Zwei Jahrzehnte klimapolitisches Versagen
Deutschland muss in der neuen Legislaturperiode bei der Energiewende komplett umdenken, um nicht mehr Hinterbänkler in Sachen Klima zu bleiben und der Bevölkerung den teuersten Strom in ganz Europa zuzumuten.
Wir freuen uns, dass Greta Thunberg nach Deutschland gekommen ist. Sie hat bereits sehr viel getan, um führende Politiker der Welt dazu zu bringen, die enormen Herausforderungen des Klimawandels endlich ernst zu nehmen. Sie hat sich entschieden, das Land zu besuchen, welches Vorreiter in Sachen CO2-Emissionen sein will, aber leider bisher auf ganzer Linie versagt hat. Greta Thunberg hat recht, wenn sie unsere politischen Führer auffordert, ihre Versprechen besser zu erfüllen.
In zwei Jahrzehnten haben wir Hunderte von Milliarden Euro für Wind, Sonne und Biomasse ausgegeben. Trotzdem haben wir es nur geschafft, die energiebedingten Emissionen um 23 Prozent zu reduzieren. Dass nicht viel mehr erreicht wurde, liegt an einem Geburtsfehler: Bei der Energiewende, die vor zwei Jahrzehnten auf den Weg gebracht wurde, als Greta noch nicht einmal lesen und schreiben lernte, ging es nicht um das Klima, sondern um den Ausstieg aus der Kernenergie. Die Senkung der Kohlendioxidemissionen war höchstens ein zweitrangiges Ziel.
Deshalb hinkt Deutschland bei der Bewältigung der enormen Herausforderung der globalen Erwärmung hinter vielen anderen Ländern in Europa her. Der frühzeitige Ausstieg aus der Kernenergie hat das Erreichen der Treibhausgas-Neutralität um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, in die Zukunft verschoben. In der Zwischenzeit entstehen überall im Land Protestgruppen, die die Errichtung von Windkraftanlagen verzögern und manchmal sogar stoppen.
Noch immer stammen rund 70 Prozent unserer Energie aus fossilen Brennstoffen. Windturbinen und Sonnenkollektoren müssen durch fossile Kraftwerke unterstützt werden, die schnell hoch- und heruntergefahren werden können. Während Wind- und Solarenergie in Bezug auf die Kohlenstoffemissionen mit der Kernenergie vergleichbar sind, wenn man sie als Einzelanlagen betrachtet, sind die System-Emissionen für Solar- und Windenergie viel höher als die der Kernenergie, der zur Unterstützung benötigte Strom nicht kohlenstoffarm produziert wird.
Der Atomausstieg hat alles schwerer gemacht
Mit dem Atomausstieg ist eine wichtige Quelle für zuverlässige CO2-freie Energie weggefallen, was das Erreichen unserer Klimaziele unnötig erschwert. Um die Worte von Greta Thunberg zu nutzen: „How dare you?“
Hätten wir der Stilllegung von Kohlekraftwerken gegenüber der kohlenstoffarmen Kernenergie Priorität eingeräumt, wäre Deutschland auf dem Weg zur Treibhausgas-Neutralität schon viel weiter. Die harte Realität ist, dass die Kohle zwar bekanntlich der mit Abstand größte Umweltverschmutzer im Energiesektor ist, der Kohleausstieg aber nicht vor 2038 geplant ist. Bis dahin wird Greta Thunberg 35 Jahre alt sein.
Deutschland bleibt deutlich hinter anderen Ländern zurück. Warum eigentlich?
Länder mit den geringsten Emissionen bei der Energieerzeugung, wie Frankreich und Schweden, nutzen hauptsächlich Kernenergie oder Wasserkraftwerke. Diese Erfahrungen aus der Praxis sind eine klare Botschaft: Wir benötigen alle kohlenstoffarmen Energiequellen, und damit auch die Kernenergie.
Inzwischen ist die deutsche Stromversorgung die teuerste in ganz Europa geworden. Das wäre vielleicht seinen Preis wert gewesen, wenn es zu einer drastischen Reduzierung der CO2-Emissionen geführt hätte. Wir zahlen stattdessen einen hohen Preis für eine Medizin mit wenig Wirkung.
Andere Länder machen es besser
Greta Thunbergs Heimatland Schweden ist mit seinen Kernkraftwerken eines der saubersten Länder Europas, während der Strompreis nur halb so hoch ist wie in Deutschland. Schweden ist ein Beispiel, dem jedes andere Land folgen kann.
Die deutsche Energiewende wäre viel effizienter gewesen, wenn wir unsere Kernkraftwerke hätten laufen lassen und sogar Neue gebaut hätten, parallel zum Ausbau der Wind- und Solarenergie. Anstatt den gescheiterten Weg der vorzeitigen Abschaltung fortzusetzen, könnten wir immer noch dem Rat der Internationalen Energieagentur folgen, die Laufzeit der verbleibenden sechs Kernkraftwerke zu verlängern.
Der Bundesstaat Illinois in den USA hat es mit einer breiten Unterstützung von Umweltschützern und Politik über Parteigrenzen hinweg vorgemacht. In den Vereinigten Staaten spricht die Energieministerin Jennifer Granholm der neuen Biden Administration sogar über neue Rollen für die Kernenergie in den USA und bezieht auch die in Deutschland ebenfalls diskutierte Energieversorgung mit grünem Wasserstoff.
Auch Deutschland könnte als ersten Schritt seine Kohlenstoffemissionen stark senken, wenn es die verbleibenden sechs Kernkraftwerke in Deutschland weiterlaufen lassen und stattdessen Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke mit der gleichen Leistung zu den gleichen Terminen abschalten würde. Die Bedenken, die man gegenüber deutscher Politik haben muss, beziehen sich allerdings nicht nur auf die Schließung kohlenstoffarmer Energiequellen: Mit seinem Gewicht schüchtert Deutschland – unterstützt von Österreich – andere europäische Länder ein, damit sie die kohlenstoffarme Atomenergie nicht mehr nutzen.
Alle kohlenstoffarme Energieträger nutzen
Um den Klimawandel zu bekämpfen, benötigen wir alle kohlenstoffarmen Optionen, so wie es der IPCC, das Klimagremium der Vereinten Nationen, in seinen vier Szenarien in seinem Sonderbericht zur Erreichung des Ziels von 1,5 Grad Celsius vorschlägt.
Erneuerbare Energien sind nur ein Teil der Lösung. Alle anderen kohlenstoffarmen Technologien, einschließlich Kernkraft, Wasserkraft und Erdwärme, müssen Teil des Energiemixes sein. Wir müssen die Denkweise des späten 20. Jahrhunderts und die Fehler der Eltern und Großeltern von Greta Thunbergs Generation mit ihren Anti-Atomkraft-Dogmen hinter uns bringen und tatsächlich lösungsorientiert nach vorne schauen. Wenn wir das nicht tun, wird Deutschland weiterhin zu den größten Klimasündern gehören, die es versäumt, die Herausforderung des Jahrhunderts anzugehen.