nebenwirkungen, was oft nach einer Verbesserung des Befindens dazu führt, dass die Patienten sie eigenständig absetzen oder, bei nachlassender Wirkung, noch alles mögliche an Drogen und Alkohol nebenbei konsumieren.

Dummerweise ist es mit den Antidepressiva wie mit dem Licht, der Sonne im Frühjahr. Sie wecken zuerst den Antrieb – Wochen bevor die Stimmungsaufhellung sich einstellt. Und bei manchen eben den Antrieb, nun zur Tat zu schreiten. Deshalb wird in der Regel zusätzlich ein sedierendes Mittel gegeben. Weit verbreitetet ist die Ansicht, man würde in der Psychiatrie nur „stillgelegt“ – die Sedierung dient schlicht der Lebensrettung und ist zeitlich begrenzt, bis die erhoffte bessere Verfassung sich einstellt. Wingens begrüßt eine Reform von Jens Spahns Gesundheitsministerium, dass nun auch Therapeuten, die ja keine Ärzte sind, Patienten in eine Klinik überweisen dürfen, wenn sie Lebensgefahr sehen.

„Psychotherapie ist hilfreich und wichtig“, doch Schwerkranke bräuchten dringend Medikamente und deshalb die Hilfe eines Psychiaters, erklärt Reif, denn „kognitive Defizite“ seien ein Kernsymptom: die Patienten sind gar nicht in der Lage, neue Denkmuster zu lernen und aufzunehmen, was ihnen ein Psychotherapeut zu vermitteln versucht. Reif vergleicht es mit einem komplizierten Beinbruch, der natürlich der Physiotherapie bedarf – nachdem er von einem Orthopäden versorgt wurde.

„Etwas weniger stigmatisiert als früher“

Obwohl die Zahl der erfassten Suizide immer noch sehr hoch ist – seit 1980 ist es gelungen, die Fallzahlen zu halbieren. Seit 2010 stagniert die Rate jedoch. Für den Rückgang macht Professor Reif im Wesentlichen vier Faktoren verantwortlich: die psychiatrische Versorgung habe sich deutlich gebessert; Patienten lassen sich eher behandeln, weil psychische Erkrankungen „etwas weniger stigmatisiert sind“ als früher. Auch seien Depressionen „mehr im Bewusstsein der Ärzte. Was vor dreißig Jahren als psychovegetativer Erschöpfungszustand oder als Muskelschmerz verschwurbelt wurde“, wird heute als Depression erkannt. Der vierte wichtige Punkt ist die „Methodenrestriktion“, wie zum Beispiel die Sicherung von hohen Gebäuden und das Anbringen von Notfalltelefonnummern an potentiell tödlichen Sprungmöglichkeiten und entsprechende Hinweise in der Berichterstattung. Die Erfahrung sage, dass Menschen tatsächlich eher zum Telefon greifen und um Hilfe bitten, als zum nächsten geeigneten Ort zu gehen. Reif sieht die Medien in großer Verantwortung, nicht en Detail über Suizide zu berichten, denn der Nachahmungseffekt ist statistisch belegt. Sorge bereitet ihm das Internet. Je ausführlicher über vermeintlich schmerzfreie Methoden berichtet wird, die eine „Todeswahrscheinlichkeit“ garantieren, desto mehr Leute folgen denen. Vor allem Frauen, die zwar doppelt so häufig an Depressionen und Angststörungen leiden wie Männer, aber vergleichsweise erfolgloser sind, von eigener Hand zu sterben. Das liegt schlicht an der Verfügbarkeit sicherer, schmerzfreier Mittel, so Reif. Aber Frauen würden sich eben auch allgemein besser um ihre Gesundheit kümmern und sich früher Hilfe holen.

Die höchste Suizidrate liegt bei Männern über Siebzig, international gesehen sind es Menschen zwischen fünfzehn und neunundzwanzig Jahren, gefolgt von denjenigen in der sogenannten »midlifecrises«. Die »Mitte des Lebens Krise«, so der Psychotherapeut Winges, in der einem vermeintlich klar wird, dass man bestimmte Dinge nicht mehr erreichen oder ändern können wird und einem ein »weiter so« unerträglich erscheint. Das Wort »Bilanzsuizid« mag und verwendet der Direktor der Frankfurter Psychiatrie nicht, aus medizinischer Sicht verständlich, ist es doch für ihn eine nur krankheitsbedingte eingeengte Sicht.

Die Symptome, wie sie früher vielleicht mit einem Achselzucken vom Hausarzt abgetan wurde, weil sich kein organischer Befund für ein Leiden ergab, erläutert die Allgemeinmedizinerin Corinna Zastrow: Schlafstörungen, frühes Erwachen, kreisende Gedanken, Seh- und Gedächtnisstörungen, Appetitlosigkeit, sozialer Rückzug, Muskel- und Magenschmerzen, Interessenlosigkeit… die Liste ist lang, die Frage, „Haben sie Selbstmordgedanken?“ zwingend und eine Überweisung zu einer psychiatrischen Ambulanz auch. Die Versorgungslage in Deutschland sei insgesamt sehr gut, so Finger. Akutfälle bekämen in der Regel in ein, zwei Tagen einen Termin bei einem niedergelassenen Psychiater oder in einer psychiatrischen Notfallambulanz; wenn es noch schneller gehen muss, sofort einen Platz auf der Akutstation einer psychiatrischen Klinik. 

