1971 schrieb Walker Percy einen Untergangsroman, der die heutige Zerrissenheit Amerikas vorausahnt. Unser Autor hat ihn vor wenigen Tagen gelesen und war beeindruckt.

Am Anfang von Walker Percys Roman „Love in the Ruins“ lehnt sich der Held, ein gewisser Dr. Thomas More, gegen eine Kiefer, hält ein Gewehr im Schoß und wartet auf das Ende der Welt. Ihm gegenüber liegt eine Ruine, ein ehemaliges Hotel, in dem er drei Zimmer notdürftig wieder hergerichtet hat; dort warten drei Frauen auf ihn, die er alle liebt und die ihn alle lieben.

Wir befinden uns im amerikanischen Bundesstaat Louisiana. Es ist furchtbar heiß. Dr. More ist stockbesoffen – unmöglich, die vielen Gin Fizzes (ist das der richtige Plural?) zu zählen, die er in diesem Roman in sich hineinkippt. Wir schreiben den 4. Juli, den amerikanischen Nationalfeiertag, und die Vereinigten Staaten stehen vor der Auflösung.

Die alte Demokratische Partei existiert nicht mehr. An ihre Stelle ist die „Left Party“ getreten, also die Linkspartei. Ihre Anhänger nennen sich LEFTPAPAS, denn sie sind für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Pille, Haschisch, Sex, Umweltschutz, Abtreibung und Euthanasie. Auf der anderen Seite stehen die konservativen „Knotheads“, also Blödmänner; sie werden so genannt, seit sich die alte Republikanische Partei in „Christian Conservative Constitutional Party“, kurz CCCP, umbenennen wollten, ohne zu bemerken, dass dies genau die Initialen der Sowjetunion sind. Daraufhin beschimpften die Linken sie als Idioten, und die Rechten haben diesen Schimpf- zum Ehrennamen gemacht: Knotheads.

Die USA sind gescheitert

Die Konservativen schauen am liebsten Kitschfilme wie „The Sound of Music“. Die Linken schauen am liebsten schwedische Pornos.

Linke und Konservative haben jeweils ihre eigenen psychologischen Probleme. Wer wüsste das besser als Dr. More – ein Psychiater, der zeitweise auch Insasse einer Nervenheilanstalt war? Die Linken leiden unter solcher Furcht, dass sie keinen mehr hochkriegen. Die Konservativen sind so voller Wut, dass sie ständig verstopft sind. Deswegen wohnen in den Gebieten der Linken viele Psychiater und in den Wohngebieten der Konservativen viele Proktologen.

Die Vereinigten Staaten sind seit Jahrzehnten in einen schmutzigen Krieg in Ecuador verstrickt, wo sie eine korrupte Regierung gegen totalitäre Kommunisten verteidigen. (Hier merkt man dem Roman seine Herkunft aus den Siebzigerjahren an, aber man muss „Kommunisten“ nur durch „Taliban“ ersetzen und „Ecuador“ durch „Afghanistan“, schon wird es wieder sehr zeitgemäß.) Die amerikanischen Südstaaten haben Botschaften in weißen Rassistenstaaten wie Rhodesien eröffnet. Viele Schwarze bezeichnen sich mittlerweile als Bantus, ziehen sich in die Sümpfe von Louisiana zurück, lehnen die judäochristliche Zivilisation ab und führen einen Guerillakrieg gegen die Weißen.

Überall stehen Autowracks herum. Kletterpflanzen ranken sich um ruinierte Gebäude. Die USA, so heißt es an einer Stelle, sind gescheitert, weil sie einen fundamentalen Test nicht bestanden haben: Gott hat den „Visigothen“ (also Barbaren) aus Europa diesen Kontinent geschenkt, weil sie unbesehen an Jesus und die Erwählung des jüdischen Volkes geglaubt haben – unter einer Bedingung: Sie mussten nur den glücklosen Mann in Afrika in Ruhe lassen! Und das haben die christlichen Visigothen nicht getan, sie haben den armen Mann in Afrika versklavt. Jetzt bekommen sie die Rechnung für diese historische Ursünde präsentiert.

Ein schlechter Katholik

Auch der katholischen Kirche geht es ziemlich schlecht. An ihrer rechten Seite hat sich die „American Catholic Church“ abgespalten, deren neues Rom in Cicero, Illinois liegt, der es vor allem um Eigentumsrechte geht und die während der Wandlung die amerikanische Hymne spielt. Auf der linken Seite steht ein ehemaliger Vater Kevin, der mittlerweile an einem Sexforschungsinstitut, wo Frauen unter Aufsicht masturbieren, das Orgasmometer bedient. In der Mitte ist ein kläglicherRest von Katholiken übriggeblieben; er wird von einem kleinen Priester namens Rinaldo Smith angeführt, der unter Trunksucht und Depressionen leidet.

