Juri Andruchowytschs „Kleines Lexikon intimer Städte“ ist ein becircendes Antidot zur westeuropäischen Saturiertheit. Besonders schön ist, dass Andruchowytsch gern abschweift.

Osteuropäische Autoren und westliche Metropolen – das war nicht immer eine Liebesbeziehung. Schon Dostojewskj zieh Paris und Baden-Baden (wo er Spielschulden hatte) der Oberflächlichkeit, während der grollende Alexander Solschenizyn New York gar für unbewohnbar erklärte.

Von solchem Furor, der gleichwohl im Westen oft genug mit geradezu masochistischer Demut aufgenommen wurde, ist der 1960 in der Westukraine geborene Romancier und Erzähler Juri Andruchowytsch völlig frei. Dabei weiß er durchaus um diese Traditionslinie, polemisiert jedoch nicht gegen sie, sondern persifliert sie mitunter en passant und auf beinahe zärtliche Weise: Zwei „ukrainian men“ in New York, die auf ihren Spaziergängen die gemeinsamen Erinnerungen an Lemberg hin und herwenden und sich für die amerikanische Metropole denkbar wenig interessieren.

Andruchowytsch ist viel unterwegs in diesem Buch, dem er den Titel „Kleines Lexikon intimer Städte“ gegeben hat und bereits im Vorwort darauf verweist, wem er die arbiträr scheinende Idee der alphabetischen Struktur zu verdanken hat – dem Buch „Alphabet“ des von ihm hochverehrten Czeslaw Milosz, freiwillig-unfreiwilliger Weltenwanderer zwischen Wilna, Paris, Berkeley und Krakau.

Auch wenn Juri Andruchowytsch die intellektuelle Brillanz seines reisenden Vorgängers nicht erreicht, so bestechen doch die hier versammelten Städteporträts – von Aargau über Detroit, Guadalajara und Quedlinburg (sic!) bis Toronto und Zug – durch ihre unprätentiöse Frische, die eben alles andere als ist lexikalisch „objektiv“.

„In München überfiel mich zum ersten Mal in meinem Leben die Versuchung und der Kaufrausch.“ Der Musikfan eilt in der Kaufingerstraße stracks ins WOM, kauft sich von seinem bei Lesungen erworbenen „Westgeld“ CD nach CD, um den Sound seiner Jugend wiederzufinden, „aufgewachsen in Zeiten totalen Defizits“. Ein Staunen, das auf vital-burschikose Weise beschrieben ist: „Vom ersten Tag an versuchte ich, mich als weltläufiger Wanderer und Vagabund zu maskieren. Innerlich jedoch – sorry, ich finde kein anderes Wort! – rief ich oh fuck.“

In Essen dagegen wird der Autor bei einer Abendlesung mit jener „fast protestantischen Kultur des Zuhörens und der trockenen Konzentration“ konfrontiert, die ihn zusammenzucken lässt: „In Wirklichkeit ist das kein Publikum, sondern eine Maschine zur kritischen geistigen Verarbeitung. Vor einer solchen bleibt man besser bei der Sache.“

Wie gut – und Erkenntnis fördernd – dass er dennoch abschweift, in Toronto das Panoptikum weltreisender Literaten beschreibt, bei einem Berlin-Aufenthalt von der politisch korrekt bestückten Bibliothek auf den Charakter des abwesenden Wohnungsinhabers schließt, Venedig mit dem geliebten Lemberg vergleicht und schließlich in Straßburg, wo er im Europaparlament eine Rede über die Kiewer Maidan-Revolution halten soll, durchatmet, voll ungläubigem Staunen über eine zivile, freundliche Welt, die trotz aller auswärtigen Schrecken dennoch existiert: „Herr, wie danke ich dir für dieses Leben!“

In keiner Zeile naiv, sind diese Städteporträts auch ein becircendes Antidot zum saturiert westeuropäischen „ennui“.

Juri Andruchowytsch: Kleines Lexikon intimer Städte
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
Suhrkamp/Insel Verlag, Berlin 2016
416 Seiten, 24,00 Euro