Das Problem ist die Zeit danach. Die Rückkehr in das alte gewohnte Umfeld ist für den Patienten die gefährlichste Zeit. „Was für ein Umfeld haben die psychisch kranken Menschen“, fragt der Therapeut Winges, wohin werden sie entlassen, und wer ist für sie da und fängt sie auf? Psychische Erkrankungen überfordern schnell das Umfeld; die Gefahr, dass sich Angehörige und Freunde abwenden, ist groß. „Der Partner kann nicht therapieren“, sagt Reif. Der Kranke müsse sich nun mal selbst um eine Behandlung kümmern. Gegen seinen Willen darf in Deutschland niemand in die Psychiatrie eingewiesen oder festgehalten werden; wer, auch gegen ärztlichen Rat gehen will, darf das – wie in jedem normalen Krankenhaus auch. Außer, es liegt eine Tat von „Selbst- und Fremdgefährdung“ vor. Für die Selbstgefährdung gibt es einen Zeitraum von 24 Stunden, der den Klinikern bleibt, jemanden auf der Station zu halten. Über längere Zwangseinweisungen muss ein Richter entscheiden. Vor Gericht sind das dann die Fälle von paranoiden Schizophrenen, die mit Gewalt auf jemanden anderen losgehen. Die schwierige Frage von „Was ist Fürsorge und was ist Freiheit?“, nennt es Finger.

Die Einschätzung, wie gefährdet jemand tatsächlich ist, sich das Leben zu nehmen, ist auch auch für die Fachleute nicht einfach. „Man kann einem Menschen nun mal nicht in den Kopf sehen.“ Das sei „wie bei einem Aneurysma. Wir können es diagnostizieren, aber nicht vorhersehen, wann es platzt.“ Jeder Krankheitsverlauf ist individuell, die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, kann genauso plötzlich fallen, wie im Stillen lange Zeit geplant, auch ohne das es jemand im  Umfeld bemerkt.

Angehörige können zu Beginn einer Erkrankung eine „Persönlichkeitsveränderung ansprechen, ihre Sorge vermitteln und versuchen, den Menschen in eine fachmännische Behandlung zu bringen“, sagt Reif – doch Hilfe wollen und sich suchen muss derjenige schon selbst.

Partner können nicht therapieren

Jedoch sei „das System ist nicht gesteuert“, so der Direktor der Psychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt. Siebzig Prozent der Krankenkassengelder gingen an die niedergelassenen Psychotherapeuten, die aber gerade mal ein Fünftel der Patienten versorgen. In Zahlen: während ein Psychotherapeut 50-60 Patienten pro Quartal hat (eine Sitzung dauert nun mal eine Stunde), sind es beim niedergelassenen Psychiater 400-700. Hinzu käme, dass oft derjenige am ehesten Hilfe bekomme, der am lautesten schreit oder sich im Erstkontakt gut, das heißt als „einfach“, darstellt, kritisiert Reif. Die niedergelassenen Psychotherapeuten weisen das von sich, doch das sei etwas, „was Patienten immer wieder berichten“.

Als Klinikleiter hat Reif natürlich in erster Linie mit den „harten Fällen“ zu tun, die ein niedergelassener Therapeut „gar nicht sieht“, sagt er. Im Schnitt dauert es zwischen drei bis sechs Monaten, bis jemand eine „Richtlinientherapie“ bekommt. 

Eine Zeit, kaum auszuhalten für viele.

Unser Freund konnte nicht warten. Zu der Depression hatten sich Panikattacken gesellt. Das Medikament, das ihm in letzter Zeit half, war nicht lieferbar. Das gut wirksame Venlafaxin ist seit Monaten nicht lieferbar, in höheren Dosen in der Schweiz schon, aber kämpfe mal mit der Kasse um die Bezahlung. Freiwillig ging er in die Psychiatrie, wo man ihn nach drei Wochen entließ. Bei der Ambulanz, die er sich vorstellen konnte, anschließend täglich aufzusuchen, gab es eine monatelange Warteliste. Er wollte nicht sterben. Nur die Ängste, die hielt er nicht aus.

Drei Tage nach der Entlassung aus der Psychiatrie nahm er sich das Leben.

Danke an meine geduldigen Gesprächspartner: Professor Dr. Andreas Reif, Direktor der Psychiatrie am Universitätsklinikum Frankfurt und Dr. Silke Matura, psychologische Psychotherapeutin dort; Professor Dr. Marcel A. Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt; den in Frankfurt niedergelassenen Psychotherapeuten Johannes J. Winges und dem niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten Martin Finger; die Allgemeinmedizinerin Corinna Zastrow.

Wenn Sie sich selbst mit dem Gedanken der Selbsttötung tragen, sprechen Sie mit der TelefonSeelsorge. Telefonisch unter 0800/1110111 oder 0800/1110222, per Mail oder Chat unter www.telefonseelsorge.de und in einigen Städten vor Ort können Sie mit versierten Seelsorger*innen und Berater*innen über Auswege sprechen.

Über die Autorin Raquel Erdtmann: Aufgewachsen in (Ost)Berlin. Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Seit 2016 freie Autorin. Berichtet aus dem Gericht für die F.A.Z. (F.A.S.) Aktuelles Buch: »Und ich würde es wieder tun« Wahre Fälle vor Gericht (S.Fischer). Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.