Litauische Verrenkungen
Vor genau hundert Jahren wurde Litauen unabhängig, tut sich jedoch noch immer schwer mit der Erinnerung an den Holocaust. Ein Besuch in Vilnius.
Die litauische Erinnerung an den Holocaust – noch immer nur ein „Aspekt“, eine Randnotiz in der Geschichte des Landes, das am 16. Februar den hundertsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert? So mag es scheinen, wenn man in diesen Tagen durch die mit EU-Mitteln und einheimischer Tatkraft berückend restaurierte Hauptstadt Vilnius (das ehemalige Wilna) streift und am Gedimino-Boulevard das nationale “Genozid-Museum“ besucht. In dem ehemaligen zaristischen Gerichtsgebäude, das im 20. Jahrhundert – in genau dieser irrwitzigen Reihenfolge – 1940 den NKWD, 1941-44 die Gestapo und bis 1990 den KGB beherbergte, wird nun Geschichte erinnert. Und Geschichtspolitik gemacht. Denn der Terminus „Genozid“ bezieht sich vor allem auf jene über 60.000 sogenannt „bürgerlich-reaktionären“ Litauer, die während der stalinistischen Massendeportationen nach Sibirien oder hoch ans Nordmeer ums Leben kamen, erforen, verhungerten oder erschossen wurden. Der Hinweis, dass über die Hälfte der Deportierten überlebt hatte und in den Jahren nach Stalins Tod nach Litauen zurückkehren konnte, wird als Zumutung empfunden – vor allem, wenn er aus Westeuropa kommt, dem partiell wohl zu Recht vorgeworfen wird, das Ausmaß der sowjetischen Vor- und Nachkriegsverbrechen niemals ausreichend reflektiert zu haben. Aber hat nicht selbst Litauens bedeutendster Lyriker Tomas Venclova – ein enger Freund des jüdisch-russischen Literaturnobelpreisträgers Joseph Brodsky und wie dieser in den siebziger Jahren in die USA zwangsexiliert – immer wieder vor dem Wort „Genozid“ gewarnt, da es entscheidende Unterschiede einebne?
Es braucht mehr Mut
Einem Museum dieses Ranges hätte es wahrscheinlich gut angestanden, die von Venclova angestossene Debatte zumindest zu erwähnen – wie auch die nun langsam beginnenden Diskussionen um die „Waldbrüder“. Dies waren antisowjetische Partisanen, die sich nach dem Krieg und bis hinein in die fünfziger Jahre der Moskauer Okkupation ihres Landes widersetzen, jedoch auch ehemalige Nazi-Kollaborateure in ihren Reihen hatten. Würde dem gegenwärtigen Litauen, das seit der „zweiten Unabhängigkeit“ von 1990 eine stabile und wirtschaftlich prosperierende Demokratie ist, wirklich ein Zacken aus der Identitäts-Krone fallen, wenn man statt unkritischer Hagiographie ein wenig mehr Mut aufbrächte, historischer Komplexität gerecht zu werden? Bislang erinnert jedoch im „Genozid-Museum“ mit seinen original erhaltenen Verhör- und Kellerzellen lediglich ein (!) Raum an den Holocaust. Mit historischen Fotos und Quellentexten wird hier an die nahezu vollständige Vernichtung der litauischen Juden zur Zeit der deutschen Besatzung erinnert, die einheimische Mitschuld nicht geleugnet, jedoch recht kursorisch abgehakt. Ungleich mehr Platz nehmen dann jene Litauer ein, denen in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ gedacht wird. Der englischsprachige Flyer informiert derweilen kurz und knapp: „Occupation by the Nazi Germany. Killed: 240.000 (including 200.000 Jews)“. Also noch einmal: Die Beschäftigung mit dem Holocaust – lediglich in Klammern?
Angesprochen auf dieses Missverhältnis, beginnen in Vilnius viele der jungen Leute zu stutzen und dann – offensichtlich erleichtert, dass in ihrer Hauptstadt ja doch keine historische Amnesie herrsche – auf „gleich zwei“ Museen hinzuweisen, die sich der „jüdischen Geschichte“ annehmen. Außerdem gäbe es im Wald des Vororts Ponary (wo Wehrmacht, SS und litauische Milizen bereits Ende Dezember 1941 fast zwei Drittel aller Vilniuser Juden erschossen und verbrannt hatten) eine Gedenkstätte – „dafür“. In den Stimmen der freundlich und in perfektem englisch Auskunft Gebenden: Keinerlei Ressentiment, eher eine Art irritierendes Verständnis, da sich Auswärtige offensichtlich nicht nur für die tatsächlich atemberaubende architektonische Schönheit der Stadt zu interessieren scheinen – sondern eben auch „dafür“.
Scheuklappen des Regionalen
Seltsame Separierung des Gedächtnisses. Denn auch wenn es im alten Litauen nicht wie Deutschland oder Frankreich eine sozial und intellektuelle Durchdringung der Milieus gegeben hatte und das Wirken des legendären „Gaon von Wilna“ oder die „Haskala“, die legendäre jüdische Aufklärung, vor allem innerhalb des einstigen „Jerusalem des Nordens“ Wirkung erzielte – wäre es nicht im Jahre 2018 an der Zeit, Historie endlich auch als Verknüpfungsgeschichte wahrzunehmen? Freilich gibt es auch Gegenläufiges. So versucht etwa der litauische Intellektuelle Victoras Bachmetjevas seit Jahren, seine Landsleute dafür zu interessieren, dass Emmanuel Lévinas nicht nur – wie es gern erwähnt wird – 1906 in einer jüdischen Familie in der Stadt Kaunas geboren wurde, sondern späterhin in Frankreich als Moralphilosph zahlreiche Intellektuelle prägte. Denn müsste nicht gerade ein Land, das – einst im Spätmittelalter und im Verbund mit Polen eine europäische Großmacht zwischen Ostsee und Schwarzem Meer – im 20. Jahrhundert derart marginalisiert wurde, nicht schon aus Eigeninteresse die Scheuklappen des Regionalen ablegen? Denn wer machte Litauens Namen positiv in der Welt bekannt? Jüdische Auswanderer und deren Nachkommen. Ob die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer oder die Mehrheit der weißen Anti-Apartheid-Aktivisten am Kap – Töchter und Söhne rechtzeitig ausgewanderter litauischer Juden, die von ihren Eltern als Erbe ein feines Gespür für die Universalität der Menschenrechte mitbekommen hatten.
