Ja, hier ist von Deutschland die Rede. Von einem Lebensgefühl und einem Paradox. Und vom Ende einer Uneindeutigkeit, das die neue Regierung herbeiführen muss.

Es gab einmal ein Goldenes Zeitalter. Die Sonne schien ununterbrochen, alle waren wohlgestimmt wie im Urlaub, das Zitroneneis schmeckte noch besser als sonst, die Gelenke schmerzten nicht, der Wind kühlte die Hitze, selbst die Autos im Stau zeigten ein Lächeln, und die Zeitungen hatten gute Laune. Der Kaiser hatte geladen, und die ganze Welt nahm die Einladung an und fühlte sich zu Gast bei Freunden. Es war, als Deutschland sich locker machte und ein balltrunkenes Sommermärchen veranstaltete. Wir schrieben das Jahr 2006, und alle sprachen davon, dass Deutschland, wider Erwarten, ganz „unverkrampft“ sei. Ein neues Attribut für ein Land, das immer ein Problem mit seiner Nationalstaatlichkeit hatte und zudem die Schuld für zwei Weltkriege und den Holocaust trägt.

Ich hatte 2006 das Glück, für ein Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft eine Karte ergattert zu haben, und war nicht nur beglückt vom Spiel, sondern auch von der Inszenierung ringsum. Noch vor dem Anpfiff trat ein Trompeter vor den Block und stimmte die deutsche Nationalhymne an – und sehr viele, ja, fast alle stimmten mit ihm ein und sangen von Einigkeit und Recht und Freiheit. Es war, schlicht gesagt, ein schöner Moment. Man freut sich, fühlt sich pudelwohl und feierlich für anderthalb Minuten. Natürlich ist es eine Initiation in Patriotismus. Mehr aber auch nicht. Keine toxischen Überlegenheitshintergedanken steigen auf, wenn man sich freut, in einem guten Land zu leben. Auch ein Hungergefühl macht nicht gezwungenermaßen zum Raubtier.

Ich habe mich an diese Szene erinnert, als ich jüngst von Patriotismus in der ZEIT las, quasi herbeigewünscht als der gute Geist der Vaterlands- und Heimatliebe, der den bösen Geist des Nationalismus vertreibt oder zumindest in die Schranken weist (so wie es Kurt Tucholsky im Jahre 1929 mit einem ganzen Buch gegen die Pickelhauben und den Talarenmuff versuchte). Der Ruf nach diesem Antidot hat mich überrascht, denn dieser quasi sommerliche deutsche Patriotismus ist in den letzten zehn Jahren nie fort gewesen. Er besaß jene Form von Stolz, die sich auf die eigene Liberalität und Toleranz was einbildet. Allerdings ist dieser Patriotismus im Kulturkampf der vergangenen zwei Jahre etwas in den Hintergrund getreten – im öffentlichen Diskurs, also im sozialen Selbstgespräch, verdrängt von nationalistischen und kosmopolitischen Ideen, sprich von Vorhaben der Ausgrenzung und der Entgrenzung. Das Ganze war ein Lehrstück dafür, wie quasi über eine Mehrheit hinweg kommuniziert werden kann, ohne dass es richtig bemerkt wird. (Abgesehen von etlichen Migranten bzw. Migrantenkindern der zweiten oder dritten Generation, die von den einseitigen Diskussionen reichlich genervt waren.) Jetzt, nach den Wahlen vom 24. September, könnte sich das ändern. Muss es sogar. Sonst nimmt das Land wirklich Schaden.

ENDE DER ZWEIDEUTIGKEIT

Entscheidend dafür wird die staatliche Politik sein. Die neue Regierung darf sich keine weitere Zweideutigkeit leisten. Was ist damit gemeint? Nun, sie darf nicht den Diskurshegemonen folgen und durch das eine Regierungsmitglied, z.B. den Innenminister, recht unausgegoren eine sogenannte Leitkultur fordern und durch ein anderes Regierungsmitglied, z.B. die Integrationsbeauftragte, eigene Rechtsinstitute und kulturelle Grundlagen infrage stellen lassen. Das sind fatale Signale, die eine eigene Wirklichkeit schaffen.

Alle zehn Jahre etwa wird in der akademischen Welt danach gefragt, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Problem schon vor rund 50 Jahren in dem Paradox, das seinen Namen trägt, auf einen Nenner gebracht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben… “

Die Krux ist also beachtlich. Und sie wird nicht kleiner, weil aus der „Homogenität der Gesellschaft“ längst eine Heterogenität geworden ist. Umso mehr fällt dem Staat die Aufgabe zu, einen Rahmen zu setzen, in dem die Gesellschaft gedeihen und jedes Individuum an Freiheit und Sicherheit teilhaben und nach Wohlstand streben kann. Um nichts anderes geht es. Dieser Rahmen besteht natürlich in der Verfassung, in Gesetzen und Rechtsmitteln und sollte nicht von einer Regierung in Zweifel gezogen werden, sonst beginnt eine Erosion des Vertrauens, die sich kein Staat leisten kann.

Ein gewisser Teil einer Gesellschaft kann dem Staat, in dem er lebt, ablehnend oder distanziert oder gleichgültig gegenüber stehen; aber ob ein Gemeinwesen funktioniert, hängt vom Grad des Gemeinsinns, von den staatsbürgerlichen Tugenden und letztlich dem Patriotismus der Mehrheit, also der Identifikation mit dem Gemeinwesen ab – sowie vom staatlichen Handeln. Es braucht keine herbeifantasierte „Erzählung“, kein vermaledeites „Narrativ“, damit das Unbehagen in der Gesellschaft, damit die Gärprozesse gestoppt werden können. Unser liberaler Rechtsstaat muss sich nur wieder seiner Ordnungsfunktion voll und ganz bewusst sein.

Es stellt sich am Ende vielleicht noch der eine oder die andere die ständig herumgereichte Frage, ob dies irgendwas mit „rechts“ zu tun hat, mit einer „rechten Flanke“ oder einem „Rechtsruck“. Nun, die Antwort ist einfach: Nein, tut es nicht.