Deutsche Insektenforscher fordern „umfassendes Handeln“ gegen das „Insektensterben“, das ein weltweites Problem sei. Doch wie immer ist die Wirklichkeit komplex. Die Frage, ob es ein weltweites Insektensterben gibt, ist nicht so eindeutig zu beantworten. Kollegen in anderen Ländern kommen zu anderen Ergebnissen. Das finden Deutschlands Forscher aus „politischen Gründen … hochproblematisch“. Ein Gastbeitrag von Susanne Günther.

„Insekten-Armageddon“, „Insekten-Apokalypse“ – an Superlativen mangelt es nicht. Der Begriff „Insektensterben“ hat es sogar in den Koalitionsvertrag von Unionsparteien und SPD geschafft. Als im Januar 2018 die Parteivertreter zu Gesprächen zusammenkamen, war die Schlagzeile vom November 2017 noch in guter Erinnerung: Die Insektenbestände seien „um mehr als 75 Prozent“ zurückgegangen, titelte die sogenannte Krefelder Studie. Und auf einmal wusste jeder ganz genau, dass früher die Windschutzscheibe vom Auto stets gänzlich verdreckt gewesen ist, während sie heute bestürzend sauber bleibt.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik soll nun ein Insektenschutzgesetz verabschiedet werden. Ein Referentenentwurf aus dem Bundesumweltministerium liegt vor. Die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat diesen vor der Ressortabstimmung zuerst mit den Verbänden ihrer Branche diskutiert. Die Maßnahmen im Entwurf haben für die Landwirte weitreichende Folgen. Sie sollen in Zukunft bei der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln einen Abstand von zehn Metern zu Gewässern halten. Wenn die Fläche ganzjährig mit Pflanzen bedeckt ist wie bei Grünland (Weiden, Wiesen) soll ein Abstand von fünf Metern eingehalten werden. Kleinere Gewässer, die nicht von wasserwirtschaftlicher Bedeutung sind, können von dieser Regelung ausgenommen werden. 

„Aus politischen Gründen … hochproblematisch“

In die Quere kommt da eine Meldung aus Nordamerika. „Keine Netto-Abnahmen bei Insekten-Menge und -Vielfalt bei Langzeit-Messungen in den USA“ ist das Ergebnis einer Arbeit, die jetzt im renommierten Fachblatt Nature Ecology & Evolution erschienen ist. Ein Forscherteam um den Insektenforscher Michael S. Crossley konnte keinen allgemeinen Trend feststellen. Manche Arten nehmen zu, andere nehmen ab. Generell hat man es mit zum Teil gewaltigen Schwankungen zu tun, was bei Insektenpopulationen keine Überraschung ist. Denn witterungsbedingt kommt es bei manchen Arten zu Massenvermehrungen und in der Folge zu erwartbaren Einbrüchen in der Populationsstärke. 

In den Augen deutscher Wissenschaftler findet das Papier wenig Anklang. Im Science Media Center Deutschland äußern sich viele Forscher kritisch zur Arbeit der Kollegen aus den USA. So konstatiert Prof. Dr. Johannes Steidle, Leiter des Fachgebiets Chemische Ökologie an der Universität Hohenheim:

„Aus politischen Gründen ist die Studie hochproblematisch. Sie behauptet schon im Titel, dass es keinen Insektenrückgang gibt.“

Auch die Methodik sieht Steidle kritisch: „Die Studien, die in ihre statistische Analyse einfließen, sind eine geradezu vogelwilde Mischung aus nicht miteinander vergleichbaren Erhebungen, in denen völlig unterschiedliche Taxa über völlig unterschiedliche Zeiträume mit völlig unterschiedlichen Methoden untersucht wurden.“ Sein Fazit: „Hier in Deutschland haben wir ein massives Insektensterben und müssen so schnell wie möglich etwas dagegen tun!“ 

Auch Prof. Dr. Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie an der Universität Freiburg, hegt Zweifel: „Im Gegensatz zur Krefeldstudie, die mit einer einheitlichen Methodik Daten erhoben hat, bringen die Autoren Daten von unterschiedlichen Gliederfüßern und unterschiedlichen Fangmethoden zusammen.“ Darunter seien auch Datensätze, die nur Mücken oder nur Zecken oder Blattläuse erfasst hätten. Das genügt Klein nicht:

„Ich finde es persönlich schlimm, wenn wir immer mehr Mücken, Zecken und Blattläuse bekommen, aber meine liebsten Bienen- und Schmetterlingsarten kaum noch zu finden sind.“

„Die Studie ist meiner Ansicht nach kein gutes Beispiel wissenschaftlicher Praxis“, resümiert Prof. Dr. Christoph Scherber vom Institut für Landschaftsökologie an der Universität Münster. Sie wirke so, „als hätte man ‚alles zusammengekratzt‘, was irgendwie nach Insekt klingt“.

