Die Kritik, die Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer an seinem Parteifeind Marco Wanderwitz übt, ist nicht nur infam, sondern auch völlig unlogisch. Das zeigt der Erfolg Reiner Haseloffs in Sachsen-Anhalt.

Kein Zweifel: Der Wahlabend war ein Desaster für die Union. Knapp neun Prozentpunkte Verlust, Minusergebnisse in der Fläche vor allem gegenüber der AfD – und, fast noch schlimmer, unerwartete harsche persönliche Niederlagen, die einige verdiente Parlamentarier plötzlich ohne Direktmandat dastehen ließen.

Diese Schilderung des Wahlausgangs von 2017 liest sich auch vier Jahren später noch außerordentlich aktuell. Den Unmut der Wähler bekam damals die ganze Union zu spüren, kaum jemand aber so schmerzlich wie der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Görlitz. Dieser Abgeordnete, ein gewisser Michael Kretschmer, war bis zur Wahl Generalsekretär der sächsischen Union gewesen, im Bundestag war er obendrein stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Er galt als heller Kopf und gut vernetzt, und mit gerade einmal 42 Jahren war er auch jung genug, sich noch viele Wege nach oben in der Bundespolitik zu bahnen. Dachte man – und dachte auch er. Dann aber kam der 24. September 2017, als ein bis dato völlig unbekannter Malermeister namens Tino Chrupalla Kretschmers strahlende Karriere urplötzlich in eine finstere Sackgasse verwandelte. Dass er wenige Monate später die Posten als sächsischer Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzender vom verdrossenen Stanislaw Tillich erben würde, überraschte am Ende wohl auch ihn selbst. Kretschmer blieb eine Größe, unverhofft. 

Angesichts dieses Werdegangs läge die Vermutung nahe, dass Kretschmer wie kaum jemand sonst zum Mitgefühl mit denen in der Lage sein müsste, die sicher scheinende Unionsmandate an die AfD verlieren. Diese Woche hat aber gezeigt, dass Kretschmer die hohe Kunst der Verdrängung in den vergangenen Jahren perfekt erlernt hat. Nur einen Tag, nachdem seine CDU von den vormals zwölf verbliebenen sächsischen Direktmandaten acht verloren hatte, sieben davon an die AfD, war für den Landesvorsitzenden der Schuldige bereits ausgemacht: Marco Wanderwitz, Abgeordneter des Wahlkreises Chemnitzer Umland – Erzgebirgskreis II. Wanderwitz hatte im Mai auf sich aufmerksam gemacht, als er die Wahlergebnisse der AfD in den neuen Ländern auf eine gesellschaftliche Vorbelastung der dortigen Wähler zurückgeführt hatte. Zu Letzteren würden auch Menschen zählen, „die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind“. Populistische Wahlerfolge, aber auch niedrige Impfquoten und ein Hang zum Verschwörungsglauben seien so zu erklären. All das war schon für sich genommen ziemlich harter Tobak, gewann an Pikanterie aber noch dadurch hinzu, dass mit Wanderwitz nicht einfach nur irgendein ostdeutscher MdB sprach, sondern der Ostbeauftragte der Bundesregierung höchstpersönlich. Viel Liebe hatte der für seine Aussagen sicher nicht erwartet, aber dass neben den Politkollegen aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Co. sogar die Bundeskanzlerin sich zu einer kritischen Replik versteigen würde, dürfte er nicht eingepreist haben. Die Wellen schlugen hoch, aber sie legten sich auch wieder.

Bis jetzt. Fast ein halbes Jahr später steht nun derselbe Ostbeauftragte, der anders als Kretschmer 2017 ironischerweise dank der Schwäche der CDU-Direktkandidaten über die Liste wieder in den Bundestag einziehen kann, als dankbarer Sündenbock da. Ausgerechnet in den Worten der in Sachsen bekanntlich mäßig populären Kanzlerin befand der Ministerpräsident dieser Tage, Wanderwitz‘ damalige Einlassungen seien „sicher nicht hilfreich“ gewesen, andere Unionspolitiker nahmen den Ball gerne auf. Auch einen, freilich eher symbolischen, Posten in der Fraktion ist Wanderwitz jetzt los. 

Die Erklärung, wonach ein x-mal gedemütigtes Volk die Beleidigung durch einen Ostbeauftragten ausgerechnet der CDU nicht mehr länger hingenommen und der Partei deshalb die Gefolgschaft gekündigt habe, ist für die sächsische Union in dieser vertrackten Lage begreiflicherweise sehr attraktiv. Wahrer wird sie davon aber nicht.

