Stimmungen sind wie Flutwellen: sie reißen alles mit. Sie machen nicht vor Prominenten halt, nicht vor dem eben noch Unbekannten. Empörung ist zu einfach geworden – und bringt nicht immer das Beste im Menschen zum Vorschein.

Die falschen Worte können alles nur noch schlimmer machen. Das weiß jeder, der einmal angeklagt war oder als Schöffe zu Gericht saß. Das gilt ganz besonders in einem Raum, in dem es nicht mehr so sehr um tatsächliche Schuld und die Schwere der Tat geht. Denn es kann um alles gehen: nämlich um den Ruf, den der Angeklagte hat – und wie er mit diesem beschädigten Ruf in Zukunft leben will.

Kevin Spacey, ein sehr berühmter und anerkannter Schauspieler, wird von einem Mann beschuldigt, ihn sexuell belästigt zu haben. Zur Tatzeit war das Opfer erst 14 Jahre alt, Spacey aber schon Mitte zwanzig. Das ist alles, was die Öffentlichkeit – also wir alle, die angesichts von Schlagzeilen die Augen aufreißen – weiß. Spacey bestreitet die Vorwürfe nicht, bestätigt sie aber auch nicht. Er glaubt sich nicht erinnern zu können, weil möglicherweise Alkohol im Spiel war. Und er verbindet seine Einlassung mit dem Bekenntnis, fortan offen schwul zu sein. Dieses Schwulsein hatte er bislang für seine Privatangelegenheit gehalten. Nun glaubt er das nicht mehr leugnen zu können, nachdem Aktivisten und Paparazzi jahrelang Druck auf ihn ausgeübt haben, zu bekennen. Jetzt wird Spacey unterstellt, er wolle mit seinem Coming-out Punkte gutmachen und so sein Ansehen irgendwie retten. Doch jetzt scheint sein Ruf erst richtig ruiniert.

Es können nur zwei Menschen wissen, was damals, vor dreißig Jahren, passiert ist – und wegen dieser langen Dauer und der Verfärbungen, der Erinnerungen über die Jahre in gewisser Weise ausgesetzt sind, dürfte auch das herauszufinden nicht leicht sein. Letztlich wissen wir also so gut wie gar nichts. Gezieltes und professionelles Nachfragen vor einem Gericht könnte vielleicht Klärung bringen. Doch ein ordentliches Gerichtsverfahren findet wegen Verjährung nicht mehr statt, auch weil der Ankläger darauf verzichtet hatte – aus welchen Gründen auch immer –, Anklage vor einem Gericht zu erheben. Und doch werden Urteile gefällt, massenhaft, in allen Medien.

Es beginnt damit, dass nicht unterschieden wird zwischen Belästigung, Missbrauch, Misshandlung, Vergewaltigung. Das wäre aber wichtig. Denn die Schwere einer Schuld hat Folgen für das Urteil. Im Moment sprechen die millionenfach verbreiteten Vorwürfe jedoch schon das Urteil. Ein Hashtag ist aber kein Gerichtssaal, und eine Pressemitteilung darf kein Urteilsspruch sein. Doch in Hollywood ist Scheinheiligkeit anscheinend der Name einer Seife, mit der man sich öffentlich die Hände wäscht, wie man an dieser Pressemitteilung sieht:

Media Rights Capital und Netflix sind zutiefst erschüttert über die Nachrichten der letzten Nacht bezüglich Kevin Spacey. Als Reaktion auf die Enthüllungen der vergangenen Nacht sind Vertreter unserer beiden Firmen heute Nachmittag in Baltimore eingetroffen, um sich mit unseren Schauspielern und der Crew zu treffen und um sicherzustellen, dass sie sich weiterhin sicher und unterstützt fühlen. Wie zuvor geplant arbeitet Kevin Spacey zur Zeit nicht am Set.

Das vermeintliche Scheusal wird verstoßen, so kann, so muss man das lesen. Wurde es offiziell angeklagt? Wurde es offiziell verurteilt? Vor dem Volksgerichtshof schon.

EINE GRUPPE ERREGTER MENSCHEN

In den fünfziger Jahren verfasste der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti sein philosophisches Hauptwerk mit dem Titel „Masse und Macht“. Er beschrieb darin genau die Handlungen und Haltungen von Menschen, die sich zu einer bestimmten Gruppe zusammenfinden: einer Meute. „Die Meute besteht aus einer Gruppe erregter Menschen, die sich nichts heftiger wünschen, als mehr zu sein.“ Nämlich Masse. Das gelingt heute immer öfter durch die Medien, vor allem die sogenannten „sozialen Medien“. „Die Meute“, schreibt Canetti weiter, „ist eine Einheit der Aktion, und sie tritt konkret in Erscheinung.“ In diesem Fall ist sie eine „Jagdmeute“, laut und nach außen gerichtet. Und eigentlich praktiziert sie Lynch-Justiz: eine Aufhebung der Justiz, wenn der Beschuldigte ihrer nicht für wert befunden wird. Es muss eine dunkle Lust geben, die die Meute antreibt und eine Stimmung erzeugt, die weitere Menschen mitreißt in ihrer Empörung.

Aber es trifft nicht immer nur Prominente, deren tiefen Fall man anscheinend gerne beiwohnt in der menschlichen Tragödie. Es ist noch gar nicht solange her, dass ein Student der Vergewaltigung auf einem amerikanischen Campus bezichtigt wurde und die Anklägerin millionenfachen Applaus bekam für ihre Performance mit einer Matratze, auf der die Tat begangen worden sein soll. Selbst als immer deutlicher wurde, dass an dem Vorwurf nichts dran sein könne, erhielt sie weltweit politische und moralische Unterstützung und Anerkennung für dieses peinliche wie clever inszenierte Oberammergau. Eine ordentliche Anklage hat es auch hier nicht gegeben. Das Urteil sprach die Meute allerdings schon früh. Letztlich hat der Student sein Studium in den USA aufgeben müssen. Die Stimmung war gegen ihn. Man muss sich vor ihr fürchten.