Der einzige Forscher, der die US-Studie dem Science Media Center gegenüber überwiegend wohlwollend beurteilt, kommt in der Berichterstattung deutscher Medien kaum vor. Dr. Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig hat Anfang des Jahres selbst mit seinem Team eine Meta-Studie zum Thema Insektenrückgang vorgelegt. Seine Arbeit ergab ebenfalls ein differenziertes Bild. Während bei Landinsekten die Bestände abnahmen, nahmen sie bei Süßwasserinsekten zu. Die US-Studie sei eine sehr solide Arbeit, stellt van Klink fest: „Die Autoren haben eine enorme Menge Daten zusammengetragen, um die Entwicklung der Insektenpopulationen in den USA zu testen. Sie verwenden einige der besten Monitoring-Programme der Welt.“ Zudem sei jährlich an bestimmten Standorten Proben genommen worden, wohingegen bei der „Krefelder Studie“ manche Standorte während des Untersuchungszeitraums nur zwei- oder dreimal ausgewertet worden sind.

Eine weitere große Auswertung aus Großbritannien wurde von hiesigen Wissenschaftlern ebenfalls bislang weitgehend ignoriert. In Rothamsted werden seit den 60er Jahren systematisch Blattlaus- und Nachtfalter-Vorkommen erfasst. Ende 2019 veröffentlichten die britischen Wissenschaftler eine Zusammenfassung ihrer Daten in Nature Ecology & Evolution mit einem ernüchterndem Resümee für die Apokalyptiker: „Wie auch immer: Die zunehmend weit verbreitete Sicht, dass die Insektenbiomasse kollabiert, findet wenig Bestätigung in der vielleicht besten Datenbasis für Insektenpopulationen, die überhaupt auf der Welt verfügbar ist.“

Fallen und Fallstricke

Während die Krefelder Insektenforscher gerade einmal gut 1.500 Einzelproben genommen und ausgewertet haben, bezieht sich die neue US-Studie auf mehr als 5.300 Zeitreihen. Nichtdestotrotz halten viele Forscher an den Krefelder Ergebnissen fest. Das verwundert. Denn eine der Hauptkritikpunkte an der US-Studie ist, dass dort vor allem Allerweltsarten erfasst und bewertet wurden bzw. dass sich die Studie auf eine Auswahl von Arten beschränkt. Außerdem flössen nicht nur Insekten, sondern auch Krebse und Zecken in die Auswertung ein. Die Krefelder Arbeit hingegen trifft keine Aussage über betrachtete Arten. Dort wurde bislang nur das schiere Gewicht der in sogenannten Malaisefallen gesammelten Insekten erfasst. Da bislang nicht bekannt ist, welche Insektenarten eigentlich gefangen wurden, besteht auch hier theoretisch die Möglichkeit, dass die Krefelder Forscher vorwiegend die Bestände von Allerweltsarten erfasst haben. Inwieweit die in der Krefelder Studie ermittelten Populationsrückgänge Bestäuber wie Wildbiene und Schwebfliegen oder seltene Schmetterlingsarten betreffen, ist bislang nicht bekannt.

Einen ersten Hinweis, welche Arten von Malaisefallen erfasst werden, könnte eine Arbeit deutscher Wissenschaftler aus dem Jahr 2016 geben. Ein Forscherteam um Matthias Geiger vom Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn hat einen Sommer lang an zwei Standorten mit Malaisefallen Tiere gesammelt und die einzelnen Proben per DNA-Analyse ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass nicht nur Insekten, sondern auch andere Krabbeltiere in die Falle gehen, etwa Spinnen und Springschwänze. 70 Prozent der gefangenen Individuen stammen aus der Ordnung der Diptera (Zweiflüger), dazu gehören Mücken und Fliegen. Auch hier ist somit nicht auszuschließen, dass Allerweltsarten die Auswertung dominieren.

Dr. Martin Sorg, Mitautor der Krefelder Studie, hat für einen Beitrag in „Natur und Landschaft: Zeitschrift für Naturschutz und Landschaftspflege“, einem Organ des Bundesamtes für Naturschutz, die der Arbeit seiner Kollegen zugrunde liegenden Daten ausgewertet und festgestellt, dass gerade einmal zehn Prozent der in Deutschland nachgewiesenen Arten an Fluginsekten in den Fängen der Malaisefallen vorkommen. Mit diesen Fallen wurden also zumindest bei diesem Versuch gerade einmal zehn Prozent der in Deutschland heimischen Fluginsektenvielfalt erfasst. Was ist mit den anderen 90 Prozent?