Kretschmers Anwurf hakt logisch an mehreren Stellen, angefangen bei den nackten Zahlen: In Wanderwitz‘ Wahlkreis verlor die CDU gegenüber 2017 zwar knapp 16.000 Erststimmen, was einem Minus von 11,5 Prozent entsprach; die AfD gewann ihrerseits jedoch weniger als 3.000 oder 2,3 Prozent hinzu. Großer Gewinner im Chemnitzer Umland war (ebenso wie in der Stadt selbst) die SPD, die allein über 9.000 Stimmen mehr erhielt als vor vier Jahren und sich von 10,3 auf 17,1 Prozent verbesserte. Das reichte nicht für das Direktmandat – aber es langt allemal, um den Dolchstoßlegenden gegen Wanderwitz die Spitze zu nehmen. 

Wer es indes wie der Schreiber dieses nicht so hat mit der Erotik langer Zahlenkolonnen, der möge sich stattdessen an den Juni erinnern, als Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt einen von vielen nicht erwarteten klaren Wahlsieg gegenüber einer gestutzten AfD einfuhr. Haseloff ist ohne Zweifel ein Ostdeutscher durch und durch und ein Politiker, der sich gern auch mal flussabwärts auf dem Strom des regionalen Sentiments treiben lässt. Ein AfD-Verharmloser ist er aber nicht, wie er mit der Entlassung des mit der Rechtsaußenpartei füßelnden Holger Stahlknecht nachdrücklich unter Beweis stellte. Dass der AfD-Gegner Haseloff nur Wochen nach der „Debatte“ um Wanderwitz‘ angebliche Beleidigungen im direkten Nachbarland einen haushohen Wahlsieg einfuhr, ließ schon damals nur einen von zwei Schlüssen zu: Entweder, die Wähler in Sachsen-Anhalt fühlten sich durch Wanderwitz‘ Ausführungen nicht sonderlich beleidigt, oder aber die Sache war ihnen schlicht egal. Beides wären dünne Fundamente, um darauf Monate später Kretschmers aktuellen Vorwurf aufzumauern. 

Nichts als Selbstmitleid

Drittens und letztens aber muss dieser Vorwurf auch politisch als das zurückgewiesen werden, was er ist: billige Stimmungsmache. Denn auch nach dem christdemokratischen Massaker vom Sonntag scheint Kretschmer zu nennenswerter Introspektion nicht bereit, und er lässt das zuvorderst denjenigen spüren, der auch seiner eigenen Partei immer wieder eine kritische Reflexion ihres Handelns angeraten hatte. Die AfD als strukturelles Problem ernst zu nehmen, hieße für die CDU schließlich auch, Rote Linien nicht nur im Parteienspektrum, sondern auch durch Teile ihrer vergangenen und gegenwärtigen Wählerschaft zu ziehen, und es würde die Frage mit sich bringen, welche Verantwortung die sächsische Staatspartei für das Zustandekommen dieser Lage trägt. Die Antwort darauf muss keineswegs so vernichtend sein, wie die Linke es immer wieder suggeriert – sie aber einfach totzuschweigen, ist mit Sicherheit keine Lösung.  

Wenn vor diesem Hintergrund ein Politiker, der Land und Leute gründlich kennt, sich ein kritisches Urteil erlaubt, das jeder, der es mit dem Osten hält, bestätigen kann, ist das weder politisch noch moralisch ein unzulässiger Ausreißer. Zwar haben die Wanderwitz-Kritiker mit ihrer Einlassung recht, dass die Menschen in Ostdeutschland erleben mussten, wie ihr wirtschaftliches und kulturelles Kapital relativ zum Rest des Landes dahingeschmolzen ist. 

Nur kann die Reaktion auf diese Entwicklung nicht ein Selbstmitleid sein, das inzwischen vielerorts in wütende Ablehnung vermeintlicher externer Sündenböcke umschlägt. Die Union in Sachsen steht deshalb in der Pflicht, sich von der eingeübten Rolle als reine Seelenstreichelpartei zu lösen, wenn das Wahlvolk in falsch verstandener Nostalgie mal wieder anfängt, nach dem emotionalen Schuss zu verlangen, der früher oder später noch jeden Junkie zuverlässig abstürzen lässt. Sie kann sich dafür ein Beispiel nehmen an einem Ostbeauftragten, der qua Amt den Osten unterstützen und bewerben soll – und der richtigerweise manchmal das eine zurückstellt, um dem anderen gerecht zu werden.