Deutschland wirkt heute auf den ersten Blick deutlich weniger religiös als noch vor fünfzig Jahren, aber dieser Eindruck täuscht. Das religiöse Denken tritt nur in anderen Formen auf, aber es ist weiterhin wissenschaftsfeindlich, dogmatisch und sendungsbewusst: etwa in Gestalt des Impfgegnertums 

In Deutschland macht man sich gern über die Amerikaner lustig, weil eine Mehrheit von ihnen der Meinung ist, dass Gott die Welt erschaffen hat und die Evolutionstheorie deswegen falsch sein muss. Es gibt sogar Museen, die aufzeigen sollen, was seit der Schöpfung vor etwa 6000 Jahren passiert ist. Unter anderem erfährt der Besucher in solchen „Bildungseinrichtungen“, wie die mächtigen Dinosaurier in die Arche passten: nämlich in Form von Eiern. In der Tat ist diese Sicht auf die Welt bigott und eingeschränkt, weil sie wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert.

Es gibt aber keinen Grund, deswegen mitleidig lächelnd auf die Amerikaner hinabzublicken. Die Deutschen sind keineswegs anders, sie gönnen sich nur andere Themenfelder für ihre Irrationalität.

So ist „Made in Germany“ nicht mehr nur in der Wirtschaft ein Exportschlager, sondern mittlerweile auch in Sachen Viruserkrankungen. Gerade meldete Guatemala den ersten Masernfall seit zwanzig Jahren.

Angesteckt hatte sich der Patient bei einem Schüleraustausch in Lübeck. Neben all den Problemen, die es in armen Ländern ohnehin gibt, kommen nun also auch aus Industriestaaten eingeschleppte Krankheiten hinzu, die schon für besiegt gehalten wurden.

Impfgegner sind dogmatisch, wissenschaftsfeindlich, irrational

Deutschland leistet sich seine Irrationalität ausgerechnet auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft: den Kindern. Dabei sind es nicht fehlendes Wissen oder eine finanzielle Notlage, die die Impfgegner zu Impfgegnern werden lassen.

Im Gegenteil, nirgendwo wird weniger geimpft als im Prenzlauer Berg, jenem Berliner Stadtteil, der gerade erst wieder von Alexander Dobrindt als Versuchslabor des linken Zeitgeistes bezeichnet wurde. Bis zu zwanzig Prozent der Kinder sind hier nicht geimpft und ihre Eltern felsenfest davon überzeugt, ihnen damit etwas Gutes zu tun.

Deutschland wirkt heute auf den ersten Blick deutlich weniger religiös als noch vor fünfzig Jahren, aber dieser Eindruck täuscht. Das religiöse Denken tritt nur in anderen Formen auf, aber es ist weiterhin dogmatisch, wissenschaftsfeindlich, irrational und sendungsbewusst.

Masern können tödlich sein

Impfgegner haben den sonntäglichen Kirchgang gegen den Besuch von Internetforen eingetauscht, in denen sie Schauergeschichten über die Pharmaindustrie austauschen. Früher hatte der Teufel Hörner auf dem Kopf und einen Bockfuß, heute trägt er Arztkittel und hält eine Impfspritze in der Hand.

Das Impfgegnertum ist eine moderne und neue Glaubensgemeinschaft in Deutschland und schafft es, trotz offensichtlicher Widersprüche mit der sonstigen Lebensführung zu bestehen. Schließlich etablierte es sich vor allem in Milieus, die sonst auf Risikovermeidung setzen und sich von Feinstaub, Gentechnik und Dieselmotoren gleichermaßen bedroht fühlen und von der Politik ein hartes Durchgreifen in diesen Fragen fordern, gern bis hin zu Verboten.

Beim Impfen hingegen ist alles anders. Obwohl die Gefahren bekannt sind – Masern etwa können sogar tödlich sein – werden die eigenen Kinder ebenso einem Risiko ausgesetzt wie alle anderen Kinder, die mit ihm in Kontakt kommen. Auch wird sich vehement dagegen ausgesprochen, dass der Staat sich einmischt und eine Impfpflicht einführt.

Kinder sind die Opfer eines esoterisch verbrämten Weltbilds

Aber es sollte diese Impfpflicht geben. Wenn Eltern ihre Erziehungspflicht vernachlässigen, weil sie einem esoterisch verbrämten Weltbild folgen, sollten ihre Kinder nicht die Leidtragenden davon sein. Auch die Anhänger des Impfgegnertums müssen merken, dass in einem freien Land die eigene Freiheit da endet, wo man die Gesundheit Dritter mutwillig gefährdet.

Fast tausend Masernfälle gab es im Jahr 2017 in Deutschland. Also tausend gute Gründe, warum Deutsche nicht in die USA schauen müssen, wenn sie über naive und irrationale Menschen lästern wollen. Den medizinischen Forschungsstand zu ignorieren und sein Kind nicht zu impfen ist jedenfalls nicht weniger irrational, als der Schöpfungsgeschichte den Vorzug vor der Evolutionstheorie zu geben.

„Dieser Text ist zuerst bei SPIEGEL DAILY erschienen, der smarten Abendzeitung – News, Meinung, Stories. Hier finden Sie die aktuelle Ausgabe.“