Die Leere
In Afghanistan hat der Westen sich selbst verraten, seine Feinde jubilieren. Welchen Wert haben unsere Werte jetzt noch?
Für eine solide depressive Grundstimmung ist ein flüchtiger Blick in die Presse derzeit mehr als genug. Wer Berichte aus Afghanistan liest oder sich gar tollkühnerweise auf Twitter ungeschnittene Videos vom Kabuler Flughafen antut, der möchte sich die Haare raufen angesichts des unbeschreiblichen menschlichen Elends. Verstärkt wird die Wut noch durch die Gleichzeitigkeit des Absurden: Während über der Rollbahn Menschen von startenden Flugzeugen fallen, geben nur wenige Kilometer entfernt zottelbärtige Dschihadisten eine Pressekonferenz, in der sie mit großer Geste ihren Krieg für beendet erklären. Wie alles andere, was die Taliban je verlautbart haben, ist natürlich auch das eine Lüge, der echte Krieg wird jetzt erst beginnen. Ob ihre Worte der Wahrheit entsprechen oder nicht, spielt für die neuen Herren des Landes aber sowieso keine Rolle, denn die Tatsache, dass sie auf noblem Gestühl und vor versammelter Presse wieder große Ankündigungen machen können, ist Sieg genug. Wenn die Taliban eine Losung ausgeben, dann kommen ab sofort nicht mehr Militärs zum Einsatz, sondern wieder hauptberufliche Kaffeesatzleser, die die Worte des Orakels zu deuten versuchen. In Deutschland, so viel kann man erwarten, werden sie vornehmlich den Dialog empfehlen.
Wut
Was all das in vielen Menschen hierzulande hinterlässt, ist nicht so sehr Ärger oder Trauer als vielmehr Wut. Wut über den Rollback der Geschichte, der sich da ohne jede Scham vor unseren Augen ereignet, Wut über die Nutzlosigkeit des westlichen Engagements, Wut über den Sieg derer, die alles, was Soldaten aus der ganzen Welt eine Generation lang erkämpft haben, am Ende in Tagen wieder rückabwickeln. Diejenigen, die der Westen zurecht auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen zu haben glaubte, tun gerade dasselbe mit uns.
Nicht zuletzt deshalb geht uns das Drama auch näher als sonst. Elend gibt es schließlich genug auf der Welt, gelitten und gestorben wird von Somalia über den Jemen bis nach Syrien seit Jahren reichlich. Dort aber waren die Gesten betroffenen Händeringens langjährig einstudiert, kamen die Appelle zur politischen Lösung und zum Schutz von Zivilisten flüssig. Die „äußerste Besorgnis“ war aktenkundig, und genau das blieb sie auch.
Nur war es für den Westen eben das eine, sich vor Empörung mit dem Schweißtuch das Gesicht abzutupfen, wenn in Syrien Giftgasbomben auf Kinder fielen, aber Afghanistan ist etwas anderes. Dort waren wir kein Zaungast, das Land war unser aller Engagement, ein Joint Venture des Westens. Joe Biden möge veralbern, wen er will, Afghanistan war natürlich als Schaufenster einer demokratischen Welt post-9/11 gedacht, als deutliches Zeichen, dass der Barbarei Zivilisation folgen könne und müsse. Neocons und Nation Building sind heute aufgeladene Begriffe, aber wozu sonst will man in dieser Welt eigentlich leben? Wer hätte den Afghanen 2001 erklären wollen, dass sie leider dazu verdammt sind, in Todesangst leben zu müssen? Und wer will das heute tun?
Rollback der Geschichte
Was die Bemühungen des Westens angeht, war Afghanistan der erste und der letzte Showcase. Fast auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Ende des Emirats, das Tod und Leid nicht nur über die Afghanen, sondern auch tausendfach an die Gestade Amerikas gebracht hatte, ist der Status quo ante wiederhergestellt. Soldaten, die noch nicht einmal geboren waren, als die Twin Towers fielen, haben in Afghanistan ihr Leben riskiert. Wofür sie überhaupt dort waren, kann nach dieser Woche niemand so recht erklären.