Dr. Thomas More ist ein Katholik, aber ein schlechter: „Ich glaube an Gott und die ganze Geschichte, aber ich liebe Frauen am meisten, Musik und die Wissenschaft danach, als nächstes Whisky, Gott an vierter Stelle und meinen Nächsten kaum.“

Allerdings spaziert dieser schlechte Katholik Thomas More als aller Welt Freund durch das Weltuntergangsszenario des Romans. Er kann mit konservativen Blödmännern so gut wie mit linken Angsthasen, mit weißen Rassisten so gut wie mit zornigen schwarzen Guerilleros. Und er ist ein wissenschaftliches Genie: Er hat ein tragbares Gerät entwickelt, das mittels der Hirnströme exakt den Status des modernen Menschen messen kann: „Mores Qualitativ-Quantitatives Lapsometer“. (Gegen Endes des Romans wird Walker Percy mit beiläufiger Selbstironie schreiben, dass es sich hier um ein „objektiv correlative“ handelt, also die gegenständliche Entsprechung einer metaphysischen Idee.)

More hat eine Schwäche: seine Eitelkeit. Er träumt vom Nobelpreis. Und just an dieser Stelle packt ihn der Teufel, der im Roman Art Immelman heißt und in der biederen Verkleidung eines Handelsvertreters auftritt. Der Teufel baut Dr. Mores geniale Erfindung so um, dass mit ihr die Gespaltenheit des modernen Menschen, der scheinbar unrettbar in Leib und Seele zerfallen ist, nicht nur diagnostiziert, sondern auch geheilt werden kann.

Allerdings kann der Riss just dadurch auch monströs vergrößert werden. Leute, die vorher nur normal wütend waren, werden dann vor Wut platzen, und Leute, die Furcht hatten, werden vor Panik bibbern.

Und der Teufel sorgt dafür, dass Mores geniale Erfindung in die garantiert falschen Hände fällt. Deswegen sitzt Dr. More mit seinem Gewehr da und wartet auf den Weltuntergang: Die Bürger der Vereinigten Staaten werden bald übereinander herfallen und sich gegenseitig in Stücke reißen.

Es gibt ein Leben nach dem Untergang

Ich hatte Walker Percys „Love in the Ruins“ lange nicht mehr in den Fingern. Jetzt, beim Wiederlesen, wunderte ich mich sehr: Ich hatte nicht mehr im Kopf, wie komisch dieser apokalyptische Schelmenroman ist. Wie komisch – und wie weise. Percey, der ein gläubiger Katholik war, hat das Kunststück geschafft, einen Ideenroman zu schreiben, der gleichzeitig spannend ist. Einen Science-Fiction Roman mit metaphysischen Obertönen.

Vor allem habe ich gestaunt, dass dieser Roman, der 1971 veröffentlicht wurde, sich über weite Passagen so liest, als hätte Walker Percy ihn gerade gestern geschrieben. Nicht nur die Zerrissenheit der Vereinigten Staaten von heute scheint Percy vorausgeahnt zu haben, auch den Irrsinn, der auf amerikanischen Universitätscampussen ausgebrochen ist: die Aufregung über angebliche „Mikroaggressionen“, die lautstarke Weigerung, Leuten zuzuhören, die andere Meinungen vertreten. „Studenten sind ein wackeliges dogmatisches Völkchen“, heißt es an einer Stelle. „Je `freier´, desto dogmatischer. Im Herzen sind sie totalitär – sie wollen entweder die totale dogmatische Freiheit oder die totale dogmatische Unfreiheit, und die einzige Sache, die sie unglücklich macht, ist irgendetwas dazwischen.“

Am besten hat mir an „Love in the Ruins“ beim Wiederlesen aber gefallen, dass es ein Leben nach dem Weltuntergang gibt. Ein ganz normales, glückliches Familienleben. Dr. Thomas More hat eine tragische Vorgeschichte, die im Roman wie nebenbei serviert wird: Seine Tochter ist vor Jahren, als er noch jung war, an Krebs gestorben. Seine Frau ist ihm weggelaufen und dann auch gestorben. Am Ende des Romans ist er fünfzig und hat eine neue Frau. (Eine von den dreien in dem verdreckten Motel, und zwar die beste.) Er hat zwei Kinder. Mit dem Nobelpreis ist es nichts geworden; er ist arm, kommt aber über die Runden. Er hat zwei Kinder. Und zur Messe geht er auch wieder.

 

Walker Percy:
Love in the Ruins
The Adventures of a Bad Catholic at a Time near the End of the World.
Picador, New York. 403 S., 12,99 Euro