Aktionismus auf schmaler Datenbasis

Eines haben die Insekten-Studien gemeinsam: Die Aussagen zu den Ursachen der Populationsschwankungen bleiben vage. Auch die Krefelder Studie liefert hier keine Antworten. Denn ein systematischer Zusammenhang der Populationsschwankungen zu Landnutzungsänderungen und Klimaveränderungen konnte nicht gezeigt werden. Ungeachtet dieser Unklarheiten hat Umweltministerin Svenja Schulze im Jahr 2019 ein umfassendes Aktionsprogramm Insektenschutz auf den Weg gebracht, gespickt mit Maßnahmen von der Eindämmung der Lichtverschmutzung bis zur Reduzierung des Pestizideinsatzes. Danach sollen jährlich 25 Millionen Euro für die Forschung zum Insektenschutz (einschließlich der Ressortforschung der Ministerien) und für das Insektenmonitoring zur Verfügung gestellt werden. Zum Vergleich: Das Insektenmonitoring in Rothamsted kostet den britischen Staat inklusive Personalkosten rund 500.000 Pfund (ca. 560.000 Euro) im Jahr.

Auch die Krefelder Studie wurde bereits mit einem vom Bundesamt für Naturschutz geförderten Projekt erstellt. Mit Mitteln des Bundesumweltministeriums in Höhe von 358.000 Euro wird die Arbeit der Krefelder Forscher unterstützt. Die ursprünglich vorgesehene Laufzeit von 2016 bis 2018 wurde im Jahr 2018 bis 2021 verlängert. Mit diesen Fördermitteln sollen die Proben laut BMU „verstärkt auf Ebene einzelner Arten und Artengruppen untersucht werden“. Erste Ergebnisse wurden auf einer Tagung im November 2018 in Bonn einem Fachpublikum vorgestellt, eine Veröffentlichung lässt hingegen noch auf sich warten: Eine Anfrage an das Bundesamt für Naturschutz ergab, dass die Ergebnisse erst nach dem Ende der Projekt-Laufzeit veröffentlicht werden. Die Öffentlichkeit wird sich also mindestens bis Mai 2021 gedulden müssen, bis ihr die mit Steuermitteln finanzierten Ergebnisse zugänglich gemacht werden.

Währenddessen erhielt Insektenforscher Dr. Martin Sorg jetzt den mit 10.000 Euro dotierten Ehrenpreis der Bundesstiftung Umwelt. Bei der Preisverleihung lobte Bundespräsident Walter Steinmeier das Engagement: „Herzblut“ und „Leidenschaft“ zeichneten Sorg aus. Ihm und seinem Verein sei es zu verdanken, dass „wir heute viel genauer wissen, welch dramatische Folgen der Artenschwund im Reich der Insekten für unser Ökosystem hat, dass wir darüber als Gesellschaft diskutieren.“

Tatsächlich wird diskutiert, aber auf einer unzureichenden Datengrundlage. Während die Politik eilig versucht, Maßnahmen in Gesetze zu gießen, werden die Details der Forschung, die den Aktionismus in Gang gebracht hat, der Öffentlichkeit vorenthalten. Auch Stimmen aus der Wissenschaft, die auf diesen Missstand aufmerksam machen, sind nicht zu vernehmen. Im Gegenteil: Forschung unterstützt den Aktionismus. Der Untertitel der im Oktober veröffentlichten Stellungnahme der Leopoldina „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften“, in der den Insektenbeständen eine zentrale Rolle zukommt, lautet „Umfassendes Handeln ist jetzt wichtig“. Einem Hinweis auf die im August veröffentlichte US-Studie sucht man in dem Papier vergebens. Dafür erschien die Stellungnahme rechtzeitig vor den Verhandlungen von EU-Agrarrat und EU-Parlament zur Zukunft der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP).

Susanne Günther hat mal Philosophie studiert und in der Kommunikationsbrache gearbeitet. Heute lebt sie auf dem Land und schreibt neben der Hofarbeit über Landwirtschaft, Wissenschaft und Politik. Vor allem interessieren sie die Berührungspunkte dieser Felder und die Grauzonen jenseits von Schwarz-Weiß-Malerei. Douglas Adams und Robert Gernhardt werden schmerzlich vermisst, David Hume und Immanuel Kant nach wie vor gefeiert. Mehr hier.