Körnige Fernsehbilder der Neunzigerjahre werden wieder lebendig. Afghanische Mädchen sind erneut Ehebeute für ungewaschene Stammeskrieger, Fernsehmoderatorinnen werden verbannt, Gewalt und Unterdrückung laufen mit altbekannter Routine an. Die Demütigung des Westens, der über Jahrzehnte so viel investiert hatte, wird derweil manifest im katastrophalen Unvermögen praktisch aller beteiligten Länder, auch nur das gefährdetste Personal auszufliegen, westliches wie heimisches. Die Debatte um die sogenannten Ortskräfte, die in Deutschland derzeit als Ausweichdiskussion kräftig Fahrt aufnimmt, ist dabei die erste Beruhigungspille für den body politic, geht sie doch politisch, moralisch und strategisch völlig an der Sache vorbei. Sie verkürzt die Frage nach unserer Verantwortung auf diejenigen – wenigen – Afghanen, die deutsche Einheiten vor Ort direkt unterstützt haben. Mit dem Hinweis, wir hätten das Vertrauen dieser Menschen in uns, unsere Länder und unsere Werte enttäuscht und unsere Versprechen ihnen gegenüber gebrochen, macht die deutsche Gesellschaft sich schon wenige Tage nach dem Fall von Kabul einen denkbar schlanken Fuß: Die Einwohner des Landes, die für die Bundeswehr oder irgendeine Entwicklungshilfeorganisation übersetzt haben, waren schließlich nicht die einzigen, die auf uns, den Westen im plurale tantum, vertraut haben und jetzt sehen, was unsere Versprechen wirklich wert waren. Die Generation, die seit 2001 in Afghanistan herangewachsen ist, konnte sich bei allen Schwierigkeiten darauf verlassen, dass es Menschen im Land gab, die zumindest nominelle Freiheiten für sie sicherten. Afghanistan war ein schwacher Staat, es war arm und gefährlich, aber dennoch meilenweit entfernt von der Hölle, die es vorher war und die es sich nun wieder zu werden anschickt. Die grundlegenden Freiheiten des Menschen, und im Fall Afghanistans natürlich ganz besonders der Frauen, galten in dieser Zeit irgendetwas.
Jetzt nicht mehr. Wie sehr das Ende der Truppenpräsenz nicht nur militärische Niederlage, sondern auch ein moralischer Rückzug ist, zeigt sich an der kaum verhohlenen Schadenfreude unter den weltpolitischen Akteuren, die nie darum verlegen sind, ein vom Westen hinterlassenes Vakuum zu füllen. Weder ließen die Russen die Chance verstreichen, uns unser Versagen noch einmal genüsslich aufs Butterbrot zu schmieren, noch warteten die Chinesen lange mit ihrem unerreichten Zynismus und erklärten bereits am Montag, sie würden „die Entscheidung des afghanischen Volkes respektieren.“ So redet sich’s leicht von der Leber weg, wenn das Gewissen nicht drückt.
Jedes Vakuum wird genutzt
Anders bei uns. Der so schmerzlich fehlende John McCain erinnerte bei seiner letzten Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2017 daran, dass der Westen eine Ordnung ist, „die nicht aufbaut auf einem Blut-und-Boden-Nationalismus, auf Einflusssphären oder auf der Unterwerfung des Schwachen durch den Starken – sondern auf allgültigen Werten, der Herrschaft des Rechts […].“ Die Idee des Westens an sich liege „in der Offenheit für jeden Menschen und jede Nation, die diese Werte in Ehren hält und verteidigt.“
Wer diese Worte lesen kann, ohne beim Blick nach Kabul einen Stich ins Herz zu verspüren, der möge bei der chinesischen Staatspolizei anheuern. Der Westen kommt zwar nicht ohne militärische Überlegenheit aus, seine Stärke verdankt er aber dem Ideal der unbedingten Verteidigung von Freiheit. Sonst wäre Putins Regime mit seinen vergoldeten Schreibtischen, den gammelnden Krankenhäusern und den raketenstarrenden Militärbasen die Führungsnation unserer Erde, und sonst hätte man ebenso gut in den letzten zwanzig Jahren auf die diversen „Antiimperialisten“ hören können, die wie die deutsche Linke mit sicherem regressivem Gespür unermüdlich den Abzug westlicher Truppen gefordert haben. Voilà, jetzt haben sie ihren Willen.
Der Traum der Antiimperialisten ist wahr geworden
Sicher, der peinigende Moment von Afghanistan wird irgendwann verblassen. Gut möglich sogar, dass selbst Joe Biden durch seine schändliche Fehlentscheidung und katastrophales Missmanagement des Abzugs nicht einmal einen unmittelbaren Nachteil erleiden wird, denn die Amerikaner haben im Zweifel noch immer strikt nach Innenpolitik gewählt. Wir in Deutschland brauchen indes nicht mit dem Finger nach Washington zu zeigen, denn auch bei uns werden die Wogen sich glätten, wenn erstmal die letzten Maschinen aus Taschkent gelandet und die paar tausend glücklichen Geretteten nach Königsteiner Schlüssel verteilt sind. Aber wie können, wie sollen, wie wollen wir unseren Gegnern, den Feinden von Freiheit, Wohlstand und Menschenwürde in dieser neuen Ära entgegentreten, wenn das unser Vermächtnis ist? Wenn wir die Werte, die uns stark machen, so ohne Not einfach wegzuwerfen bereit sind? Wie will man dieser Leere noch begegnen?
Wir sind an einem ersten Tiefpunkt angelangt, weitere dürften folgen. Daraus zu lernen und nicht dem scheinbaren kurzfristigen Nutzen das sturmerprobte Fundament des Westens und der freien Welt zu opfern, wird nun das Gebot der Stunde sein. Eine größere Aufgabe gibt es nicht. Um es mit den 2018 nur noch verlesenen Worten von John McCain zu sagen: „It is a moral struggle. It is about the values that will govern our world.”
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