Auch nicht zu vergessen, gerade in diesen Tagen: Nach der Unabhängigkeit vom 16. Februar hätte Litauen nach dem Willen des wilhelminischen Deutschlands, Besatzungsmacht im Ersten Weltkrieg, einen württembergischen Herzog als neuen Herrscher bekommen sollen. Die Kabale indessen scheiterte, und der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig (dessen Welterfolg „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ bereits hier in der Gegend spielte) widmete diesem Geschehen den seinerzeit fast ebenso berühmten Roman „Einsetzung eines Königs“.
Wiederzuentdecken wäre auch der französische Schriftsteller und zweifache Prix Goncourt-Preisträger Romain Gary, der 1914 als Roman Kacew in Wilna geboren wurde und 1943 mit „Èducation européenne“ einen der ersten Romane über die Nazi-Verbrechen in Litauen schrieb; Jean-Paul Sartre hielt seinerzeit das noch heute eminent lesbare Buch für eines der wichtigsten der Epoche. Immerhin: Inzwischen erinnert in der Basanavicius-Straße eine Statue an Gary, die den weltberühmten Romancier als kleinen Wilnaer Jungen zeigt. Eine sympathische Geste, doch vielleicht auch unfreiwillig typisch für die offizielle Gedenkkultur eines Landes, die auch fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der sowjetischen Besatzung zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit zu neigen scheint. In diesem Zusammenhang konzedierte unlängst der Regisseur Marius Ivaskevicius, dass in Litauen zwar längst nicht mehr die einheimische Beteiligung am Holocaust geleugnet werde und auch kein „Antisemitismus ohne Juden“ erkennbar sei, jedoch nur langsam ins Bewusstsein dringe, das damals „Nachbarn von Nachbarn“ ermordet wurden.
„Erinnerung komme nicht von selbst“
Wer aber erklärt diese geschichtlichen Verwerfungen? Die Schautafeln im „Gaon von Wilna-Museum“ leisten dies auf vorbildliche Weise. Der 1933 in Vilnius geborene Maler Samuel Bak (ein Akronym für Bnei Kdoshim, Kinder der Märtyrer) hat vergangenes Jahr seine von eigener Ghetto-Erfahrung inspirierten, z.T. surrealistischen Bilder dem Museum als Dauerleihgabe vermacht. Aber wird all das auch die Bevölkerungsmehrheit erreichen? Die Guides in einem kleinen, auf einem Hügelchen gelegenen „Holocaust-Museum“ sind jedenfalls junge Österreicher, die hier mit viel Engagement ihr soziales Jahr ableisten – „weil im Nachkriegs-Österreich unzählige Nazis, die in Litauen gewütet hatten, straffrei davon gekommen waren“. Doch lediglich zwei (sic!) litauische Schulklassen hatten das Haus im letzten Jahr besucht. Die Geschichte der fast vollständigen Auslöschung der litauischen Juden durch die nazideutschen Besatzer und mit Hilfe zahlreicher einheimischer Kollaborateure ist deshalb eher in historischen Werken zu finden – geschrieben von ausländischen Wissenschaftlern. 1984 veröffentlichte der israelische Dramatiker Joshua Sobol sein Stück „Ghetto“, das das moralische Dilemma der vor ihrer Vernichtung auf engsten Raum zusammengetriebenen Juden thematisiert. Einige der damaligen Entscheidungsträger hatten mit den Deutschen zusammengearbeitet – um so viel wie möglich Menschenleben zu retten, was letztendlich jedoch nur bedeutete: Deren Ermordung um ein paar Monate oder Wochen zu verzögern. Uraufführung hatte das Stück damals unter Peter Zadek in der Westberliner Volksbühne, die tragische Figur des (1943 schließlich ebenfalls erschossenen) Ghetto-Chefs Jacob Gens spielte Michael Degen, der wiederum als jüdisches Kind jene Jahre in einer Berliner Laubenkolonie überlebt hatte.
„Erinnerung kommt nicht von selbst“, sagt Bella Shirin, die 1947 in Kaunas als Tochter zweier Ghetto- und KZ-Überlebender geboren wurde und später mit den Eltern nach Israel auswanderte. „Jetzt bin ich wieder zurück, denn das Heimweh war zu stark“, sagt die quecksilbrig-herzliche 71jährige, die als Künstlerin und Zeitzeugin in litauischen Schulen auftritt. „Aber nicht um den Nachgeborenen ein schlechtes Gewissen zu machen. Im Gegenteil: Ich erinnere auch an jene Litauer, die meinen Eltern damals geholfen hatten – und dazu an jene Juden, die Opfer der stalinistischen Deportationen wurden, denn Leid lässt sich nicht aufrechnen.“
Bleibt die Hoffnung, dass Bella Shirins Worte im modernen Litauen ein wirkliches Echo finden.