In der Diskussion um einen Artikel zur privaten Seenotrettung in der aktuellen „Zeit“ wird die Autorin im Namen der Moral heftig angegriffen. Dabei ist es so einfach, taktvoll miteinander umzugehen, meint Simon Tischer.

Die aktuelle Ausgabe der Zeit, Seite 3: Über dem Foto eines weißen Mannes, der auf einem Boot stehend Schwimmwesten an schwarze Menschen verteilt, prangt die Überschrift “Oder soll man es lassen?” Darunter: “Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra”. Auf der unteren Hälfte der Seite folgen zwei Artikel, einer pro, einer contra – zu welchem Thema denn eigentlich? Mittwochabend kursieren erste Fotos der oberen Seitenhälfte auf Twitter mit entsetzten Kommentaren. Der Tenor: Lässt die Zeit ernsthaft darüber diskutieren, ob man Menschen ertrinken lassen soll?

Dann eskaliert alles recht schnell: Der Titanic-Chefredakteur witzelt eine Umfrage herbei, ob man Zeit-Mitarbeiter auf offener Straße erschießen solle (pro oder contra). Vielfach wird das “Framing” kritisiert und nach mehr Moral im öffentlichen Diskurs verlangt. Mit ein wenig zeitlichem Abstand folgen dann Verrisse des Contra-Artikels und Angriffe auf dessen Autorin Mariam Lau. Der Journalistik-Professor Klaus-Dieter Altmeppen wirft ihr im Deutschlandfunk Kultur “Populismus” vor, da sie sich “im Besitz der einen Wahrheit” wähne ohne die “tatsächlichen Fakten” zu kennen oder kennen zu wollen. Jakob Augstein fühlt sich an Auschwitz erinnert, denkt aber zumindest nicht gleich an Gaza. Andere fordern die Entlassung der Journalistin und eine Einordnung ihres Artikels. Doch was schreibt Mariam Lau eigentlich?

“Kein mo­ra­li­sches Zwi­schen­reich”

Mariam Laus zentrales Argument lautet: “Wer in Not ist, muss ge­ret­tet wer­den, das schreibt das Recht vor und die Hu­ma­ni­tät. Bei­de schrei­ben al­ler­dings nicht vor, dass Pri­va­te über­neh­men, was die Auf­ga­be von Staa­ten sein soll­te.”

Sie fordert, “die Din­ge im Zu­sam­men­hang” und “auch die Nebenwirkungen gut gemeinten Handelns” zu betrachten. So nutzten Schlepper die private Seenotrettung als Teil ihres Geschäftsmodells. Das eigentliche Motiv der Retter sei, dass jeder Mensch das Recht ha­be zu flie­hen, wo­hin er will. Weil es so ein Recht ju­ris­tisch nicht gebe, be­grün­deten die Retter es mo­ra­lisch. In ihrer moralischen Selbstüberhöhung verglichen sich man­che mit den Flucht­hel­fern der DDR oder gar mit je­nen, die im Zwei­ten Welt­krieg Ju­den ge­ret­tet ha­ben.

Im Ergebnis fordert sie mehr Abwägung: “Je schnel­ler sich al­le Sei­ten dar­an ge­wöh­nen, dass kei­ner die rei­ne Leh­re durch­set­zen kann, des­to bes­ser. Eu­ro­pa – da ha­ben die See­notret­ter recht – kann und soll sich nicht völ­lig ab­schot­ten. Aber es muss bes­ser und schnel­ler aus­su­chen, wer kom­men darf.”

Mariam Lau fordert also einerseits das Selbstverständliche: Wer in Not ist, muss gerettet werden. Dies sei allerdings die Aufgabe der Regierungen – auch der afrikanischen – und nicht privater Retter, denen sie Überheblichkeit und eine eigene Agenda vorwirft. Ihr Vorwurf an die privaten Seenotretter geht noch weiter: Durch ihren moralischen Rigorismus wirkten diese an der Ver­gif­tung des po­li­ti­schen Kli­mas in Eu­ro­pa mit: “In ih­ren Au­gen gibt es nur Ret­ter und Ab­schot­ter; sie ken­nen kein mo­ra­li­sches Zwi­schen­reich.”

Was nicht passt, wird passend gemacht

Was bleibt, ist eine Seite 3 mit einer zuspitzenden Schlagzeile aus der Hölle und ein Contra-Artikel, der eine politische Lösung für die tödliche Situation im Mittelmeer sucht. Die Aufmachung der Seite ist zweifellos daneben – schon alleine, weil sie einen völlig falschen Eindruck vom Thema erweckt.

Der Autorin des Contra-Artikels kann man mit sehr guten Gründen widersprechen. Die privaten Rettungsinitiativen sind schließlich eine Reaktion auf das tödliche Versagen staatlicher Akteure und der europäischen Behörde Frontex. Das führt auch der öffentlich fast gar nicht thematisierte Pro-Artikel von Caterina Lobenstein auf derselben Zeitungsseite aus.

Mit dem Inhalt von Laus Artikel lassen sich die Angriffe auf die Autorin dennoch nicht erklären. Sie formuliert schließlich auch die Selbstverständlichkeit, dass niemandem eine Rettung verwehrt werden darf. Die Angriff auf Mariam Lau beziehen sich vor allem auf Zitate, die bewusst aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Was nicht passt, wird passend gemacht.

Weshalb dann die Schärfe der Angriffe? Die Gründe für die Attacken auf Mariam Lau liegen vermutlich in ihrer Kritik an der vermeintlichen moralischen Selbstüberhöhung der Seenotretter. Angegriffen fühlen sich dadurch Vertreter einer Moralität, die es sich angewöhnt hat, alles und jeden in Echtzeit einem Guten oder Bösen zuzuordnen. Glyphosat, Flucht, Diesel, Fahrradfahren – Ambivalenzen sind unerwünscht. Jene, die feste Urteile argumentativ bearbeiten, sind keine Diskutanten, sondern Feinde. Die Forderung nach einer öffentlichen Moral, der sich der Journalismus zu unterwerfen habe, klingt da beinahe wie eine Drohung.

Takt statt Moral

Das Problem mit der Moral ist deren Selbstsicherheit. Und moralisch sind nicht nur die Gutmeinenden. Die Mullahs und ihre reaktionären Brüder sind die größten Verfechter der Moral. Doch was ist die Alternative?

Der liberale Gegenentwurf zur Moral hieß immer schon Takt. Das klingt zugegebenermaßen recht staubig, aber hey: es wird gerade allen Ernstes mehr Moral gefordert. Der bürgerliche Takt hat den Vorteil, dass er weniger aufdringlich ist und sich eigentlich alle recht leicht daran halten können: Ausreden lassen, zuhören, niemanden ohne Grund beleidigen oder verletzen. Takt hilft übrigens auch bei den meisten anderen heiklen Themen, wie beispielsweise der Diskussion unter dem Hashtag metoo: Belästige niemanden! Finger weg! Ebenso bei der Diskussion über diskriminierende Sprache: Spreche Menschen so an, wie sie angesprochen werden möchten! Oder bei der viel beklagten Verrohung des öffentlichen Diskurses: Beleidige niemanden ohne Grund. Beim Umgang mit Trollen und Menschenfeinden: Wer sich taktlos benimmt wird gemieden und darf selbst angegriffen werden. Manchmal sind Lösungen so einfach, wie sie klingen.

Unser Gastautor schreibt über Startups, davor PR. Er sagt Ja zur modernen Welt. Mag Europa, USA und Israel und vieles andere auch. Soziologe im Herzen und auf dem Papier. In München.

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